Gespräch mit Barbara John

„Wir müssen für unsere Verfassung und unsere Werte kämpfen“

Was ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes? Warum nimmt das Versagen der Behörden bei den NSU-Ermittlungen kein Ende? Ein Gespräch mit Barbara John, Ombudsfrau der NSU-Opferfamilien, über ihre Arbeit und was sich in den Köpfen vieler Deutscher ändern muss.

Von Undine Zimmer Montag, 15.10.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 19.10.2012, 7:40 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

MiGAZIN: Welches Signal senden die neuesten Pleiten und Pannen im NSU-Skandal den Einwandererfamilien in Deutschland?

Barbara John: Zum einen sieht es so aus als würden die Behörden nicht so ernsthaft und leidenschaftlich an der Klärung der offnen Fragen arbeiten wie es notwendig wäre. Zum anderen vermuten einige Hinterbliebene und Opfer, dass die Behörden den Aufklärungsvorgang boykottieren, indem Akten geschreddert werden oder schlicht verschwinden.

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Laut einer Umfrage glauben Migranten mehrheitlich daran, dass der Staat in die NSU-Morde irgendwie verwickelt ist. Haben Sie für diese Theorie Verständnis?

John: Diese Vermutung wird hier und da laut. Wenn jemand zu Verschwörungstheorien neigt, dann ist das eine naheliegende Schlussfolgerung. Richtig muss es deshalb nicht sein.

Wie bewerten Sie die ständigen Verzögerungen und Fehler bei den Ermittlungen?

„Der Rücktritt des Verfassungsschutzpräsi-denten und einzelner Länderchefs reicht nicht aus. Denn all die Leute, die diese ‚Nicht-Zusammenarbeit‘ praktiziert haben, sind ja noch da. Denen ist nichts passiert und die werden so weiter machen.“

John: Ich empfinde sie als Gleichgültigkeit gegenüber dem wichtigen Aufklärungsbedürfnis der Hinterbliebenen und der allgemeinen Öffentlichkeit. Es zeigt, dass die Behörden ein Eigenleben führen, und dass sie das Versprechen der Bundeskanzlerin, „Wir werden alles tun, um die Vorgänge und Taten aufzuklären und Bund und Länder werden daran nach Kräften mitwirken“, nicht interessiert. Es ist höchst erschreckend, dass wir in einem Staat leben, in dem sich die Sicherheitsbehörden so verselbständigt haben. Eigentlich ist ihre Aufgabe die öffentlichen Anliegen voranzubringen und den Bürgern zu dienen.

Sie haben seit Anfang des Jahres viele Briefe der Hinterbliebenen beantwortet, Stipendien organisiert, mit Jobcentern telefoniert und die Opferfamilien unterstützt, wo Sie konnten. Wie bewerten Sie Ihre bisherige Arbeit?

John: Ich bewerte mich nicht selbst. Aber ich gebe mir die größte Mühe und versuche immer wieder herauszufinden, bei welchen Problemen ich die Opfer unterstützen kann. Ich telefoniere fast täglich mit ihnen. Erst vor wenigen Minuten habe ich mit einem Hinterbliebenem gesprochen. Es geht immer um das Zurückfinden in ein normales Leben. Die Menschen sind entgleist nach diesen Anschlägen. Sie haben häufig die Arbeit verloren, sind gesundheitlich beeinträchtigt, haben hohe Schulden, konnten ihr Studium nicht mehr weiterverfolgen oder die Wohnung nicht mehr bezahlen. Diese Probleme versuche ich mit ihnen zu lösen. In vielen Fällen haben wir eigentlich ganz gute Ergebnisse erzielt. Dennoch ist die Arbeit noch voll im Gange. Auch weil immer wieder neue Probleme dazukommen.

Welche Anfragen bearbeiten Sie gerade?

John: Ich war am 31. August zusammen mit dem Untersuchungsausschuss des Bundestages in Köln. Dort leben 22 Personen, die von den NSU-Morden betroffen sind. Es dauert jahrelang bis nicht nur die seelischen, sondern auch die körperlichen Wunden verheilen. Ein Mann hatte 500 Splitter im Körper. Einige brauchen eine Anstellung. Gemeinsam mit der Stadt kümmere ich mich darum. Ein paar junge Männer sind jetzt wehrdienstpflichtig in der Türkei. Sie sind aber nicht wehrdienstfähig. Man kann in der Türkei den Wehrdienst kompensieren, in dem man 10.000 Euro bezahlt. Das können sie aber nicht, weil sie jahrelang arbeitslos waren. Ich führe gerade Verhandlungen, damit sie aus Krankheitsgründen vom Wehrdienst befreit werden.

