Brückenbauer

Auch wenn schon so viele Jahre vergangen sind – getrennte Wirklichkeiten

Vor 67 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Argentinien war eines der wenigen offiziell am Krieg nicht beteiligten Länder. Doch kriegsbedingte Einwanderer - Juden, Nazis und andere Zufluchtsuchende – beeinflussten die argentinische Lebensrealität. Mit Wirkungen bis heute.

Von Amiran Gabunia Dienstag, 08.05.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 29.06.2014, 18:43 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Es ist ein seltsames Gefühl, das den Besucher erfasst, wenn er auf das öde graue Gebäude mit breiten Fenstern und leblosem Hof blickt. Auch wenn einige imposante Hochhäuser im Manhattan-Stil direkt auf der anderen Seite des Gebäudes das moderne Stadtbild prägen, scheint hier die Zeit stehen geblieben zu sein. Vielleicht auch deshalb, weil die jetzige Funktion des Hotel de Inmigrantes, der einstigen Einwanderer-Unterkunft, darin besteht, den Besucher in die Vergangenheit zurückzuversetzen. In jene Zeit, als die von der Regierung subventionierte Einrichtung als erste Anlaufstelle für am Hafen angekommene Einwanderer aus aller Welt in Erwartung nötiger Papiere völlig überfüllt war.

Anfang des 20. Jahrhunderts war das hoch industrialisierte Argentinien ein beliebtes Einwanderungsziel. Die politischen Turbulenzen in Europa mit dem Ausbruch des Ersten und später des Zweiten Weltkriegs zwangen immer mehr Menschen zur Flucht nach Übersee. Es gab eine Massenauswanderung der deutschsprachigen Juden nach Argentinien, ausgelöst durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und die damit einhergehende Vertreibung in Europa. Trotz einiger administrativer Erschwernisse kamen ca. 45.000 deutschsprachige Juden ins Pampaland und vergrößerten damit die bereits bestehende jüdische Gemeinde stark.

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Deutsch-jüdische Einwanderer als Jeckes – „Jacken-Träger“ – bezeichnet, bildeten schnell eine eigene deutschsprachige Gemeinde, die ihre Identität und kulturelle Besonderheiten bis heute bewahrt hat. Das Ende des Zweiten Weltkriegs markierte zugleich den Anfang einer gewaltigen Emigrationswelle von Deutschen – unter anderem nach Argentinien – jenen Deutschen, die entweder aus Angst vor Verfolgung oder schlicht aufgrund ihrer Verzweiflung das Land verließen. Denn bei Weitem war nicht jeder nach Argentinien geflüchtete Nachkriegsdeutsche ein Kriegsverbrecher. Die NS-Sympathisanten selbst nutzten geheime Fluchtwege, im Unterschied zu denjenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen oder auf Einladung eigener Verwandter nach Argentinien kamen.

Der Großraum Buenos Aires am Río de la Plata bot sich als neues Zuhause für neu angekommene Deutsche an, darunter der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann und mehrere prominente NS-Funktionäre.

Auch wenn der damalige Präsident Argentiniens Juan Domingo Perón gegen Kriegsende das Vermögen einst gleichgeschalteter deutscher Vereine und Institutionen enteignen ließ, hieß er die Exilanten aus dem fernen Deutschland zunächst herzlich willkommen. Dieses Kapitel des Peronismus wirft in der Geschichtsforschung Schatten auf den beliebten Präsidenten und seine Popularität, die in der argentinischen Gesellschaft bis heute so fest verankert ist.

Außer in Buenos Aires gibt es heutzutage eine große deutsche Gemeinde in der Kleinstadt Bariloche in der Provinz Río Negro, wo einst der SS-Hauptsturmführer Erich Priebke untergetaucht war, sowie in Córdoba und in Villa General Belgrano mit seinem landesweit bekannten Oktoberfest und der Gedenkstätte der Überlebenden vom Panzerschiff Admiral Graf Spee.
Auch in Buenos Aires ist die Anwesenheit der Deutschen nicht zu übersehen. So wird z. B. auf der Plaza de Alemania im Stadtteil Palermo Chico jedes Jahr der Tag der Deutschen Einheit gefeiert. Auch der deutsche Friedhof in La Chacarita stellt eine urbane Repräsentation der deutschen Gemeinde dar, wo sie mit den eingeladenen Vertretern des deutschen Attachés und vielen Ehrengästen am Todestag von Kommandant Hans Langsdorff zusammentrifft und ihm und seiner verstorbenen Kameraden gedenkt.

