Hoffnungsvoller Mentalitätswandel

Die Entnazifizierung ist möglich

Für die einen sind sie Märtyrer. Für die anderen nur die Spitze eines Eisbergs und nur das, was von den rechtsextremistischen Umtrieben sowie der braunen Unterwanderung einiger Behörden offen zu Tage trat. Die Entnazifizierung ist aber möglich, ist Yasin Baş überzeugt.

Von Montag, 03.12.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.12.2015, 9:26 Uhr Lesedauer: 13 Minuten  |  

Vor etwa einem Jahr ist die rechtsterroristische Neonaziorganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) aufgedeckt geworden. Von ihren Protagonisten Uwe Bönhard, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe ist nur noch Zschäpe am Leben. Diese drei Personen sollen zwischen 2001 und 2009 aufgrund ihrer rassistischen Ideologie zehn Menschen kaltblütig ermordet haben. Angeblich ohne jegliche professionelle Unterstützung. Und angeblich ohne das Wissen jener, die es hätten wissen müssen.

Die NSU-Mitglieder erhielten gefälschte Ausweispapiere, die man nicht einfach so nachbilden kann. Sie bekamen Geld, Waffen, Sprengstoff, technisches Material und besonders gravierend: nützliche Tipps und als geheim eingestufte Informationen. Von wem diese gefährliche Terrororganisation ihre logistische, finanzielle und nachrichtendienstliche Hilfe erhielt, wird zur Zeit von mehreren Landtags- und Bundestagsuntersuchungsausschüssen erforscht. Dass die „hilfreiche“ Terrorunterstützung aber nicht von Dilettanten stammen, ist gewiss. Ein wenig scheinheilig verstecken sich Tausende von Rassisten, Demoktratie- und Islamfeinde, Ethnonationalisten und Neonazis hinter diesen drei „armen“ Persönlichkeiten, von denen zwei, kurz vor ihrer Festnahme, den „Freitod“ gewählt und sich selbst getötet haben sollen.

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Entnazifizierung fehlgeschlagen?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt. Zum Aufbau eines neuen Systems, mussten die Reste des Alten beseitigt werden. Dafür wurden die Menschen im Land in folgende fünf Kategorien eingeordnet: 1. Hauptschuldige, 2. Belastete, 3. Minderbelastete, 4. Mitläufer und 5. Entlastete, von denen die letzten beiden Gruppen die besten Chancen auf eine Anstellung im öffentlichen Dienst hatten.

Im Westen haben die Alliierten das Experiment gewagt, ein Sicherheitssystem aufzubauen, welches einem neuen demokratischen Staat dienlich sein sollte. Im Osten änderte sich durch die Sowjets, die das braune Schreckenssystem lediglich durch eine rote, totalitäre Herrschaft ablösten, nicht wirklich viel. Die neue Sicherheitsbehörde Stasi war im Einparteienstaat allgegenwärtig und spitzelte bis in die Schlafzimmer hinein.

Innerhalb von zwei Jahren wurden eine halbe Millionen Stellen im öffentlichen Dienst durch Kommunisten besetzt. Das System der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) der NS-Herrschaft wurde neu lackiert und mit dem Know-how aus Moskau ausgestattet, quasi weiterpraktiziert. Im Westen dagegen sollte ein Balancesystem etabliert werden, in der die zentralistische Herrschaft durch föderalistische Strukturen entkräftet werden sollten. Um die neuen Behörden aufzubauen benötigten die westlichen Alliierten (England, Frankreich und USA) staatstreue Mitarbeiter.

