Buchtipp zum Wochenende

Grenzen der Kultur

Das Buch von Özkan Ezli ist eine Reise in die Tiefe der kulturellen Grenzen mit den Stationen Bildung und Zivilisation und der Ankunft am Bahnhof Mischkultur anhand von Autobiographien und Reisebeschreibungen zwischen Okzident und Orient.

Von Freitag, 14.09.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 18.09.2012, 20:38 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Integrationsdebatten und Kämpfe um kulturelle Identitäten sind in den letzten Jahren an der Tagesordnung, fast täglich berichtet eine Zeitung darüber oder sendet ein Talkmagazin eine Diskussionsrunde, meistens mit immer denselben Beteiligten. Es wird über kulturelle Traditionen, religiöse Unterschiede, aber auch über Gemeinsamkeiten gesprochen, geschrieben und philosophiert, ganz zu schweigen von all den Essays und anderen Schriften von Experten, die diese Debatte bereichern und den oberflächlichen Diskussionen zu etwas mehr Tiefe verhelfen.

Für alle Literaturliebhaber werden die „Grenzen der Kultur“ am Beispiel von Autobiographien und Reisebeschreibungen analysiert. Der Autor Özkan Ezli vergleicht westeuropäische, arabische und türkische Texte des 19. und 20. Jahrhunderts und stellt den „Akteur im kulturell-religiösen Wertesystem“ der „Praxis der Subjektkulturen“ gegenüber. Dabei bearbeitet er die Themenfelder Bildung und Reise. Sein Ergebnis ist ein vielschichtiges Tableau von Selbst- , Fremd- und Kulturbeschreibungen zwischen Orient und Okzident.

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Özkan Ezli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Konstanz und dort tätig im Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“. Sein Buch baut auf seiner Dissertation auf. Es ist bemerkenswert, wie er mit der klassischen Methode der Unterscheidung zwischen Kultursubjekt und Subjektkulturen umgeht, mit seinen Analysen der ausgewählten Literatur Vergleiche anstellt und aus den Ergebnissen von Distanzen und Nähen zum Thema Kultur einen „Zwischenraum“ entdeckt. Es ist sehr spannend zu lesen, wie aktuell Reisebeschreibungen und Interpretationen aus dem 19. Jahrhundert für die heutige Integrationsdebatten sein können, wenn auch auf einer philosophischen Ebene.

In früheren Arbeiten hat Özkan Ezli sich bereits mit der deutsch-türkischen Literatur und dem deutsch-türkischen Film beschäftigt und den Übergang einer nationalen zu einer internationalen Literatur und Film dargestellt. Während in der Praxis die Zugehörigkeit z.B. erfolgreicher Regisseure, Autoren und Künstler zu einer Nation und Kultur diskutiert wird, haben die Kulturwissenschaften bereits diesen dritten Raum für „Sowohl-Als-Auch-Identitäten“ oder „Dazwischen-Kulturen“ entdeckt.

Özkan Ezli, Grenzen der Kultur – Autobiographien und Reisebeschreibungen zwischen Okzident und Orient, Verlag Konstanz University Press, Erschienen: August 2012

Durch sein Studium der Germanistik, Soziologie und Islamwissenschaft hat Özkan Ezli sich mit vielen Facetten des Blickes auf den Unterschied Orient-Okzident auseinander gesetzt und die Begriffe „Identität“ und „Kultur“ bearbeitet. Seiner Meinung nach sind diese Begriffe „imperial“ und „ungenau“. Er versteht „Kultur als ein Produkt, einen Prozess, Kultur ist nicht zeitlos und ein Ergebnis aus Grenzziehungen und Überschreitungen“. Für ihn sind Lebensgeschichten wichtig, die neben ihrem individuellen Grad zugleich Beschreibungen des Sozialen und Politischen sind. Deshalb hat er sich mit Autobiographien und Reisebeschreibungen beschäftigt. Die Schilderungen und Erfahrungen sind individuell, kollektiv und vielschichtig, ebenso die Sprech-und Schreibweisen des Dazugehörens.

Seine eigene Lebensgeschichte hat ihn geprägt, türkische, islamische Wurzeln, eine Bildung und Erziehung in Deutschland, eine deutsche Partnerin und zwei Kinder, die in diesen „Mischverhältnissen“ – wie er die Situation allgemein beschreibt- aufwachsen, geben ihm die Chance, einen sehr weiten Blick zu entwickeln. Beheimatet in mehreren Kulturen und ausgestattet mit Sprachen aus Orient und Okzident, kann er sich ganz anders mit den Problemen unserer Zeit beschäftigen. Früher oder später kommt man im Gespräch mit Özkan Ezli auf das Thema Islam, auch in seinen Vorträgen und Seminaren muss er sich in diesem Zusammenhang immer wieder zu den klassischen Punkten Integration, Identität, Gewaltbereitschaft äußern. „Religion ist das stärkste Instrument zur Trennung der Kulturen“ sagt Ezli. Auch im Bezug auf die Migration in Deutschland spielt der Islam eine wichtige Rolle, aber dass diesem in den Debatten und in der Integrationspolitik eine Schlüsselfunktion zugeschrieben wird, findet der Wissenschaftler falsch, da er der Meinung ist, dass dabei der Blick auf die Heterogenität der Sozialisationsgeschichten der deutschen Einwanderungsgesellschaft verloren geht, die das eigentliche politische Thema sein sollten.