Beim Anblick der wackelnden Schiffsrümpfe hinter dem Museum Hotel de Inmigrantes mit gedämpftem Wellenrauschen des dunkelbraunen Rio de la Plata fühlt man sich in der Tat in eine andere Zeit zurückversetzt und Neugier kommt auf, was aus all den nichtjüdischen Deutschen und deutsch-jüdischen Einwanderern geworden ist, die diese erste Station in der Wahlheimat hinter sich brachten und in der Millionenmetropole Buenos Aires „versickerten“ oder in verschiedene Teile des unendlich weiten Landes zogen. Welche Verhältnisse haben diese beiden Gruppen gegenwärtig zueinander? Welche Spuren haben die ständigen Auseinandersetzungen, in der Generation der Kinder, Enkel und Urenkel hinterlassen? Oder hat sich das Verhältnis inzwischen entspannt? Wie lebt man sein eigenes Deutschtum heutzutage aus?

Um die komplexe Koexistenz dieser beiden – auch in sich heterogenen – Gemeinden zu verstehen, sollte man sich die durch Hitlers Aufstieg entfachten Konflikte in Argentinien vor Augen halten, welche die deutschsprachigen Einwanderer in zwei Gruppen – sinnbildlich Zwei Dörfer genannt – spalteten, NS-Befürworter auf der einen und Gegner der Nationalsozialisten auf der anderen Seite. Die erbitterten Konfrontationen wurden ebenfalls in der deutschsprachigen Presselandschaft ausgetragen und mündeten in den bekannten Pressestreit zwischen der NS-freundlichen Deutschen La Plata Zeitung und dem Argentinischen Tageblatt, das zu jener Zeit zum Sprachrohr von deutschsprachigen Juden und pro Weimarer Republik gesinnten Deutschliberalen wurde.

Mit Ernüchterung stellt man heute fest, dass diese zwei Gruppen damals wie heute so gut wie nichts miteinander zu tun haben. Es sind zwei getrennte Wirklichkeiten, die bestimmte Gemeinsamkeiten in der Rückbesinnung auf die „geliebte Heimat“ oder in der „stillen“ Teilung der Lebensräume aufweisen. Ungewollte Begegnungen sind keine Seltenheit, sie werden aber als ungewöhnliches Vorkommnis aufgegriffen und in der jeweiligen Gemeinschaft anekdotisch weitergelebt.

Fasziniert von diesem fast trotzigen mentalen Ausblenden der jeweils anderen Gruppe, fragt sich nun der außenstehende Beobachter, wie die deutsche Botschaft mit dieser Lage umgeht. Die Einrichtung, welche die Trennung und zugleich theoretisch einen möglichen Knotenpunkt für beide Gemeinden symbolisiert. Die Einladung des Botschafters zu Feierlichkeiten jeweils einer der beiden Gemeinden ist zu einer Tradition geworden. Bei seiner jährlichen Begrüßungsrede auf der Plaza de Alemania zum Tag der Deutschen Einheit, die für die deutsche Kommunität von großer Bedeutung ist, wird dem deutschen Botschafter die Abwesenheit von Deutschjuden nicht entgangen sein. Das Gleiche gilt auch für zahlreiche streng bewachte Feste und Veranstaltungen, zu denen der Botschafter als Ehrengast zeitgleich eingeladen wird. Die Suche nach „anderen“ nichtjüdischen Deutschen unter anwesenden Gästen wäre in einem solchen Ambiente vergeblich.

In der weltweiten Einwanderungsgeschichte stößt man nur selten auf Großzügigkeit und Freundlichkeit des Gastgeberlandes. Das Gegenteil ist nach wie vor der Normalfall.

Auch wenn sich Argentinien vorzugsweise um ausgebildete Fachkräfte – vorwiegend aus Europa – bemühte, für Unerwünschte aber große Hindernisse errichtete, stellt nichtsdestotrotz die durchweg warmherzige Aufnahme der Neuankömmlinge eine der Besonderheiten dieses multikulturellen Landes dar.

