Fußball, Integration und Nationalgefühl

Warum Özil die Hymne nicht mitsingt

Heute treten Khedira, Özil und Boateng beim EM-Halbfinalspiel im Dress mit dem Bundesadler gegen Italien an. Und viele wundern sich, warum sie bei der Nationalhymne im Fußballstadion nicht mitsingen. Dabei ist das gut nachvollziehbar. Denn sportliche Akzeptanz bedeutet in Deutschland noch keine gesellschaftliche Akzeptanz, meint Martin Hyun.

Von Martin Hyun Donnerstag, 28.06.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 25.06.2018, 23:41 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Ich bin stolz ein Deutscher zu sein. Doch egal wie glaubhaft ich versuche, dieses Bekenntnis rüberzubringen, halten es alle für einen dummen Aprilscherz.

Wäre ich langschädelig, blond und hätte blaue Augen, würde mir rechtspopulistisches Gedankengut unterstellt. Doch wenn diese Worte aus dem Munde eines schwarzhaarigen, koreanischstämmigen mit Schlitzaugen kommen, dann nehmen diese Worte politische Neutralität an – wie die Schweiz.

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Ich gehöre also zu jenen Migranten, die eine optisch erkennbare Zuwanderungsgeschichte vorweisen, und deshalb will man mir nicht glauben, mich nicht ernst nehmen. Meine Worte, meine Person werden unterschätzt. Und das obwohl ich den Einbürgerungstest mit null Fehlern bestanden habe und demnach ein Deutscher mit Bienchen sein müsste.

Trotz der sechs Jahrzehnte nach dem verheerenden Weltkrieg ist ein gesunder Nationalstolz in Deutschland nicht möglich. Patriotismus auszudrücken, wird immer noch mit der dunklen Vergangenheit des Landes in Verbindung gebracht, der Shoah, der Ausgrenzung und Ermordung von Minderheiten.

Zudem wird der Begriff von den rechtsextremistischen Organisationen missbraucht und so bleibt die negative Aufladung haften. Aber ich bin weder nationalistisch angehaucht noch ein Antisemit.

Und da kommen die Migranten ins Spiel. Denn Gastarbeiter und deren Kinder haben Nachkriegsgeschichte geschrieben, ebenso wie die deutsche Einheit. Beides gehört zum Konstrukt der deutschen Identität.

Erst wenn wir als Gesellschaft soweit sind, dies anzuerkennen, mehr noch: den Migranten ihr Bekenntnis zu Deutschland als glaubhaft abzunehmen, aufhören ihre Loyalität zu bezweifeln, auch ihre Kritik aus Liebe zum Land akzeptieren, ohne wenn und aber, erst dann befreien wir uns von der Angst, in die rechte Ecke gedrängt zu werden. Doch davon sind wir noch weit entfernt.

Jeder wundert sich, warum ein Khedira, Özil oder Boateng bei der Nationalhymne nicht mitsingt. Ich kann das gut nachvollziehen. Während meiner Zeit als Juniorennationalspieler Deutschlands war ich in ähnlicher Lage und auch ich blieb während der Hymne stumm. Sportliche Akzeptanz bedeutet nicht gleich gesellschaftliche Akzeptanz, geschweige denn Inklusion.

Die Münder bleiben stumm, weil trotz des Bekenntnisses ein Einwanderungsland zu sein, sich die Gesellschaft immer noch schwer damit tut, sich mit Menschen wie meiner Wenigkeit zu identifizieren, klar und eindeutig zu bekennen, dass auch Migranten dazu gehören, egal aus welchen Schichten oder Wurzeln sie stammen.

Es erfordert eine neue Debatte darüber, wer oder was im 21. Jahrhundert, in einem multiethnischen Deutschland, einen Deutschen ausmacht. Nationalstolz benötigt eine nationale Identität. Die Fußballnationalmannschaft lebt es uns vor, von ihr können wir lernen.