Sie machen mit Ihrer Arbeit gut, was im Zuge des NSU-Skandals versäumt wurde. Fühlen Sie sich manchmal als Feigenblatt für die Politik?

John: Nein, Feigenblatt wäre ich, wenn ich nur da wäre und nichts bewirken könnte. Aber ich kann eine ganze Menge bewirken, zusammen mit den Opfern und den Kommunen. Und dass die Bundesregierung hinter meiner Tätigkeit steht, ist eine große Unterstützung und Hilfe.

Wie bewerten Sie die aktuellen Pläne zur Reform des Verfassungsschutzes? Es wird zum Beispiel vorgeschlagen die Kontrolle an den Bund abzugeben.

„Jeder von uns Bürgern ist Verfassungsschützer. Wir müssen uns dessen bewusst sein, und wir müssen für unsere Verfassung und unsere Werte kämpfen. An sich braucht man keinen Inlandsgeheimdienst, der auf uns, auf die Demokraten, angesetzt ist.“

John: Ich bin keine Expertin, aber eins weiß ich: Der Rücktritt des Verfassungsschutzpräsidenten und einzelner Länderchefs reicht nicht aus. Denn all die Leute, die diese „Nicht-Zusammenarbeit“ praktiziert haben, sind ja noch da. Denen ist nichts passiert und die werden so weiter machen. Jeder von uns Bürgern ist Verfassungsschützer. Wir müssen uns dessen bewusst sein, und wir müssen für unsere Verfassung und unsere Werte kämpfen. An sich braucht man keinen Inlandsgeheimdienst, der auf uns, auf die Demokraten, angesetzt ist. Vielleicht war das im Kalten Krieg noch notwendig, aber jetzt? Man sollte die Arbeit der Verfassungsschützer auf die Beobachtung von Gewalttätern beschränken. Da können sie mit der Polizei zusammenarbeiten. Das bedeutet auch, dass man die Zahl der Verfassungsschützer – wir haben 17 Verfassungsschutzämter – reduzieren könnte. Die könnten stattdessen Präventions- und Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung und in den Vereinen leisten.

Die Aufklärungsarbeit des Bundesinnenministeriums (BMI) ist erstmal fehlgeschlagen. Nach der neusten Plakat-Aktion „Vermisst“ haben die muslimischen Verbände dem BMI die Zusammenarbeit gekündigt. Sie reagierten kritisch auf die fiktiven Anzeigen, in denen Eltern aus Einwandererfamilien ihre in den islamitischen Extremismus abgerutschten Kinder suchten.

John: Als die Aktion vorgestellt wurde, war mir gleich klar, dass es so nicht geht. Erstens wurde auf den Plakaten die Ausnahme und nicht die Regel dargestellt, zweitens muss es nicht diese Dramatik haben. Die Plakate funktionieren wie ein Steckbrief. Man zeigt mit dem Finger auf einzelne Menschen, trifft damit aber im Grunde aber die ganze Gruppe der Muslime. Das ist die falsche Art und Weise mit dem Problem Extremismus umzugehen. Ich denke, dass man mit einer engen Zusammenarbeit mit den Moscheen wahrscheinlich mehr erreicht hätte als mit den Plakaten.

Sie haben gegenüber dem MiGAZIN geäußert, dass Sie sich mehr Unterstützung der Zivilgesellschaft und der Migrantenverbände wünschen.

„Ich bin überzeugt, dass die Mordserie ein Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik war, der mehr Reaktionen hervorrufen müsste. Es gab hier und da Demonstrationen, etwa in Kassel oder in Dortmund. Aber es ist keine größere gesellschaftliche Bewegung entstanden oder ein Präventionsprogramm.“

John: Ich bin überzeugt, dass die Mordserie ein Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik war, der mehr Reaktionen hervorrufen müsste. Es gab hier und da Demonstrationen, etwa in Kassel oder in Dortmund. Aber es ist keine größere gesellschaftliche Bewegung entstanden oder ein Präventionsprogramm. Das kann aber noch kommen. Ich selbst denke darüber nach wie vielleicht eine Stiftung entstehen kann, die auch mit Jugendlichen arbeitet. Darüber bin ich auch mit den Hinterbliebenen im Gespräch. Ich wünsche mir, dass man die NSU-Morde nicht nur in den Untersuchungsausschüssen abarbeitet und dann vergisst. Es müsste sehr viel weiter gehen. Die Schlussfolgerungen, die wir ziehen, müssten unser Land verändern.