Als Beobachter muss man einige Zeit in den multiethnischen Alltag der argentinischen Gesellschaft eintauchen, um den Satz des weltberühmten Schriftstellers Jorge Luis Borges zu verstehen: „Ein Argentinier ist ein Italiener, der Spanisch spricht, ein Engländer sein will und sich wie ein Franzose benimmt.“ Die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Argentinier italienischer Herkunft sind, lässt zwar auf alles andere verdrängende italienische Einflüsse in gesellschaftlichem Alltag und Kultur schließen. Vielmehr ist es aber ein überaus kosmopolitisch geprägtes Bild, das sich dem Außenstehenden allerorts bietet. Im urbanen Raum von Buenos Aires, wo viele Straßen und Viertel Ländernamen tragen, spiegelt sich das Kosmopolitische an jeder Ecke wider. Läuft man auf die Straßenkreuzung der Calle Palestina und der Avenida Estado de Israel zu, bleibt man mit Verwunderung stehen und fragt sich, ob man mit noch größerer Deutlichkeit ein Zeichen für Völkerverständigung im urbanen Raum zum Ausdruck bringen kann. Ist das nicht ein Zeugnis für die Toleranz der Mehrheitsgesellschaft, des „typischen Argentiniers“? Steht das nicht im Gegensatz zur Wahrnehmung jener jüdischen Einwanderer, die die Argentinier des Antisemitismus bezichtigen? Haben die jahrelang anhaltenden Massenbewegungen der nichtjüdischen Argentinier nicht ihre Solidarität anlässlich zwei grausamer vom Ausland motivierter Attentate gezeigt, die auf die israelische Botschaft 1992 und auf das jüdische Kulturzentrum AMIA (Asociación Mutual Israelita Argentina) 1994 ausgeübt wurden?

Je deutlicher die Mehrheitsgesellschaft Zeichen für ein harmonisches Zusammenleben setzt, desto trügerischer ist der Schein, es existiere kein Antisemitismus in Argentinien. Inzwischen spricht man über eine neue Qualität des Antisemitismus in der Gesellschaft, der ohnehin eine europäische Vorgeschichte hat. Auch wenn die Konflikte zwischen Israel und Palästina Tausende von Kilometern entfernt ausgetragen werden, scheinen sie im argentinischen Alltag allgegenwärtig zu sein. Mit der Intensivierung der Auseinandersetzungen in Nahost intensiviert sich zugleich die Steigerung des Antisemitismus in Argentinien. Es ist keine Seltenheit mehr, dass Argentinier palästinensischer Herkunft zusammen mit nichtjüdischen Aktivisten vor der israelischen Botschaft oder durch massive Kundgebungen auf den Straßen demonstrieren, was auf breite Sympathie in der argentinischen Mehrheitsgesellschaft stößt. Die damit einhergehenden antisemitischen Vorfälle veranlassen dagegen die jüdischen Gemeinden und gemeinnützigen Organisationen zur schulischen und anderweitig institutionellen Prävention durch Aufklärungsmaßnahmen. Durch derartige Aufklärungsmaßnahmen profitieren auch andere Minderheiten – Einwanderer aus Bolivien, Paraguay, Peru, Ecuador –, die Diskriminierung ausgesetzt sind. Es ist die Diskriminierung, die sich durch mehrmalige Staatskrisen und daraus resultierende soziale Unruhen noch verschärfte und viele Argentinier jüdischer Herkunft zum Auswandern zwang. Spricht man über politische Unruhen, so werden Erinnerungen an Zeiten der „guerra sucia“ (Schmutziger Krieg 1976-1983) wach, als viele Juden der argentinischen Diktatur zum Opfer fielen, während mehrere nichtjüdische Deutsche eifrig im System mitgewirkt haben.

Der zunehmende Antisemitismus während des letzten Jahrzehnts stellt die zweitgrößte jüdische Exilgemeinschaft der Welt vor die erneute Herausforderung, sich vor dem Hintergrund sozialpolitischer Instabilität zu behaupten.

Am Ende sind es aber Hoffnung und Mut, die den Blick prägen, mit dem diese so heterogene Gemeinde auf die Zukunft schaut.

