Villa, Wannsee, Wansee Konferenz
Die Villa Minoux an der Wannsee im Jahr 1922 © ghwk.de

Heute vor 75 Jahren

Mit der Wannsee-Konferenz wird der Massenmord an den Juden zum historisch beispiellosen Genozid

In einer Villa am Wannsee machen sich Anfang 1942 Männer Gedanken darüber, wie man am effektivsten Juden umbringen könnte. Die Konferenz ist Symbol für den staatlich geplanten, bürokratisch organisierten Genozid. Doch das Morden begann viel früher. Nils Sandrisser über eine organisierte Barbarei

Von Nils Sandrisser Freitag, 20.01.2017, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 22.01.2017, 13:07 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Es ist kurz vor zwölf Uhr am 20. Januar 1942, als im Speisesaal des Gästehauses der ehemaligen Villa Marlier am Wannsee 15 Männer zusammenkommen. Das einstige Industriellendomizil am Rande Berlins nutzen mittlerweile die Sicherheitspolizei und der Sicherheitsdienst des NS-Staats. Der Gastgeber leitet das Treffen – Reinhard Heydrich, der Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Thema: die „Endlösung der Judenfrage“.

Seine Gäste sind nicht etwa hohe Nazis wie Göring, Goebbels oder Himmler, sondern Staatssekretäre und andere Behördenvertreter. Alle relevanten Stellen schicken jemanden an den Wannsee, darunter die Verwaltung des besetzten Polen, das Außen-, Innen- und das Justizministerium. Die Männer besprechen den Mord an Europas Juden.

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Bis heute hält sich landläufig die Auffassung, wonach in der Villa am Wannsee vor 75 Jahren der Holocaust beschlossen worden sei. „Das steht sogar noch in vielen Schulbüchern“, sagt der Historiker Thomas Sandkühler von der Humboldt-Universität in Berlin. Doch als sich die 15 Männer in der Villa treffen, läuft der Massenmord an den Juden längst, haben Wehrmacht und Einsatzgruppen der SS im besetzten Europa schon mehr als eine halbe Million Juden erschossen.

Es ging bei der Konferenz um „die behördliche Abstimmung zur weiteren Planung eines bereits angelaufenen Völkermordes“, sagt der Leiter der Wannsee-Gedenkstätte, Hans-Christian Jasch. Damit wurde sie zum Symbol für die staatlich geplante und bürokratisch organisierte Ermordung der Juden Europas.

Einen Befehl Hitlers zum massenhaften Judenmord gibt es nicht schwarz auf weiß. „Hitler war keiner, der schriftlich Anweisungen gegeben hat“, erläutert der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta. „Seine Reden waren Anleitungen zum Handeln.“

Das entscheidende Datum war nach Pytas Worten der 12. Dezember 1941. Am Tag zuvor hatte Deutschland den USA den Krieg erklärt. Nun rief Hitler die Reichs- und Gauleiter zusammen. „Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen“, schrieb Goebbels danach über das Treffen in sein Tagebuch.

„Weltkrieg und Holocaust sind nicht zu trennen“, sagt Pyta. „Der Krieg war die Voraussetzung für den massenhaften Judenmord, und zugleich war dieser von Anfang an Kriegsziel.“

RSHA-Chef Heydrich, Bevollmächtigter für die „Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa“, ergriff die Initiative und lud an den Wannsee zur Konferenz. Der Funktionär, der im Juni 1942 in Prag ermordet wurde, wollte den Massenmord an den Juden unter die Ägide der SS bringen.

Adolf Eichmann: SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann (1906-1962), der das Protokoll der Wannsee-Konferenz führte, ist 1942 der „Referent für Judenangelegenheiten“ im Reichssicherheitshauptamt. Er koordiniert die Deportation der Juden aus Deutschland und den besetzten Ländern in die Ghettos und Vernichtungslager. Am Ende des Zweiten Weltkriegs gerät Eichmann unter falscher Identität in US-Kriegsgefangenschaft, flieht jedoch aus einem Gefangenenlager. Er taucht zunächst unter und wandert 1950 nach Argentinien aus, wo er sich „Ricardo Klement“ nennt. Ein Holocaust-Überlebender erkennt ihn in Buenos Aires und informiert den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der die Information an die israelischen Behörden weitergibt. 1960 entführt der israelische Geheimdienst Mossad Eichmann und bringt ihn außer Landes. In Tel Aviv wird er zum Tode verurteilt und am 1. Juni 1962 gehenkt. Die israelischen Behörden lassen seine Asche ins Meer streuen – außerhalb der israelischen Hoheitsgewässer.

Wie der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der bei der Sitzung das Protokoll führt, später berichtet, rechnete Heydrich mit Diskussionen. Allerdings ist unklar, ob er befürchtete, die anderen Männer würden dem Mordplan generell widersprechen oder ob er ein Kompetenzgerangel darüber erwartete, wer für das Töten zuständig sei. „Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass er grundsätzlichen Widerspruch erwartet hat, weil das Töten ja längst begonnen hatte und jeder das wusste“, sagt Forscher Sandkühler.

Mit der Wannsee-Konferenz wird der bereits laufende Massenmord zu einem systematischen Genozid, der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Im Protokoll findet sich eine Liste mit den europäischen Staaten und Zahlen zur jüdischen Bevölkerung, die aus diesen Staaten deportiert und ermordet werden sollten. „Es gibt wenige andere Dokumente, die die Mordabsichten und ihren Umfang so detailliert dokumentieren“, sagt Jasch.

Zwar steht im Protokoll nicht, wie genau das vonstatten gehen soll. Die Teilnehmer diskutieren über Giftgas als Mordmethode, schreiben sie aber nicht fest. Das Treffen sei „noch kein Startsignal für die Vernichtungslager“ gewesen, so Wissenschaftler Pyta, „aber ein erstes Angebot, was alles möglich wäre“.

„In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird“, ist im Protokoll zu lesen. „Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen.“

Im Protokoll ist von „Sonderbehandlung“ oder „Endlösung“ die Rede. Eichmann sagte später aus, in der Runde sei auch von „töten“, „eliminieren“ und „vernichten“ gesprochen worden, aber Heydrich habe ihn nach der Konferenz angewiesen, diese Worte aus dem Text zu streichen.

Die Konferenz am Wannsee dauert nur etwa anderthalb Stunden. Die Teilnehmer streiten nicht, diskutieren kaum. Sie sind sich einig, das Richtige und Notwendige zu tun. Nachdem sie festgelegt haben, wie der Holocaust abzulaufen habe, setzen sie sich zu Tisch. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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