Da im totalitären NS-Staat ein Großteil der Menschen aber in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) eintreten mussten und auch zu überzeugten Nazis geworden waren, gestaltete sich die Suche nach geeigneten Personen, besonders für den Aufbau von Sicherheitsbehörden, etwas kompliziert. Experten, die sich im Bereich Militär, Nachrichtendienst, Polizei und der Sicherheitsthematik auskannten, waren in der Regel Gehilfen von Hitler und seiner extrem biologistisch-rassistischen Eliteeinheit Schutzstaffel (SS) sowie weiterer Dienste. Bekanntestes Beispiel für die Besetzung mancher Staats- und Sicherheitsdienste mit alten Kadern ist ein Herr mit dem Namen Reinhard Gehlen. General Gehlen war Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) des deutschen Generalstabs und erster Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND). Auch der Ex-SS-Hauptsturmführer Klaus Barbie war Jahrelang Informant des BND. Handelte es sich hierbei lediglich um Einzelfälle oder kann man, wie es einige Beobachter tun, von einem reaktivierten System sprechen?

Viele Eliten und Behördenmitarbeiter, vor allem im Auswärtigen Amt (AA), den Sicherheitsdiensten, Ministerien, Gerichten, Universitäten und Verwaltungen waren „neue alte Nazis“. Kurz: In Wirtschaft, Politik, Staat, Presse, Polizei, Verwaltung, Wissenschaft, Armee und Justiz konnten sich nicht nur alte Demokraten der Weimarer Republik, sondern auch viele Nazis einnisten. Diese konnten sich – oft unter falschem Namen – frei bewegen, nicht nur aufgrund guter Beziehungen und weil sie gewiss über das nötige Wissen und die Erfahrung für ihre Arbeit verfügten, sondern auch wegen ihren antimarxistischen Einstellungen. Bei der Personalauswahl wurde in der Regel also ein Auge, in den meisten Fällen das Rechte, zugedrückt. Somit standen Exekutive, Legislative, Judikative sowie die Medien als „vierte Gewalt“ von Beginn der Bundesrepublik auf wackeligen Füßen.

Den Westmächten kam es am Vorabend des Kalten Krieges durchaus gelegen, Menschen in bestimmte Schaltstellen zu installieren, die überzeugte Antikommunisten waren. Eine nicht geringe Anzahl von gesuchten Nazis – vor allem ehemalige Angehörige der SS, SD, Gestapo und Wehrmachtsoffiziere bekam oftmals die Möglichkeit, durch eine neue Identität, der jungen Bundesrepublik zu dienen. Laut Schätzungen der CIA waren noch bis in die 1970er Jahre ein Drittel der Mitarbeiter des BND ehemalige Mitglieder elitärer Naziorganisationen. Die Journalistin Katja Tichomirowa berichtet, dass die Leitungsebene des Bundeskriminalamts (BKA) 1959 noch zu 56 Prozent aus ehemaligen SS-Mitgliedern und zu 75 Prozent aus früheren Mitgliedern der NSDAP zusammengesetzt war. Dies alles konnte trotz der viel beachteten Entnazifizierung der Befreiungsmächte geschehen. Also obwohl jede Anwärterin und jeder Anwärter auf einen Staatsdienst beweisen musste, dass sie und er keine nationalsozialistische Vergangenheit gehabt hatte und der freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht feindlich gesinnt war. In diesem Kontext riefen vor allem in den letzten Jahren diverse Großunternehmen aber auch Behörden wie das Auswärtige Amt oder das BKA Forschungsgruppen, insbesondere zur Untersuchung ihrer eigenen Vergangenheit, ins Leben.

Es ist teilweise verständlich, dass der neu strukturierte Staatsapparat alte Kader rehabilitierte und wieder eingesetzt hat. Dies gehörte auch mit zur Entnazifizierungspolitik. Ein Staat, der aus den Trümmern aufgebaut wird, muss zweifellos auf sein altes Personal zurückgreifen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Menschen in der freiheitlichen Demokratie eine neue Chance sowie Perspektive verdienen. Problematisch wird es nur, wenn alte, braune Gedanken und Gewohnheiten wiederkehren. Dies muss durch eine nachhaltige Demokratieerziehung und Demokratieförderung bewerkstelligt werden. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang außerdem die sogenannte 68er-Bewegung, die sich ausdrücklich gegen die alten Nazikader in Verwaltung, Politik und Justiz auflehnte. Obwohl diese eher linksorientierten Gruppierungen viel zur Demokratisierung geleistet haben, werden sie noch heute von bestimmten konservativ-reaktionären und rechtsextremistischen Gemeinschaften attackiert.

