DVD Tipp zum Wochenende

Poetische und mystische Menschenlandschaften der türkischen Literatur

In der Türkei gehören sie zu den ganz großen Namen, dem deutschen Publikum sind sie jedoch nur wenig bekannt: Nazım Hikmet, Yaşar Kemal, Orhan Pamuk, Elif Şafak, Murathan Mungan, Aslı Erdoğan. Die zweisprachige DVD-Reihe „Menschenlandschaften. Sechs Autorenportraits der Türkei“ hat sich Rukiye Cankıran für das MiGAZIN angeschaut.

Von Freitag, 17.02.2012, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.02.2012, 7:34 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Ein langer Dokumentarfilmabend mit sechs DVSs, visuelle Literatur in Form von Porträts und Bildern, eigentlich konzipiert für Unterrichtszwecke, kann das fesselnd sein? Ich hatte bewusst keinerlei Kritik oder Kommentar gelesen, ich wollte meinen eigenen Eindruck gewinnen. Auch der Name des Filmemachers und Redakteurs Osman Okkan war mir nur oberflächlich ein Begriff. Langsam habe ich mich herangetastet an diese zweisprachige DVD-Reihe „Menschenlandschaften – sechs Autorenporträts der Türkei“. Mit einer Kanne Ingwer-Zitronentee und jeder Menge selbstgebackener Kekse begann mein Abenteuer an einem späten Samstagabend.

Osman Okkan, geboren 1947 in Ankara, lange Jahre tätig als Redakteur beim WDR, stellt mit seiner DVD-Reihe sechs der wichtigsten Dichter und Autoren der Türkei vor. Neben Interviews von Zeitzeugen und Kritikern präsentiert er Ausschnitte aus Lesungen und sehr persönliche und individuelle Details aus dem Leben der Autoren, teilweise sogar mit ihren eigenen Worten. „Ich wollte immer einen Hund und ein Klavier“ verrät Aslı Erdoğan, die freiheitsliebende Autorin, die besonders von jungen Menschen gelesen wird. Die 44jährige Schriftstellerin betrachtet das Schreiben als ihre persönliche Rettung, ihre Flucht aus der realen Welt, die sie zunächst als unglückliche Kindheit, dann später als ungerecht und männerdominiert erlebt. Sie schreibt außerdem Kolumnen und erhebt ihre Stimme auch zu politischen Themen.

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Natürlich ist das Erhaschen von privaten Details in der Sache für einen Journalisten zunächst nichts Besonderes für eine Dokumentation, aber der sprachlich sehr präzise Stil, die glatten filmischen Übergänge und die fantastischen Bilder von Istanbul perfektionieren die inhaltlichen Informationen, sodass man nicht den Eindruck hat, dass man eine DVD anschaut. Man fühlt sich vor Ort, man spürt die Anwesenheit der Autoren, man ist ihnen sehr nah, ganz besonders im türkischen Original.

Bestellung: Die zweisprachige (deutsch-türkisch) DVD-Reihe mit sechs DVDs kann beim „KulturForum TürkeiDeutschland“ bestellt werden.

Mit Murathan Mungan, dem Popstar der türkischen Literatur, geht es dann bis nach Mardin, seinen Geburtsort. Osman Okkan zeigt das gehätschelte Einzelkind, das mit Kurdisch und Arabisch groß geworden ist, mit 17 Jahren nach Istanbul ging und all die Jahre, die dieser mit dem Traum von Istanbul gelebt hatte in seine Werke einfließen lässt. „Alle Menschen träumen von Istanbul und wollen dort leben“ sagt Murathan Mungan. Seine Gedichte und Erzählungen sind Schätze, die dem Reichtum der türkischen Sprache Raum geben und gleichzeitig dem Leser das Leid der Menschen näher bringen. Istanbul ist immer ein Thema in seinen Werken.

Die Liebe zu Istanbul ist auch das Thema von Orhan Pamuk, Romancier und Literaturnobelpreisträger, der sich in der Türkei nicht mehr sicher fühlt, seitdem er – wie viele andere Schriftsteller vor ihm – zu spüren bekam, wie schnell man vor Gericht landen kann, wenn man das „Türkentum beleidigt“. Seine Romane faszinieren das internationale Lesepublikum und auch in Deutschland ist schon seit längerer Zeit kein Geheimtipp mehr. Mit seinen Hauptfiguren lebt Orhan Pamuk auch in gewisser Weise seine künstlerische Seite aus. Er nimmt seine Leser mit in eine Welt voller Melancholie und Schwermut, die er „Hüzün“ nennt. Zu seinem Roman „Museum der Unschuld“ gibt es sogar ein echtes Museum in Cihangir (Istanbul). „Ich habe die Dinge jahrelang für den Roman gesammelt und einige Gegenstände habe ich auch bewusst in den Roman eingebaut, weil sie mir gefielen.“ Den einen oder anderen mag das irritieren, für Orhan Pamuk ist es die Vollendung des Romans, sein Werk, sein Museum und seine Welt.

