Brief an Güner Balci

Sevgili Güner-Abla!

Beri Tunç wurde von Thilo Sarrazin während seines Kreuzberg-Ausflugs als "strohdumm" bzeichnet. In ihrem Brief richtet sie sich aber an die Journalistin Güner Balcı und ihre "einseitige und abwertende Berichterstattung".

Von Beri Tunç Freitag, 22.07.2011, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 25.07.2011, 21:14 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Sevgili Güner-Abla, 1

ich setze mich zur Wehr gegen deine einseitige und abwertende Berichterstattung über den „Besuch“ Sarrazins in Kreuzberg am 12.07.2011 2.

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In deinem Artikel schreibst du einleitend von einem „Spaziergang“, einer „lockeren Begegnung“ „ohne großes Aufsehen“, und ich frage mich ernsthaft, wie du dir einen feucht fröhlichen Spaziergang in einem Kiez voller – wie du selbst schreibst – „wütender Migranten“, die sich gegen Thilo Sarrazins rassistischen 3 Vorwürfe zur Wehr setzen, vorgestellt hast? Was habt ihr von den „Empörten“ erwartet? Offene Arme und/oder ein herzliches Händeschütteln in unterwürfiger Manier?

Nein, Güner, manchmal sind Menschen nicht so dumm, wie ihr sie gern haben wollt. Euer „Besuch“ war eine reine Provokation, und ihr wusstet sehr genau, dass sich die Betroffenen verbal zur Wehr setzen würden gegen Sarrazin und gegen sein erfolgreiches Instrument, den Medien, die ihn bei seinem ach so „ganz selbstverständlich[en]“ Besuch auf Schritt und Tritt begleitet haben, um nur das wiederzugeben, was ihm und anscheinend auch dir in den Kram passt (was du übrigens mit deinem polemischen Artikel sehr akkurat unter Beweis gestellt hast, danke dafür!).

Ja Güner, in einem Punkt stimme ich dir zu: Wir KreuzbergerInnen haben uns empört! Wir haben uns nicht instrumentalisieren lassen, weder von Sarrazin noch von den Medien, und werden es auch nicht dir erlauben, über unsere Köpfe hinweg bestehende Vorurteile zu festigen. Wir haben von unserem Grundrecht der freien Meinungsäußerung Gebrauch gemacht. Wir haben uns gemeinsam gegen einen Menschen widersetzt, der seine Bevölkerung nach ökonomischer Leistung und „kultureller“ Herkunft (ab-)bewertet.

Dass der ökonomische Erfolg in einem kapitalistischen System von ungeheurer Bedeutung ist, wissen wir als mündige BürgerInnen mit und ohne Migrationshintergrund sehr genau. Die strukturelle Benachteiligung im Bildungssystem sowie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ist ein wichtiger Faktor, der den Menschen im Allgemeinen soziale, kulturelle und politische Partizipation nicht ermöglicht bzw. erschwert.

Wir brauchen keinen Sarrazin, der uns vorschreibt, wie, was und wann wir essen müssen, damit wir in diesem System überleben können. Wir brauchen keinen Sarrazin, der uns erklären muss, wie wir zu leben haben, damit wir dem Staat nicht auf der Tasche sitzen. Wir brauchen keinen Sarrazin, der meint, dass wir unsere Geburtenrate zu kontrollieren haben, weil wir für die Verdummung des Staates verantwortlich seien, weil seiner Meinung nach Intelligenz vererbbar ist, und in seinen Augen nur die Intelligenten das Recht auf Existenz haben. Wir brauchen keinen Sarrazin, der uns erklärt, dass wir – die „Unterschicht“ – in diesem kränkelnden System kein Existenzrecht haben. Wir brauchen aber auch keinen Sarrazin, der uns „tabubruchartig“ erklären muss, dass MigrantInnen diesem Staat im Allgemeinen nicht gut tun. Wir brauchen sein Bestsellerbuch nicht, um über unseren Kosten-Nutzen-Faktor zu lesen. Wir sind Menschen, Güner, keine Zahlen!.

