Leos Wochenrückblick
Nachdenken über Breivik. Fünf herausragende Artikel.
Patalong über Deportation, Weidner über die Wahl der Opfer, Leader über die Paranoia, Posener über die Konsequenzen von Ideen, Berger über das blinde "rechte" Auge. Als Zugabe: Broder.
Von Leo Brux Montag, 01.08.2011, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.11.2024, 12:04 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Es ist viel geschrieben worden in dieser Woche über den rechtspopulistischen Terrorismus. Fünf Artikel ragen heraus:
Deportation der Muslime ist das politische Ziel
Breiviks auf 1500 Seiten rechtspopulistisch begründeter Terrorismus hat seine Kameraden auf dem falschen Fuß erwischt. Der Frage, was man denn nun praktisch tun sollte, um der angenommenen Islamisierung etwas entgegenzusetzen, weicht man gerne aus. Deportation der „Südländer“ oder Muslime – diese Forderung läge eigentlich nahe, meint Frank Patalong bei Spiegel Online. Dass man sie nicht aufstellt, kritisiert Breivik selbst in seinem Manifest:
„Der Grund, warum Autoren, die über Dinge wie Eurabia und die Islamisierung Europas schreiben – Fjordman, Ye’or, Bostom etc. – nicht aktiv in die Diskussion um Deportationen eingreifen, ist, dass diese Methode als zu extrem gilt (und so ihren Reputationsschild beschädigen könnte).“
So ist das also.
Laut Breivik halten sich die Vordenker eben heraus aus den schmutzigen Seiten des „Kulturkampfes“, pflegen ihren „Reputationsschild“, um ihre Themen in den Mainstream der gesellschaftlichen Diskussion tragen zu können.
Patalong bringt das politische Ziel des radikalen neu-rechten Lagers auf eine knappe Formel. Die Eckpfeiler sind
Nationalismus, „Monokulturismus“, die Ablehnung und Bekämpfung des Islams, der Strukturen der Europäischen Union und der westlichen Staaten …
Ihr Idealbild ist eine Festung Europa, die sich der Muslime per Deportation entledigt und „ethnisch homogene“ Bevölkerungen in einem „Europa der Regionen“ anstrebt. Die sollen dann wieder ausschließlich ethnisch definiert sein – als ob das im Völker-Wanderrevier Europa je so gewesen wäre. In ihrer Feindschaft gegen das Andersartige, in ihrem Streben nach Isolation sind sie sich einig, selbst über sonstige ideologische Grenzen hinweg.
Warum wählt Breivik linke Norweger als Opfer?
Hätte er speziell norwegische Muslime oder „Südländer“ als Opfer seiner terroristischen Mordtat gewählt, wäre der Effekt in der Öffentlichkeit sehr viel geringer ausgefallen, vermutet Stefan Weidner in der Süddeutschen Zeitung. Die Rechtspopulisten wären weitaus weniger unter Druck geraten.
Die weitaus meisten islamistischen Terrorakte haben nicht dem Westen gegolten, sondern den Feinden der Islamisten in der muslimischen Welt selbst.
Die Islamkritik war immer blind gegen die Tatsache, dass der islamische Terror nicht primär gegen den Westen, sondern gegen die Andersdenkenden in der eigenen Welt, unter den Muslimen, gerichtet ist. Während dort bis heute Anschläge an der Tagesordnung sind, haben sie sich bei uns als große Ausnahme erwiesen, und dies nicht nur dank wachsamer Behörden, sondern vor allem, weil die eigentliche Front der Auseinandersetzung nicht dort verläuft, wo es die Islamkritiker argwöhnen und behaupten: hier bei uns.
In allen Online-Foren erfährt es der, der es sich antut, den massenhaft geposteten Schund zu lesen: Die Rechtspopulisten hassen vor allem ihre eigene Gesellschaft, die deutschen Rechtspopulisten also dieses reale multikulturelle Deutschland.
Der Hass auf den Islam und die paranoiden Ängste vor einer islamischen Unterwanderung Europas haben Breivik also nicht zum Krieg gegen die Muslime veranlasst (auch wenn unter seinen Opfern zahlreiche muslimische Einwanderer oder deren Kinder sind), sondern zu einem maximal brutalen Schlag gegen die eigene Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund besteht das eigentliche Trauma der Islamkritik nicht darin, dass Breivik ihre Ideen zitiert und sich daraus eine licence to kill gebastelt hat, sondern dass seine Tat unmissverständlich die wahre Stoßrichtung dieser Bewegungen offenlegt: die eigene Gesellschaft, wie sie nun einmal ist: Europa, der Westen selbst.