Den 2006 an Orhan Pamuk verliehenen Literaturpreis haben viele Leser von Yaşar Kemal sich für ihren eigenen Helden gewünscht. Der Schriftsteller aus Anatolien zwischen Poesie und Politik zeigt mit seinen epischen Romanen, Gedichten, gesammelten Liedern und Erzählungen das harte Leben der Dorfbewohner. Er macht auf das Leben der Menschen aufmerksam, die in Istanbul am Rand der Gesellschaft leben und spricht mutig über die jahrzehntelange Unterdrückung dieser Menschen durch die rassistischen politischen Eliten. Für seine Gedichte wurde Yaşar Kemal zu Haftstrafen verurteilt. Er schöpft für seine Literatur aus dem Reichtum seiner eigenen Erfahrungen. Er ist das erste Kind aus seinem kurdischen Dorf, das die Schule abschließt und somit einen Zugang zu Bildung und Literatur bekommt, das Kind, das tagelang als Hirte unterwegs war und unendlich viel Zeit hatte, jedes Detail der Natur ob Bäume, Blätter oder Blumen zu beobachten. Auch diese Details fließen in seine Werke ein, die Menschen auf der ganzen Welt berühren. Diese Werke finden inzwischen sogar auf internationalen Bühnen Anerkennung.

Einer der international bekanntesten Dichter ist Nazım Hikmet (1902-1963), der nach vielen Gefängnisjahren in der jungen Türkischen Republik nach Moskau flüchtete. Als Kommunist galt er damals als Staatsfeind wurde auch ausgebürgert und starb schließlich im Exil in Moskau. Als posthume Anerkennung könnte man erwähnen, dass er 50 Jahre nach seinem Tod wieder zum türkischen Dichter ernannt wurde. Nazım Hikmet hat sich zeit seines Lebens für Frieden und gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit eingesetzt. Weltweit wurden seine Werke in über 60 Sprachen übersetzt. Er gilt als Gründer der modernen türkischen Lyrik und ist ein von Frauen geliebter Romantiker. Selbst im Gefängnis schrieb er über die Liebe und Sehnsucht. Die volksnahen Werke des Dichters und Revolutionären haben inzwischen Kult-Charakter und es gibt sogar ein Kulturzentrum in der Türkei, das nach ihm benannt ist. Der Film „Mavi gözlü dev“ (Der blauäugige Riese) von 2007, der den Gefängnisaufenthalt von Nazım Hikmet in Bursa in den 40er Jahren beschreibt, zeigt die ästhetische Welt des Dichters, wie er malt, zeichnet und schreibt, wie er seine Welt den Mithäftlingen öffnet und sie teilhaben lässt an einer Welt, die von Gefühlen, Liebe und Frieden geprägt ist.

Die Welt von Elif Şafak ist Literatur zwischen Mystik und Moderne. Die junge Kosmopolitin und Nomadin, die ständig auf Reisen ist, möchte Geschichten erzählen. Sie beschreibt das Schreiben „als eine einsame Beschäftigung, einen Kokon der Fantasie.“ Die Erfolgsautorin, Mutter und Ehefrau ergänzt: „Für die Kunst ist das ständige Unterwegs-Sein sehr gut“. Man könnte sagen, es ist das Erfolgsrezept der begnadeten Erzählerin. Ihr Roman „Aşk“ (Liebe), der 2009 erschien, verkaufte sich 500.000 Mal in nur einer Woche. Elif Şafak schreibt in türkischer und englischer Sprache. Mit ihrem 2007 erschienenen Roman „Der Bastard von Istanbul“, beschreibt Elif Şafak eine Armenisch-Türkische Familiengeschichte, die örtlich von Amerika bis Istanbul und zeitlich zurück bis in die dunklen Jahre 1915 reicht. Durch diesen Roman kommt auch sie in Berührung mit dem Paragrafen 301 des türkischen Strafgesetzbuches und der türkischen Justiz. Auch ihr wird Beleidigung des Türkentums vorgeworfen, was von den Gerichten jedoch nicht bestätigt wird.

Diese wunderschön erzählten Porträts zeigen einerseits die politischen Ereignisse und Veränderungen in der Türkei, entführen den Zuschauer andererseits in eine literarisch sehr reiche Welt. Der Blick der einzelnen Autoren und die völlig unterschiedlichen Schreibstile und Themen faszinieren so sehr, dass man sofort die Bücher lesen möchte, zumal sehr viele in deutscher Übersetzung vorliegen.

Mir ist nicht aufgefallen, dass ich alle Porträts an diesem Samstagabend in einem Stück hintereinander eingelegt und verschlungen habe. Meine Teekanne und auch der Keksteller waren leer. Es war schon weit nach Mitternacht, ich war völlig versunken in die Geschichten der Autoren und weit weg in Istanbul. Die Bilder sind so lebhaft, so real, dass man glaubt, tatsächlich dort zu sein, vor allem, wenn einem die Gassen, Gebäude, der Bosporus, das Goldene Horn und die Stadtteile so vertraut sind. Es war ein sehr genussvoller Abend, nein kein Filmeabend, für mich war es nur Literatur. Mit den Leseproben, die alle Porträts bereichern und den überwältigenden Istanbul-Bildern ist es dem Regisseur gelungen, Raum für die eigene Fantasie zu lassen. Ich freue mich schon jetzt auf meine nächste Reise nach Istanbul. Man kann die Filme somit auch als eine Art Reiseinformation für Fortgeschrittene betrachten. Die Porträts sind rundum gelungen. Mit einem Wort: exzellent. Aktuell Rezension

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