Dossier: Inklusion 1/6
Behindert und? – Die Lebenssituation von Migrantenfamilien mit einem behinderten Kind
In Sachen Aussonderung von Kindern ist Deutschland Spitze. 80 Prozent der behinderten Kinder besuchen hier zu Lande eine Sonder- bzw. Förderschule. Migrantenfamilien trifft das besonders stark - Das neue MiGAZIN Dossier zum Thema.
Von Donja Amirpur Dienstag, 06.12.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 22.12.2011, 14:15 Uhr Lesedauer: 11 Minuten |
„Viele unserer Landsleute haben die deutsche Staatsbürgerschaft, viele von uns sind hier in Deutschland geboren. Wie groß auch unsere Bemühungen sind, uns anzupassen – wir bleiben in den Augen der meisten Deutschen doch nur Ausländer. Und dann bekommen wir ein behindertes Kind! Für uns türkische Familien bedeutet das häufig doppelte Ausgrenzung“.
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Menschen mit Migrationsgeschichte sind seltener behindert als Deutschstämmige. Das besagt zumindest die amtliche Statistik von 2005 – neuere Zahlen liegen nicht vor. Nach Ergebnissen des Mikrozensus haben nur knapp sieben Prozent der Personen mit Migrationshintergrund eine „amtlich festgestellte Behinderung“ im Vergleich zu 13 Prozent bei Personen ohne Migrationshintergrund.
Als Gründe dafür nennt die Bundesregierung in ihrem Nationalen Aktionsplan Inklusion, der in diesem Sommer vom Kabinett beschlossen wurde, unter anderem die Überalterung der deutschen Gesellschaft. Dazu kommt auch, dass Menschen mit Migrationsgeschichte seltener Angebote für Menschen mit Behinderung in Anspruch nehmen und seltener eine Behinderungen amtlich attestieren lassen.
Die Bundesregierung schlussfolgert richtig: „Die interkulturelle Öffnung von Angeboten der Information, Betreuung und Versorgung ist daher eine wichtige Querschnittsaufgabe von Einrichtungen und Verbänden.“
Grundsätzlich liegt für alle Menschen mit Behinderung ein gesetzlich verankerter Versorgungsauftrag vor. Eingewanderte Familien mit behinderten Kindern sind möglicherweise durch Integrationsanforderungen und die Behinderung besonderen und starken Belastungen ausgesetzt. Bislang gibt es allerdings noch keine flächendeckende strukturelle Zusammenarbeit zwischen der Migrationsberatung der Wohlfahrtspflege und der Behindertenhilfe. Die Freie Wohlfahrtspflege sowie die Behindertenhilfe haben den Bedarf ebenfalls festgestellt und planen eine engere Vernetzung und Zusammenarbeit in Nordrhein-Westfalen.
Hintergrund: Inklusion in NRW – Stand der Dinge
Die Landesregierung hat in ihrer Kabinettssitzung am 5. April 2011 den von Sozialminister Guntram Schneider vorgelegten Zwischenbericht „Auf dem Weg zum Aktionsplan“ gebilligt. Der Bericht ist am 14. April 2011 dem Landtag zugeleitet worden. Er beschreibt die Maßnahmen, die bereits von der Landesregierung zur Umsetzung der UN-Behinderten- rechtskonvention ergriffen wurden. Außerdem enthält er grundlegende Informationen zur UN-Behinderten- rechtskonvention und zur Vorbereitung des landesweiten Aktionsplans „Eine Gesellschaft für alle – NRW inklusiv“, der voraussichtlich Anfang des nächsten Jahres dem Landtag vorgelegt werden soll.Im Zwischenbericht wird das Thema Migration und Behinderung explizit erwähnt: Die Fachabteilungen Soziales und Integration des Minis- teriums für Arbeit, Integration und Soziales prüfen derzeit Möglichkeiten der interkulturellen Öffnung der Behindertenhilfe in Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsverbänden. Außerdem sollen gezielte Formen der Aufklärung und Information über das Thema „Behinderung“, insbesondere geistige Behinderung, in Zusammen- arbeit mit den Migrantenselbstorgani- sationen entwickelt werden.
