Staatsskandal

Deutschland braucht jetzt eine neue Architektur

In Deutschland sind Neonazis, ihre Helfer und Helfershelfer jahrelang unbehelligt durch die Republik gezogen. Nun stellt sich die Frage, wer die Verfassung vor dem Verfassungsschutz schützt. Und was sind die Konsequenzen?

Von Montag, 21.11.2011, 7:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.12.2015, 9:24 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

In Deutschland sind Neonazis, ihre Helfer und Helfershelfer jahrelang scheinbar unerkannt und mordend durch die gesamte Republik gezogen. Wer sind die Verantwortlichen dafür, dass jahrelang ein politisch-rechtsextremistischer Hintergrund ausgeschlossen wurde, dass es sich um vermeintliche „Einzeltaten“ handelte und dass die Opfer samt ihrer Angehörigen doppelt bestraft wurden, indem öffentlich der Verdacht geäußert wurde, sie seien in kriminelle Geschäfte verwickelt und hätten Verbindungen zur „Mafia“, „Drogenszene“, „Wettanbietern“ usw.

Auch die harmlose Bezeichnung der kaltblütigen Bluttaten als „Dönermorde“ lässt nichts Gutes erahnen. Dass in diesem Land eine ernste Gefahr von Nazis ausgeht war lange Zeit für Politik, Polizei und Justiz ein Tabu. Zahlreiche Studien (u.a. FES-Studie: „Die Mitte in der Krise“) verweisen darauf, dass rechtsextreme Einstellungen in allen Schichten der Gesellschaft und – besonders gravierend – immer mehr in der Mitte vertreten sind. Mitverantwortlich für diesen Zustand sind u.a. die Debatten, die nach dem Ende des Kommunismus, quasi dann, als ein „neuer Feind“ benötigt wurde, aufflammten. Sie mündeten zunächst dahin, dass in den 90ern in Sachsen-Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen Häuser angesteckt und zahlreiche Menschen ermordet wurden. Vor dem Hintergrund der jetzigen Enthüllungen muss auch der Brand in Ludwigshafen in einem Mehrfamilienhaus mit neun türkischen Todesopfern im Jahr 2008 untersucht werden.

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Durch die erhitzten Diskussionen nach dem 11. September 2001 verstärkte sich der Hass auf Einwanderer, Türken und Muslime spürbar. Das Buch von Thilo Sarrazin, die Forderung des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer, die Einwanderung von Menschen aus „fremden Kulturen“ – womit Türken und Araber gemeint waren – zu verhindern oder die plumpe Äußerung des Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU), dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, trugen ebenso dazu bei, dass die kritische Stimmung gegenüber Migranten immer mehr in die Mitte der Gesellschaft vordringen konnte. Besonders verantwortungslos war jedoch, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Kollegen Seehofer im vorigen Jahr, den Multikulturalismus in Deutschland für „absolut gescheitert“ und „tot“ erklärten.

Insbesondere die Familien der Opfer stellen die Frage, wie vertrauenswürdig unter diesen Umständen die verbale Abgrenzung einiger Politiker zu den Rechtsradikalen ist, die sie nun angemessen als „Schande für Deutschland“ bezeichnen. Den verbalen Bekenntnissen müssen nun Taten folgen. Denn seit Jahren werden Aufklärungsprogramme, Mittel für zivilgesellschaftliche Organisationen und die Jugendarbeit im Kampf gegen Rechtsradikalismus gekürzt, so auch für das Jahr 2012. Hier möchte die Regierung wieder zwei Millionen Euro einsparen. Diese Politik muss revidiert werden. Im Fokus des Betrachters steht zunehmend auch die Familienministerin Kristina Schröder (CDU).