Als Multikultitruppe entwickelte sie neues Denken, eine andere Spielweise und schuf dadurch eine neue Identität. Das hat viele Migranten in diesem Land stolz gemacht. Die Kunst besteht darin, diese sportliche Seite in die Gesellschaft zu übertragen und diese neue Art das Spiel auszuüben, anzunehmen.

Was fehlt den Deutschen? Die Antwort ist einfach: ein Lächeln im Gesicht, das Vertrauen, die Courage zur Liebe und Nächstenliebe, die Lust zur Neugier, eine gesunde Portion Idealismus, das Aufeinanderzugehen – und der letzte Tick, das Begreifen, dass alle Bewohner dieses Landes aufeinander angewiesen sind.

Oder wie es Martin Luther King einst sagte: „Ich kann niemals so sein, wie ich eigentlich sein sollte, wenn du nicht bist, wie du sein solltest. Und umgekehrt ist es nicht anders.“ In diesem Zitat ist die Sehnsucht nach wirklicher Chancengleichheit, Teilhabe und Mitwirken an der Gesellschaft manifestiert, in der wir längst zuhause sind und doch muss das gemeinsame Ankommen erst noch erlernt werden. Aktuell Meinung

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  1. Gerdster sagt:

    Ich sehe es ähnlich, wie der Autor dieses Beitrages. Ein Özil, Khedira oder Boateng, die nicht gerade Fußball spielen und sich auf dem realen Arbeitsmarkt behaupten müssten, hätten es nicht so einfach. Das zeigt eindeutig auch wieder der aktuelle Bildungsbericht. Trotz der Behauptung, dass Migrantenkinder bei der Bildung aufholen, brechen sie immer noch häufiger ab wie Einheimische. Die vielen Jahrzehnte, bei der eine vernünftige Integrationspolitik versäumt wurde, kann nicht binnen weniger Jahre und mit Halbherzigkeit aufgeholt werden. Übrigens gehört es zu einem freiheitlich-demokratischen Land, dass jeder frei wählen darf, ob er oder sie die Nationalhymne mitsingt oder nicht.

  2. MoBo sagt:

    „Jeder wundert sich, warum ein Khedira, Özil oder Boateng bei der Nationalhymne nicht mitsingt.“

    Es gibt auch Spieler ohne Migrationshintergrund die nicht mitsingen, aber da fragt keiner nach. Anscheinend erwarten die „Patrioten“ das Singen aber nur von den Neudeutschen. Traurig.

  3. Tom_King sagt:

    Wenn Deutschland so weit ist, in allen Bereichen ein Einwanderungsland zu sein, dann bin ich mir sicher, werden alle Spieler mitsingen, ob sie nun Boateng oder Özil heißen.

  4. Joseph sagt:

    Wer, wie z. B. Nationalspieler(innen), Deutschland repräsentiert, der/die sollte, ja muss auch die Nationalhymne mitsingen. Wer Integration will – und das will ich und dafür engagiere ich mich, der/die sollte, ja muss sich integrativ verhalten, zumindest muss er/sie sich konstruktiv verhalten. Fußball-Nationalspieler wie Özil, Boateng, Khedira, wirken, wenn sie die Nationalhymne nicht mitsingen, den Bemühungen des DFB zur Integration und gegen „Ausländerfeindlichkeit“ entgegen.

  5. Lalon sagt:

    Wieso sollte man die Hymne mitsingen? Nicht für alle Deutschen ist Deutschland das „Vaterland“ – höchstens sinngemäß. Außerdem ist es unerträglich, dass bei allen sportlichen Großevents auch heute dieselbe Melodie gespielt wird, wie zu Nazi-Zeiten. Nee, man braucht keinen Migrationshintergrund um diese Hymne abzulehnen, egal wie toll „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sein mögen.

  6. Peter33 sagt:

    Vielleicht wird der ein oder andere heute Abend die Hymne mitsingen. Man darf gespannt sein. Aber wenn auch nicht, so hat Gerdster Recht. In einem demokratischen Land soll es jedem Individuum überlassen sein, ob er oder sie die Hymne mitsingt!