Der 22. Juli 2011 hat gezeigt, dass die greifbarste Frucht der islamkritischen Aktivitäten bislang nirgendwo die Zurückdrängung des Islams ist, sondern nur die Spaltung eben derjenigen Gesellschaft, für die die Islamkritik zu sprechen vorgibt, die sie verteidigen und stärken will. Die anderen, lernen wir jetzt, sind wir selbst. Die Anti-Islam-Bewegung hat nicht den Hass gegen den Islam, sondern den gegen das heutige Europa hochgepäppelt, gegen jeden europäischen Bürger und erst recht jeden Politiker, der den Makel hat, sich nicht von ihr irre machen zu lassen.
Paranoia
Der interessanteste Artikel über die Frage, ob und wie Breivik verrückt ist, stammt von Darian Leader und steht im Guardian. Ich übersetze ein paar seiner Gedanken.
Der Paranoiker, anders als der Schizophrene, entdeckt das Böse, das Zerstörerische außerhalb von sich selbst. Er kann, das weiß er mit absoluter Gewissheit, den Unterschied zwischen Gut und Böse genau und eindeutig erkennen. Gut ist er selbst, das Böse lauert da draußen, es kommt ausschließlich von anderen.
Breiviks Überzeugung ist es, dass Europa verdorben ist, dass der Name der Verderbnis Islam heißt und dass seine Mission darin besteht, diese Verderbtheit offen zu legen und auszumerzen. …
Die Verrücktheit liegt nicht in den Glaubensinhalten, sondern im Verhältnis der Person zu seinem Glauben. Wenn absolute Glaubenssicherheit den Zweifel ersetzt, befinden wir uns im Reich der Psychose.
Die Paranoia betrifft oft nicht andere Personen, sondern zum Beispiel eine Seuche, Umweltprobleme, Gefahren für die eigenen Kinder – ganz alltäglichen Stoff also. Die zu solcher Alltagsparanoia Neigenden
widmen dann ihr Leben der Kampagne, um diesen Fehler zu beseitigen, entweder durch medizinische Forschung, durch Erziehungsprojekte, durch Umweltwissenschaft. Die ehrenhaftesten und wohltätigsten Engagements teilen oft etwas mit den tyrannischsten und mörderischsten in dem einen Ziel: die Präsenz des Bösen aus der Welt zu schaffen.
Das Paranoische ist Teil unseres Alltags. Teil unserer Psyche. Wer auf sich selbst aufmerksam und sich selbst gegenüber ehrlich ist, wird etwas davon auch in sich selbst beobachten können. (Man beachte bitte, was weiter oben steht: Es ist der völlige Ausfall des Zweifels, der das Paranoische an einer Überzeugung charakerisiert.)
Ideen haben Konsequenzen
Alan Posener stellt auf dem Blog Starke Meinungen Breivik als Theoretiker der Neuen Rechten vor. Im ersten Teil seines kleinen Essays besteht er darauf:
Anders Behring Breivik ist ein politischer Attentäter. Ein Propagandist der Tat.
Das schließt nicht aus, dass er auch ein Psychopath ist. Jedoch darf die möglicherweise gerichtlich relevante Frage seiner geistigen Verfassung nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Anschlägen in Norwegen um eine politische Aktion handelte.
Er vergleicht es mit Ulrike Meinhof, die sich ebenfalls in einem psychisch anomalen Zustand befunden habe.
Allerdings kamen die Gerichte in allen bundesdeutschen Terror-Verfahren zum Ergebnis, die Angeklagten seien durchaus schuldfähig. Und auch die bundesdeutsche Neue Linke betrachtete und betrachtet die RAF als Teil von sich; sei es, dass einige damals „klammheimliche Freude“ über die Morde der „Genossen der RAF“ empfanden, sei es, dass einige „Solidarität mit den politischen Gefangenen“ übten, sei es, dass viele heute im Rückblick erschauern, weil sie eben einen Zusammenhang zwischen radikalem Denken und radikalen Handlungen erkennen.
Ideen haben Konsequenzen. Worte haben Folgen. Wer diesen Zusammenhang nicht sehen will, gilt heute nicht einmal in linken Kreisen als wirklich ernst zu nehmen.
Wie geht es weiter?
Jens Berger leitet auf den Nachdenkseiten seinen Artikel mit einem Blick zurück ein.