Nachholende, begleitende und präventive Entnazifizierung
Die Entnazifizierung scheint in Deutschland in der Vergangenheit nicht ausreichend durchgeführt worden zu sein. Das belegen diverse Studien. Die Auswirkungen dieser Misere bekommen wir heute alle in den Medien oder dem NSU-Untersuchungsausschuss mit. Eine nachholende Entnazifizierung ist daher nötiger denn je, damit zukünftig weder ein Bedarf an einer begleitenden noch einer präventiven Entnazifizierung besteht. Selbst wenn die Glorifizierung des Faschismus und der Nazizeit nicht auslöschbar ist, kann sie gleichwohl reduziert oder zumindest effektiv verhindert werden. Aktuell Meinung

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  1. Lionel sagt:

    Persilschein war die ironische Bezeichnung für die Bescheinigung der erwähnten Spruchkammern, die jemand erhielt, wenn er als „Entlasteter“ eingestuft wurde (eine „weiße Weste“ hatte).

    Die politischen Rahmenbedingungen dürfen nicht vergessen werden: Ab 1947/48 herrschte der Kalte Krieg und Deutschland stand bis 1955 unter dem Besatzungsstatut.
    Die Besatzungsmächte ließen es sich nicht nehmen, mit ehemaligen Nazis (wenn sie keine Hauptkriegsverbrecher waren) zusammenzuarbeiten, wenn sie ihnen nützlich waren.

    Es ist seit langem bekannt (praktisch von Anfang an), dass es in Ministerien und Behörden frühere NSDAP-Mitglieder gab – kein Wunder bei mehr als 8 Mio Mitgliedern.
    Der Eindruck aber, die alten NS-Einrichtungen hätten nur einen neuen Anstrich bekommen und es hätte keinen demokratischen und rechtsstaatlichen Neubeginn, wenn auch mit teils mit problematischen Personen gegeben, ist falsch.

    Wenn Sie von Tatsachen sprechen, die angeblich erst in jüngster Zeit ans Licht gekommen seien, beziehen sie sich vermutlich auf die vom früheren Außenminister Fischer in Auftrag gegebene Arbeit einer Historikerkommission zur Rolle des AA im 3. Reich.
    Die erbrachte allerdings nicht viele neue Erkenntnisse über das, was nicht schon vor Jahrzehnten erforscht wurde und bekannt war.

    Interessant, dass diese neuerliche (wiederholte) Untersuchung die Meinung erweckt, das über Jahrzehnte alles nur vertuscht und verschwiegen worden sei.

  2. Tai Fei sagt:

    Lionel sagt:
    17. Dezember 2012 um 11:31
    „Persilschein war die ironische Bezeichnung für die Bescheinigung der erwähnten Spruchkammern, die jemand erhielt, wenn er als “Entlasteter” eingestuft wurde (eine “weiße Weste” hatte).“
    Richtig und was hat Persil mit einer weißen Weste zu tun? Persil wäscht weiß. Die ironische Bemerkung ging ja mehr in die Richtung dass die Westen eben auf einmal weiß waren?
    Auf das AA bezog ich mich eher weniger. Gerade was Insitutionen betrifft waren die Verstrickungen ja zum Teil zwangsläufig gegeben. In der letzten Jahrzehnten kommen aber vermehrt Berichte über bestimmte Personen auf. Zumeist sind diese bereits tot oder inzwischen jenseits von Gut und Böse. Erst vor kurzem gab es doch z.B. eine Diskussion um ein Flick-Gymnasium oder was war z.B. mit einigen prominenten RAF-Opfern. Diese wurden nciht ganz ohne Grund als Zielscheibe ausgewählt. Der Vertuschungsvorwurf ist auch keineswegs aus der Luft gegriffen. Solche Untersuchungen wurden immer wieder stark behindert, so z.B. die Ausstellung zur Rolle der Reichsbahn bei Deportationen. Auch der Großteil der bundesdeutschen Justiz hat sich von jeder Verantwortung freigesprochen.
    Also eine Entnazifizierung sieht in meinen Augen anders aus. Da sind ja sogar die Gaullisten konsequenter mit Kollaborateuren in Frankreich umgegangen.