Haben Sie das Gefühl, dass sich die meisten Deutschen schwer damit tun, anzuerkennen, dass derartige, rassistisch motivierte Taten, heute noch bei uns passieren?

John: Ich höre es immer wieder von den Hinterbliebenen und Opfern. Viele sagen mir, dass sie nur ungern erzählen, dass sie Hinterbliebene sind. Denn sie merken sofort wie unangenehm es dem Gegenüber ist, obwohl diese Person gar nichts damit zu tun hat. Und dann bekommen sie rechtfertigende Sätze zu hören, wie: „Ja, aber es sind auch schon Deutsche von Ausländern umgebracht worden.“ Das zeigt natürlich, dass diese Deutschen gar nicht verstanden haben, was vorgegangen ist: Eine Mordserie gezielt an Ausländern.

An Verhaltensweisen wie diesen merke ich, dass wir das Verständnis und das Nachdenken über diese Mordserie, eine der schlimmsten nach den RAF-Anschlägen in der Nachkriegszeit, weitertragen müssen. Auch daran könnte eine Stiftung arbeiten. Interview Leitartikel Politik

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  1. Şükrü Timur sagt:

    Liebe Frau John, wir müssen „nicht“ für inhaltlose Begriffe, wie die von Alliierten beeinflusste „Verfassung“ und nur für bestimmte Gruppen gemachte „Werte“ kämpfen! Unsere zeitgenössische Weltanschauung muss nur „die Menschen“ und ihre vielfältige Lebensart und Weise respektierend berücksichtigen und uns darauf einstellen. Wie wir alle wissen, durch diese gemeinsamen Kommunikations- und Verkehrsmöglichkeiten kommen wir uns zwangsweise nahe, so ist unsere Welt ein Dorf geworden! Wir dürfen aber nicht nur die Kirche, sondern auch die Moschee, die Synagoge und andere Glaubensweisen- und Tempel mit allen bunten Kulturen in unserem „Weltdorf“ leben lassen! Nur so können wir überstehen, überleben und einen goldenen Weg miteinander gehen! Leben Sie wohl..

  2. Şükrü Timur sagt:

    Mo, ich sag dir „NO“!! Die „blinde“ Gleichheit und Gleichberechtigung sind genauso inhaltlose und in sich widersprüchliche Begriffe! Was man auf einem Zettel schreibt ist unwichtig, wie man sich verhält und den gegenüber Stehenden in der Praxis behandelt, das ist wichtig!! Wenn du mir mit solchen einfach geschriebenen (FRAU-MANN) billigen Argumenten kommst, kann ich dir tausend andere Argumente ins Gesicht prallen lassen! Zum Beispiel, wie die als „anders“ bestimmte und interpretierte Menschen bei der Arbeit,- Wohnung,- Schule- und Rechtsuche.. Lebenslang und überall gegen die Vorurteile kämpfen und hinterhältige Methoden erleben müssen! Obwohl alles irgendwo schriftlich,ordentlich und rechtlich „verfasst“ ist!! Übrigens wo es wahre und echte Religionsfreiheit gibt, dort wird das Ansehen der Tempel nicht in Frage gestellt und in die Hinterhöfe gezwungen!! Wenn Sie nächstes mal Ihren Namen und Familiennamen nicht richtig schreiben, nehme ich Sie nicht ernst und Sie kriegen keine Antwort!!

  3. Soli sagt:

    @Sükrü – dann zeigen sie mir doch einfach ein Land wo es die von ihnen definierte „wahre Religionsfreiheit“ gibt? Es ist immer nur ein Kompromiss möglich, und ich denke hier in Deutschland ist dieser zumindest DEUTLICH besser als die Religionsfreiheit in den meisten islamischen/arabischen Ländern.
    Fragen sie doch mal einen Christen, oder sogar Aleviten dort!

  4. Şükrü Timur sagt:

    Soli der verwirrte Kuli, Sie haben ein riesiges Problem die Themen und die Inhalte eines Schreibens kurz und bündig zu verstehen, wahrzunehmen und zu begreifen! Mann muss die Aufgabe der Logik nicht hin und her schieben! Um eine Sache bewusst zu verwirklichen, muss mann die Verantwortung „ohne auf die anderen Menschen oder die anderen Länder gerichteten Zeigefinger“ tragen können! Wenn „dort“ Mist ist, kann auch „hier“ Mist herrschen, ist ein sehr billiges und einfaches Argument! Ohne richtigen Namen und Familiennamen gibt es „von meiner Seite“ nur eine einmalige Antwort!