Diese prägen dann auch die Religion und nicht umgekehrt. In seinem Buch „Grenzen der Kultur“ zeigt Özkan Ezli mit der Reisebeschreibung „Turkish Women’s European Impressions“, die Eindrücke von Zeynep Hanoum, einer osmanisch-türkischen Autorin, die aus dem Harem flieht und frei sein will, die in Paris nach dieser ersehnten Freiheit sucht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Menschen dort zwar frei sind, aber andere Zwänge sie einschränken. Für sie ist die Osmanische Kultur – mit Tschador – nach dieser Erfahrung doch die bessere.

Özkan Ezli beschreibt Halide Edip Adivar, eine Tochter aus gutem Hause, die westliche Bildung von christlichen Gelehrten erhalten hat. Adivar kann nicht verstehen, warum verschiedene Religionen und Kulturen sich bekämpfen. Für sie ist es selbstverständlich, dass sie von der Verschiedenheit profitiert. Rifa’a al-Tahtawi, ein arabisch-ägyptischer Gelehrter, der im 19. Jahrhundert nach Europa geht und seine Eindrücke in „Ein Muslim entdeckt Europa“ verewigt, stellt die Zivilisation in den Vordergrund, nicht die Religion. Er misst die Kulturen an ihrem das soziale Leben fördernden Zivilisierungsgrad und an der Entwicklung ihrer Techniken und Wissenschaften. Für ihn beinhalten Kulturen Gestaltungskräfte und sie können nebeneinander existieren. Taha Husayn, ein ägyptischer Intellektueller, beschreibt seine Emanzipation vom orthodoxen Islam. Er möchte die arabische und europäische Kultur verbinden. Er sagt, dass die Wissenschaft ein Meer sei und es nichts Besseres gäbe, als darin zu ertrinken. Er glaubt an die Zivilisation und dass Wissen und Bildung im Vordergrund stehen müssen. Auch seine Sicht präsentiert Özkan Ezli.

Für alle Autoren spielt die Verhaltenskultur eine zentrale Rolle, im Mittelpunkt ist der Dialog, das Gemeinsame. All diese Texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert zeigen, dass es schon eine Mischkultur mit der notwendigen Toleranz und dem Respektieren des Anderen gibt. Özkan Ezli, der sich als „irgendwie Schwarzwälder mit türkischem Einschlag“ beschreibt, hält an einer Perspektive auf Praktiken und Verhaltenskulturen fest. „Diese sind in der Regel weitaus flexibler und vielschichtiger als kulturelle Gesetzestafeln wie Scharia oder die Charta der Menschenrechte und können Widersprüche nebeneinander existieren lassen“ ist seine Meinung. Das ist auch die Philosophie, die er seinen beiden Kindern im Alltag mitgeben möchte. „Im Leben kommt es darauf an, sich wohl zu fühlen und eine der Grundlagen hierfür ist sicher, mit Vielfalt umgehen zu können.“ Nun wird es philosophisch. Sehnen sich nicht alle Menschen danach glücklich, zufrieden und frei zu leben? Ist nicht diese Suche die Reise in uns?

Özkan Ezli beschreibt die Reise unter zwei Aspekten. Zum einen ist es die Möglichkeit zur Distanz, d.h. man vergleicht das, was man in der Ferne sieht mit dem, was man Daheim lebt. Der Reisende öffnet den Vergleich, distanziert sich vom Alltag und definiert sein eigenes Maß, definiert sich neu. Zum anderen ist es die Schließung. Der Reisende findet auf seiner Reise die Bestätigung von dem, was er bereits wusste und stellt fest, wie sehr er an dem hängt, was er Daheim lebt und dies nun in der Ferne vermisst. Er möchte zurück in das Eigene, das Bekannte.

Özkan Ezli glaubt, dass die Reise ein „Möglichkeitsraum“ ist, der Reisende lernt Neues und stellt fest „so hätte es in meinem Leben auch sein können, wenn ich an einem anderen Ort geboren wäre“. Sein Fazit: „Nur eine starke Kultur kann mit Heterogenität umgehen, die viel Austausch und Kontakt verlangt.“

An dieser Stelle kann sein Buch auch zur Integrationsdebatte beitragen: Die Einwanderung nach Deutschland ist positiv, wenn man die Unterschiede und Ähnlichkeiten erkennt und ihre Entstehungsgeschichten erzählen kann. Negativ ist die Kontaktarmut, die zu Missverständnissen und gesellschaftspolitischen Verhärtungen führt.“ Özkan Ezli ist der Meinung, dass hierzulande der Begriff Kultur oft unreflektiert benutzt wird. Die Kultur der Migranten ist nicht nur das Heute, sondern auch die lange Geschichte zum Teil gelungener und nicht gelungener Kommunikation.

Die Gastarbeiter sind mit dem Wunsch nach einem besseren Leben hergekommen, sie sind weder angekommen noch aufgenommen worden, aber eine wirkliche Rückkehr ist ihnen auch nicht gelungen, ein Zustand der Ortlosigkeit. Genau hier beginnt die Vielfalt, hier kann sich eine Mischkultur entwickeln, ein Zwischenraum, in dem es viele Möglichkeiten geben kann, wenn man die richtigen Instrumente für Vielfalt entwickelt. Das ist übrigens das Thema, an dem der Wissenschaftler zurzeit für seine Habilitation arbeitet. Aktuell Rezension

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