Politik und Medien gaben sich sehr überrascht, als offenbar wurde, dass die Terroranschläge in Norwegen von einem bekennenden „Konservativen“ verübt wurden. Diese Überraschung ist aber schlussendlich nur ein Beleg für Blindheit auf dem „rechten“ Auge. In den letzten Jahren hat sich der rechte Rand merklich radikalisiert. Anstatt diese Radikalisierung zum Thema zu machen und auf die Gefahren hinzuweisen, haben Politik und vor allem die Medien sie stattdessen in unverantwortlicher Weise angeheizt. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Gerade auch Deutschland ist nicht vor einem Terrorismus von rechts gefeit.
Die Gegenwart:
Wer wissen will, wie die Botschaft von sich als Biedermänner aufspielenden Brandstiftern wie Broder und Sarrazin von Teilen des Volkes aufgenommen wird, sollte einmal einen Blick in die Online-Kommentare von Springers Flaggschiff werfen oder sich besser gleich eines der stark frequentierten rechtspopulistischen Blogs anschauen. Wer glaubt, dass der Hass, der dort aus jeder Zeile trieft, nicht irgendwann in irgendwelchen Köpfen zu Gewaltausbrüchen führt, muss schon ziemlich naiv sein. Diese „neue Rechte“ hasst nicht nur Muslime, sie hasst auch Linke und Liberale, die in ihrem Jargon „Gutmenschen“ sind – ein Begriff, der auch von ihren Vorbildern Broder und Sarrazin gerne benutzt wird.
Die Zukunft:
Es ist leider auch unwahrscheinlich, dass bei den einschlägigen Medien ein Lern- oder Umdenkungsprozess einsetzen wird. In unserer schnelllebigen Aufmerksamkeitsökonomie wird es nach einer kurzen „Pietätspause“ weiter gehen mit der Hetze gegen Muslime und gegen die „Gutmenschen“. … Politik und Medien sind auf dem rechten Auge blind.
Man könnte schon was tun. Keine Toleranz den Intoleranten, keine Toleranz auch denjenigen Hasspredigern gegenüber, die als Biedermänner auftreten.Der Terroranschlag in Norwegen ist … nur die Spitze eines Eisbergs, der sich unter der Wasserlinie als alltägliche Fremdenfeindlichkeit und Hass gegen Andersdenkende präsentiert.
Warten wir also auf den nächsten Schlag.
Als Zugabe: Die Entgleisung der Woche
Broders Reaktion wird vielleicht in Erinnerung bleiben. Josef Winkler schreibt in der taz, ihm sei fast der Kopf geplatzt, als ihm
… wieder die Replik von Henryk M. Broder auf die Frage des Tagesspiegels einfiel, ob er sich Sorgen darüber mache, dass er mit einigen seiner „islamkritischen“ Thesen im „Manifest“ von Anders B. Breivik zitiert wird: „Das Einzige, worüber ich mir Sorgen mache, ist, woher ich Ersatzteile für meinen Morris Traveller aus dem Jahre 1971 bekomme. Sogar in England werden die Teile knapp.“
Noch mal kurz im Zusammenhang. Zwei Tage zuvor hat ein Mann 68 Jugendliche umgebracht, gejagt und erschossen wie Tiere, aus Hass auf den Islam und Linke. Henryk M. Broder wird gefragt, ob es ihn anfasst, dass dieser Mann sich in seinem Pamphlet, dem Buch zum Massenmord, auf Argumentationen von ihm, Broder, beruft. Es wäre eine spitzen Gelegenheit für Henryk M. Broder wenn schon nicht Betroffenheit zu äußern, so doch irgendetwas Normales, Humanes, Gutes zu sagen oder aber einfach mal den Rand zu halten. Henryk M. Broder sagt: „Das Einzige, worüber ich mir Sorgen mache, ist, woher ich Ersatzteile für meinen Morris Traveller aus dem Jahre 1971 bekomme. Sogar in England werden die Teile knapp.“
Es gibt tatsächlich Leute, die finden diese Reaktion von Broder cool und stark. Aktuell Meinung
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Pingback: Fundstücke – 02.08.2011 | Serdargunes' Blog
da fehlen noch 2 hervorragende artikel
„Scheinheilige Sympathisantenjagd“
von Jan Fleischhauer in spon zu lesen
sowie
„Ohnmacht“
von Roger Köppel in der Weltwoche
…………
egal,
Argumentation ist Ihnen egal?
Wieso steigen Sie nicht ein?
Sie wissen doch, ich antworte gern.
Also, packen Sie’s an!
(Aber bitte im Rahmen der Netiquette!)