  3. Lionel sagt:

    @Tai Fei

    Meinen Sie die pogromartige Lynchjustiz die in Frankreich nach der „La Liberation“ angewendet wurde?
    Mit den öffentlichen Misshandlungen und Tötungen in fünfstelliger Höhe?
    Wenn so eine ordentliche Entnazifizierung aussieht – nun gut.

    Bei völlig apolitischen Nazibräuten (wie im Falle der Olympia-Ruderin) sollte das Haareabscheren allerdings ein Ermessensentscheid der neuen Spruchkammern sein.

  4. Tai Fei sagt:

    @Lionel
    Das hieß übrigens d’Épuration. Das kam so aber auch in DE vor. Im Großen und Ganzen war das Prinzip in Frankreich, dem in der BRD recht ähnlich. Kleine Köpfe rollten recht häufig, während Entscheidungsträger ungeschoren oder minimal bestrafft davon kamen. Die Quantität und ganz sicher auch die Qualität der Verbrecher in DE dürfte aber ungleich höher gewesen sein. Da fragt sich schon, wieso sich das nicht in entsprechenden Verurteilungen niederschlug. Man fragt sich, wieso Polizeibehörden und Geheimdienste sich oft zu zwei Dritteln aus SS-Leuten rekrutierten (wohlgemerkt SS)? Man fragt sich, wieso Krupp und Konsorten nach wenigen Jahren und ein paar TDM wieder mitmischen konnten, wieso einige Kriegsgewinnler sogar heute noch Ehrenbürger und Schulen, Straßen und Plätze nach ihnen benannt sind? Da fragt man, wie es kommt, dass eine Neonazigruppe zehn Jahre völlig frei operieren kann und es ausgerechnet da jede Menge „Pannen“ gab. Man fragt, wie es kommt, dass ein Herr Schleyer praktisch immer als prominente Opfer der RAF aber so gut wie nie als Täter der Arisierungswelle in Erscheinung tritt. Man fragt sich, wie es kommt das die dt. Kirchen sich selber kontrollieren durften und wieso die Rattenlinie auch als Klosterroute bekannt ist. Und und und….
    Wie gesagt, all das kann man sich fragen, wenn man nur wollte!

  5. Tai Fei sagt:

    Und wieder ein gelungenes Bsp. für „Entnazifizierung“. Das Karlsruher Institut für Technologie ernennt Rudolf Greifeld zum Ehrensenator. Besagter Greifeld arbeitete als Kriegsverwaltungsrat für die Militärveraltung in Paris. In dieser Funktion war er auch für die Deportation von Juden aus dem besetzten Frankreich verantwortlich. In den 50ern wurde durch F.J. Strausses als Leiter des Kernforschungszentrums Karlsruhe eingesetzt. Im besagten Zentrum fanden sich auch andere „Größen“, wie die IG Farben-Manager Gerhard Ritter und Walther Schnurr. Für seine Leistungen erhielt er schließlich 1974 das Bundesverdienstkreuz. Tja in der BRD konnte man eben auch als Verbrecher zu Ansehen und Würde gelangen.

  6. Tai Fei sagt:

    Ein weiteres Bsp. für die „gelungene“ Entnazifizierung in der BRD
    http://www.publikative.org/2013/02/17/der-nazi-und-sein-viertel-stadtteil-soll-weiter-nach-kriegsverbrecher-heisen/
    Sogar ein ganzes Stadtviertel ist nach einem verurteilten Kriegsverbrecher benannt.