Die schwarz-gelbe Vorgängerregie- rung hatte bereits Kompetenzzentren für sonderpädagogische Förderung (KsF) im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen als Pilotpro- jekt zu Beginn ihrer Amtszeit installiert. Förderschulen wurden zu Kompetenz- zentren ausgebaut mit dem Ziel, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf häufiger als bisher wohnortnah und integrativ in den Regelschulen beschult werden können. Mittlerweile gibt es 74 Kompetenzzentren, bis zum Projektende im Sommer 2013 werden keine weiteren aufgebaut.
SPD und Grüne haben das Pilotpro- jekt nun evaluiert. Das Gutachten und eine Zusammenfassung der Ergeb- nisse des Gutachtens finden Sie im Artikel von Dr. Brigitte Schumann.
Derzeit befasst sich das Schulminis- terium mit den Ergebnissen des Gut- achtens für den schulischen Inklu- sionsplan, der Teil des Aktionsplanes Inklusion ist. Voraussichtlich Anfang des Jahres wird dann ein Referentenentwurf für eine Schulgesetznovelle vorlegt.
Hilflos und fremd
Die gefühlte Doppelbelastung durch Migration und Behinderung des Kindes beschreibt Fariba Mostafawy 1 sehr eindrücklich. Sie hat einen 15 jährigen Sohn mit Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus.
Mitte der 80er Jahre flüchtete die Pädagogin mit ihrem Mann nach Deutschland vor den Auswirkungen des Iran-Irak-Krieges. 10 Jahre später wurde ihr Sohn Farhad geboren. „Es war schwer. Wir sind nach Deutschland gekommen, weil es besser werden sollte. Haben uns damit selbst unter Druck gesetzt. Als Farhad dann geboren wurde, fühlten wir uns hilflos und fremd. Bei einem Besuch beim Kinderarzt, da dachten alle, mein Kind würde sich so benehmen, weil ich es schlecht erzogen hätte. Eine Frau sagte zu mir in der Praxis: ‚Hier sollten Sie Ihr Kind mal erziehen. So läuft das in Deutschland nicht‘. Ich konnte mich nicht wehren und erklären. Da wollte ich am Anfang gar nicht mehr raus mit ihm.“
Die wenigen Anlaufstellen, zumeist türkische Selbsthilfegruppen von und für MigrantInnen mit behinderten Kindern, haben einen großen Zulauf. Sie berichten, dass sich viele Eltern behinderter Kinder schlecht über die Versorgungsmöglichkeiten informiert fühlen, die sie aus ihren Herkunftsländern nicht kennen. „Vor allem im institutionellen Kontext haben es diese Eltern schwerer“, stellt die Heilpädagogin Barbara Fornefeld fest. Infoblätter, die übliche Aufklärungsmethode, kämen gerade bei den Familien nicht an, die sie wirklich bräuchten und seien zudem oft zu allgemein.
Wie schwierig es ist, die richtigen Informationen zu erhalten, berichtet die berufstätige Mutter von Erkan Calışer, einem Jungen mit frühkindlichem Autismus. „Wenn ich früher gewusst hätte, was los ist, hätte mein Junge früher mit Sprachtherapie angefangen und könnte heute viel besser sprechen.“ Sprachbarrieren, Hemmschwellen oder Erfahrungen von Diskriminierungen führen sogar dazu, dass notwendige Therapien nicht stattfinden, weil die richtigen Hilfen fehlen bzw. nicht gefunden werden. „Alles muss man selbst rausbekommen. Und die Zeit spielt doch so eine große Rolle.“ Sie habe immer das Gefühl gehabt, eine Therapie für ihren Sohn nicht in Erwägung gezogen zu haben und nicht auf dem neuesten Stand zu sein, was seine Möglichkeiten betrifft. Eine Sorge, die nicht unbegründet zu sein scheint. „Vor allem bei Störungsbildern, die nicht so eindeutig sind, besteht diese Gefahr“, erklärt Fornefeld die Situation vieler Familien. „Bei einem Kind mit schwerster Behinderung läuft es eher, weil es eine große medizinische Versorgung benötigt, es kommt über das medizinische Netz in das Fördernetz.“
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