Auch im alten grauen Klotz des Hotel de Inmigrantes keimt ein kleiner Funke Hoffnung auf, wenn man ein paar Schritte vom Hofeingang Richtung Gebäude wagt und in die Geschichten der einstigen Gäste eintaucht, die eingerahmt an den bleichfarbenen Wänden bildhaft verewigt wurden. Aktuell Meinung

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  1. Roman sagt:

    Hallo Amiran, super Beitrag, toll recherchiert und packend geschildert! So wie ich Argentinien erlebt habe, hat sich die Trennung zwischen Juden und nichtjüdischen Deutschen nach der 2., spätestens 3. Generation wieder relativiert, zumindest nehmen die diversen deutschtümelnden Feierlichkeiten v.a. wohl nur die Älteren noch ernst. Bei den jüngeren spielt das nicht mehr so eine große Rolle, da überwiegt das Argentinier-Sein gegenüber den Herkunfttraditionen. Insofern gibt es ja Hoffnung.

  2. pepe sagt:

    Das ist ja das Coole an Amerika. Jeder ist ein Amerikaner, egal wo man herkommt. Jeder ist ein Venezolaner, Argentinier, Chilener, Peruaner…da spielt die HAutfarbe, die Religion oder die Kultur keine Rolle.

  3. Krupunder sagt:

    @ pepe

    Klar. Sagen Sie das mal nem unterprivilegierten Schwarzen oder Latino. Oder einem Mitglied der Urbevölkerung.

    An der Grenze zu Mexiko patroullieren bewaffnete Bürgerwehren. Einige Staaten haben state-sto-state Grenzkontrollen eingeführt und weisen sogar aus – innerhalb der USA.

    Aber überall ist es sicher besser als in Deutschland, das wollten Sie sagen, oder?

  4. Pragmatikerin sagt:

    @ pepe

    „Das ist ja das Coole an Amerika. Jeder ist ein Amerikaner, egal wo man herkommt. Jeder ist ein Venezolaner, Argentinier, Chilener, Peruaner…“

    So sagt man, aber hier in Deutschland sagen viele eingebürgerte „Deutsche“ z.B. dass sie im Herzen Türken sind.

    Und auch wenn es z.B. um Moscheebau geht, dann unterscheiden sich die Schwierigkeiten der Muslime in den Vereinigten Staaten nicht gravierend von denen ihrer Glaubensbrüder in Europa, so ein bekannter und promovierter Architekt und Fachmann für Moscheebau. Denn viele amerikanische Muslime stammen in der ersten oder zweiten Generation aus Ländern der islamischen Welt, rund ein Drittel von ihnen sind z.B. Afro-Amerikaner.

    Ähnlich wie auf dem alten Kontinent richteten die Muslime in der Neuen Welt ihre Gebetsstätten zunächst in Gebäuden ein, die nicht für diesen Zweck erbaut worden waren: in alten Feuerwehrstationen, geschlossenen Theatern, leer stehenden Lagerhäusern und Geschäften.

    Heute gibt es in den Vereinigten Staaten mehr als 2000 Moscheen, viel weniger als in dem vergleichsweisen kleineren Deutschland.

    „Wir wollen den Islam von seinem angestammten Kulturraum trennen, trennen von der so genannten islamischen Welt. Wir brauchen diese Kultur nicht! Sie ist vielleicht dort gut – aber nicht hier. Ich möchte doch eine deutsche islamische Kultur schaffen – oder eine amerikanische islamische Kultur. Außerdem geht es hier doch um Werte, um die Überzeugung, ein Muslim zu sein – und nicht darum, Köfte und Kebab zu essen und Kaftane oder andere lustige Kleidungsstücke zu tragen. Das mag gut in der Wüste sein, aber wir wollen etwas, das zu Deutschland passt, zu Amerika oder zu Europa.“ so denken viele Neu-Amerkaner und Muslime.

    Also pepe vergleichen Sie nicht Äpfel mit Birnen, sondern sehen es einfach so, dass jeder Staat, egal ob in Europa oder Amerka die gleichen Schwierigkeiten hat, nämlich den Muslimen eine neue Heimat zu bieten, aber mit dem Herkunftsort nicht mehr vergleichbar zu machen.

    Pragmatikerin

  5. pepe sagt:

    @Krupunder:
    Ich meinte Amerika (den Kontinenten), nicht die USA…

    Außerdem…immerhin ist der Präsident der USA halb schwarz. Es gibt unzählige Latinos, die es in den höheren Etagen von Unternehmen und politischen Ämtern geschafft haben.