Der Chefredakteur des Internetportals „Migazin“, Ekrem Şenol, weist darauf hin, dass die Etablierung des Begriffs „Deutschenfeindlichkeit“ unter Ausländern zu den ersten Amtshandlungen der Ministerin zählte und führt weiter aus: „Nicht nur die Nichtbeachtung von Rechtsextremismus bestärkt die Täter in ihrem Handeln, sondern auch die Schaffung von Feindbildern, die auch mal als ‚zu viele kriminelle Ausländer‘, mal als ‚Integrationsverweigerer‘, mal als ‚Sozialschmarotzer‘ usw. bezeichnet werden“. Außerdem wirft der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, der Ministerin vor, sie behindere durch neue Verordnungen in der Finanzmittelvergabe den Kampf gegen den Rechtsextremismus. Nicht nur den Konservativen aus der CDU und CSU, sondern auch der SPD (siehe Sarrazin etc.) und anderen Organisationen ist es wohl lieber, wenn der Feind „links“ steht. Şenol erkennt daher „ohne erkennbaren Grund eine deutliche Verschiebung der Prioritäten von rechts nach links“ in den Verfassungsschutzberichten. Er beklagt zudem, dass hetzpropagandatreibende Internetportale wie „Politically Incorrect“ (PI-News) „mit dreisten Begründungen nicht einmal beobachtet“ werden.

2010 gab es in Deutschland im Schnitt täglich drei Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund. Die Zahl der Todesopfer durch Rechtsextreme und rassistische Gewalt ist in den letzten 20 Jahren auf 182 gestiegen. Die Regierung dagegen zählte lediglich 47 Opfer. Da stellt sich die Frage, wie Politik, staatliche Behörden, Staatsanwaltschaft und Polizei mit rechtsextremer Gewalt umgehen. Entsteht diese große Abweichung dadurch, dass Fälle, in denen Justiz, Polizei und Kriminalämter Vorgänge als normale Kriminalität einstufen, diese aber in Wirklichkeit rechtsextreme und rassistische Hintergründe haben?

Das Vertrauen gegenüber dem Rechtsstaat hat durch diese „Staatsaffäre“, „Geheimdienstaffäre“ oder wie man sie auch nennen mag, Schaden genommen. Selbst Hans-Peter Uhl von der CSU, der im Visier der Neonazis gestanden haben soll, meint, dass diese Affäre sich zu einem „Verfassungsschutzproblem“ entwickeln könne. Unterschätzte der deutsche Inlandsnachrichtendienst die Rechtsextremisten? Oder ist die Situation noch schlimmer? Denn die Ämter, die den Innenministerien unterstehen, befinden sich im Verdacht, über die Täter informiert, aber dennoch passiv gewesen zu sein. Im Klartext hieße das: Man wusste Bescheid, hat die Täter aber nicht festgenommen – bzw., was noch schwerwiegender wäre – festnehmen dürfen. Wenn das stimmt, haben wir es mit einem noch nie in der Geschichte der jungen Bundesrepublik da gewesenen Polizei-, Justiz- und Staatsskandal zu tun.

Wie in anderen Ländern gibt es auch in Deutschland einen „tiefen Staat“, dem alles zuzutrauen ist. Reinhard Müller von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) meint dazu, dass dieser besagte Staat durch „seine Diener“ handle, die „gelegentlich auch unfähig, eitel, überfordert, korrupt, gefällig und brutal“ seien können. Dazu ergänzt Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ): […] seitdem klar geworden ist, dass also die Verfassungsschutzberichte seit 15 Jahren falsch sind; seitdem die Innenpolitiker bekennen müssen, dass die Folgerungen, die sie auf dieser Basis gemacht haben, nicht tragfähig waren, seitdem jeden Tag neue Fehlleistungen des Verfassungsschutzes bekannt werden und immer neue Details über die Distanzlosigkeit, die zwischen einzelnen Verfassungsschützern und Rechtsextremisten herrscht – seitdem mag man sich verzweifelt fragen, ob womöglich nicht nur die NPD, sondern auch der Verfassungsschutz verboten werden sollte. […] Die Ermittlungen können eine Staatskrise zur Folge haben – zumal dann, wenn sich ergibt, dass es gegen Rechtsextremisten eine heimliche Linie der Schonung und Nachsicht gegeben haben sollte. Immer mehr Menschen fragen sich, wer denn die Verfassung vor dem Verfassungsschutz schützt, der mit Akribie und Eifer kritische Demokraten observiert, aber gewalttätige Neonazis in Ruhe lässt oder als V-Leute beschäftigt.“