  7. Integrationsexperte sagt:

    „Es gibt auch Spieler ohne Migrationshintergrund die nicht mitsingen, aber da fragt keiner nach. Anscheinend erwarten die “Patrioten” das Singen aber nur von den Neudeutschen. Traurig“

    @ mobo

    Ich teile Ihre Meinung. Solange nicht alle Deutschen Spieler die Hymne mitsingen, ist diese Debatte eine Farce. Nebenbei bemerkt ist es für einen Migranten eine Zumutung „Vaterland“ zu singen, wenn doch sein Vater aus dem Ausland kommt. Das dürften die deutschen Mitbürger bestimmt verstehen, da sie ja meistens auf diesen Punkt hinweisen bei „netten“ small talks über Identität.

  8. pepe sagt:

    Lustig ist, dass Herr Hyun von den „Deutschen“ spricht, wobei diese Gruppe ihn nicht mit einschließt.

    Warum sollte jemand stolz sein, Deutsch zu sein? Was ist überhaupt „Deutsch“?

  9. aloo masala sagt:

    Der Autor schreibt:

    —-
    Und viele wundern sich, warum sie bei der Nationalhymne im Fußballstadion nicht mitsingen
    —-

    Es wäre doch schön, wenn man sich wundern würde, weshalb Khedira, Özil oder Boateng die Hymne nicht mitsingen. Denn sich über eine Sache “wundern” zeugt von einer gewissen Offenheit, die der Beginn sein könnte, über einen Sachverhalt nachzudenken.

    Nur man wundert sich nicht. Man wunderte sich auch nicht, weshalb bis 1984 die Nationalhymne von Einigen mitgesungen wurde und von Anderen nicht, wobei letztere in der Mehrheit waren. Man wunderte sich auch nicht, als der damalige Teamchef Beckenbauer das Mitsingen der Hymne verordnete. Er machte das nicht, um einen Loyalitätsbeweis für Deutschland einzufordern sondern aus schnöden sportlichen Gründen. Zusammen singen ist Ausdruck einer stärkeren mannschaftlichen Geschlossenheit. Die Spieler zogen mit, ob sie wollten oder nicht, und sangen auf Befehl des Kaisers aber sicher nicht aus Loyalität zu Deutschland. Vor einem Länderspiel hat man ganz andere Sorgen als Loyalitätsbeweise abzuliefern.

    Der Tenor ist, wer die Hymne nicht mitsingt ist, steht nicht zu und auch nicht hinter Deutschland. Es ist ein simples Schema, wie bei George Bush. Wer die USA nicht im Krieg gegen den Terror unterstützt, der ist gegen die USA. Dass es gute Gründe gab, die USA nicht zu unterstützen ohne gegen die USA zu sein, spielt dabei keine Rolle. Das Nationalspieler ebenfalls gute Gründe haben könnten, die Hymne nicht mit zu singen, spielt ebenfalls keine Rolle. Es existiert nur „gegen uns oder für uns“, schwarz oder weiß, gut oder böse. Das ist für mich kein Ausdruck von „wundern“ nicht aus.

    Was hier stattfindet ist vielmehr kollektives “hassen”. Der Hass sucht sich schon seine guten Gründe, um das Objekt seines Hasses so zu konstruieren, wie man es braucht um es möglichst gut hassen zu können. Die Erklärung warum Özil oder Khedira nicht mitsingen ist schnell gefunden. Weil man selbst nicht zu seinen Migranten nicht akzeptiert, glaubt man mit aller Überzeugung, dass die Migranten auch Deutschland nicht akzeptieren.

  10. Pragmatikerin sagt:

    @ Lalon

    Sie schrieben:
    „Außerdem ist es unerträglich, dass bei allen sportlichen Großevents auch heute dieselbe Melodie gespielt wird, wie zu Nazi-Zeiten“

    Alle Nationen spielen bei Grossveranstalungen ihre National-Hymnen, warum Deutschland nicht?

    Auch bei diesen Hymnen ist es immer gleiche Melodie (was haben sie dagegen?) Von der Deutschen Hymne wird aber ein anderer Text wie vor dem 2. WK gesungen (nur die 3. Strophe)

    Pragmatikerin