Gibt es „Rechtsterrorismus“ in Deutschland? Der Begriff ist derzeit in aller Munde. Der Verdacht, dass dabei ein fließender Übergang zu einem „quasi-staatlichen, politischen Terrorismus“ existiert, verunsichert die Öffentlichkeit und damit auch die Einwanderer enorm. Angesichts dessen müssen nachhaltige Konsequenzen aus dieser Affäre gezogen werden. Die Hintergründe dieses „Staatsskandals“ müssen restlos – und nicht hinter verschlossenen Türen – aufgeklärt werden. Politik, Sicherheitsbehörden, Justiz, Bevölkerung und Medien, alle sind gefragt, dass sich solch brutale Terrorakte – (ob mit ohne ohne Wissen der Behörden) nie mehr wiederholen. Wir benötigen, wie zahlreiche kritische Politiker fordern, eine Veränderung der Sicherheitsarchitektur Deutschlands, die noch in der Zeit des Kalten Krieges festzustecken scheint. Ansonsten sind unser Rechtsstaat und damit unsere freiheitlich demokratische Grundordnung in Gefahr. Getreu dem rechtsstaatlichen Grundsatz „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ dürfen kriminelle Elemente – egal wo sie sich befinden oder eingenistet haben – keine Chance bekommen, unseren Rechtsstaat zu zersetzen. Das sind wir unserer wehrhaften Demokratie und den friedliebenden Menschen schuldig.

Darüber hinaus ist im Moment nicht die Zeit für eine Diskussion über ein erneutes Verbotsverfahren gegen die NPD. Dies sollte mit kühlem Kopf, wohl überlegt und mit zeitlichem Abstand zu dieser „Geheimdienstaffäre“ stattfinden. Ansonsten macht man sich erneut verdächtig, von eigenen Fehlern und dem eigentlichen Skandal abzulenken. Aktuell Meinung

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  1. Christine Horz sagt:

    Sehr geehrter Herr Baş,
    vielen Dank für Ihren Artikel. Zur Recht mahnen Sie die Gefahr für die Demokratie an, welche mit der rechtsextremen Mordserie verbunden ist. Der Schutz rechtsextremen Gedankenguts und der Täter durch die Behörden pflanzt sich durch den großen EInfluss der Verfassungsämter m. E. in staatlich geförderte Institutionen fort. In meiner wissenschaftlichen Studie zu den Bedingungen der aktiven Medienpartizipation von EinwanderInnen im „Bürgermedium“ Offener TV-Kanal, konnte ich nachweisen, dass es offenbar nicht erwünscht ist, dass sich EinwanderInnen mittels eigener Medien an der loklalen Öffentlichkeit beteiligen: die (staatlich geförderten) Landesmedienanstalten führten Übersetzungspflichten für Einwanderer bzw. Sendezeitbegrenzungen für religiöse (islamische!) Fernsehbeiträge ein – obwohl dort keinerlei verfassungsfeindliche Äusserungen auftauchten.
    Die politisch-kulturelle Öffentlichkeit in Deutschland wird aktiv „weiß“ gehalten, bis in die kleinste Nische – so lassen sich Meinungen über eine soziale Gruppe auch besser kontrollieren.
    Gruß,
    Dr. des. Christine Horz

  2. Mathis sagt:

    @Christine Horz
    Was ist daran zu beanstanden, dass staatlich geförderte Medien auf einer Übersetzung der Beiträge in die Landessprache bestehen?
    Sollte nicht „Partizipation“ in beide Richtungen möglich sein, oder geht es Ihnen um einen Exklusivstatus für „Einwanderer“.Ich verstehe Ihr Anliegen nicht ganz.Heimatsprachliches TV können Interessenten rund um die Uhr beziehen, sofern sie dies möchten.Wozu dieses ausweiten und gleichzeitig deutsch sprechende Interessenten ausschließen?
    Im übrigen hat dies, abgesehen von Ihren eigenen Mutmaßungen, auch nicht viel mit dem Skandal um die staatlichen Verstrickungen und Schlampereien rund um die Nazi-Terrorzelle zu tun.
    Aber ich bin mir sicher, dass noch viele die Gelegenheit nutzen werden, um ihr ideologisches Süppchen zu kochen, auch wenn die Zutaten nicht so recht passen mögen.

  3. DBB sagt:

    Was bitte geht es den türkischen Staat an ob die Bundesrepublik eine neue Architektur braucht?