Und weil Sarrazin das nicht versteht, haben wir mit unserer Handlung und Haltung ihm zu verstehen gegeben, dass wir in seinem ungleichen und falschen Spiel nicht mitspielen möchten. Was wir brauchen, ist Respekt, soziale und ökonomische Gleichberechtigung und politische Partizipation. Nicht mehr, nicht weniger.

Ich spreche hier nicht nur als Deutsche mit dem speziellen Migrationshintergrund, sondern als Kind einer Arbeiterfamilie, wenn du so gütig sein und mir dieses Recht eingestehen kannst, trotz meines Namens, trotz der Herkunft meiner Eltern.

Wir brauchen einen Dialog schreibst du so schön in deinem widersprüchlichen Artikel. Ein Dialog ist meiner Meinung nach nur dann möglich, wenn Menschen sich auf einer Augenhöhe begegnen. Sarrazin hat jedoch mit seiner Haltung mehrmals bewiesen, dass es ihm nicht um einen ebenbürtigen Dialog geht.

Wie also soll deiner Meinung nach dieser Dialog aussehen? Indem wir uns beugen, ihm das Recht auf Sprechen eingestehen, uns selbst als klagende Opfer inszenieren? Allem Anschein nach habt ihr ernsthaft erwartet, dass wir unsere andere Wange hinhalten würden. Wir haben uns stattdessen entschieden, unsere Stimme zu erheben. Unserer Wut über die ständigen Schuldzuweisungen und Diffamierungen seitens Sarrazin freien Lauf zu lassen, uns über ihn zu empören und uns zur Wehr zu setzen.

Was du in deinem Artikel nicht erwähnt hast, liebe Güner, sind die Beleidigungen und die Beschimpfungen, die sich Sarrazin geleistet hat. Du hast nicht erwähnt, dass er mich als „strohdumm“ und meine männliche Begleitung als „linksradikalen Faschisten“ abgestempelt hat. Du hast nicht erwähnt, dass Sarrazin ihm in chauvinistischer Manier das Recht abgesprochen hat, sich zu empören, weil er nicht aus Deutschland stamme, und sich deshalb als „Gast“ zu verhalten habe. Du hast nicht erwähnt, dass er uns permanent unterbrochen hat, und sich nicht mal getraut hat, in unsere Augen zu schauen. Warum scheut er sich davor? Liegt es etwa daran, dass er durch den Augenkontakt den Menschen in uns erkennen würde? Du hast auch nicht erwähnt, dass Sarrazin die alevitische Gemeinde, die ihre Begründung für die Ablehnung seines Besuches in einer friedlichen und ausführlichen Rede vorgetragen hat, als „antidemokratisch“ abgewertet hat. Ebenfalls unerwähnt in deinem Artikel blieb seine Aussage, die Gemeinde würde durch diese Haltung nur Vorurteile bestätigen. Mit dieser Aussage hat er ihr nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung abgesprochen, sondern einen Versuch gestartet, ihren Handlungsspektrum gegen rechtspopulistische Politik zu vermindern: Durch die drohende Äußerung und seine typische Machtdarstellung hat er nochmals unter Beweis gestellt, dass er nicht in der Lage ist, mit diesen Menschen auf einer Augenhöhe zu kommunizieren. Ich frage dich noch mal, Güner: Ist das das Niveau, auf dem ihr Dialoge führen wollt? Ich glaube kaum.

Also sag mir doch bitte, aus welchem Grund ihr uns KreuzbergerInnen „spontan und ohne großes Aufsehen“ besuchen gekommen seid. Warum ist dein Begleiter nicht vor seinem Bestseller auf die Idee gekommen, sich die Probleme und Sorgen der KreuzbergerInnen –speziell mit Migrationshintergrund- anzuhören, denn ein Dialog bedeutet auch zuhören.

Sarrazin hat genug geredet und geschrieben. Jetzt sind wir an der Reihe zu antworten.
Abschließend, liebe Güner, möchte ich dir noch etwas mit auf den Weg geben: Wir werden uns von euch nicht verbieten lassen, zu sprechen, denn wir sind gleichberechtigte BürgerInnen dieser Stadt und haben Mitspracherecht vor allem, wenn es um uns geht.

Eure Aktion hat uns außerdem deutlich gemacht, dass wir uns nicht abschaffen lassen werden.

Beri vom „Kreuzberger Mob“

  1. Liebe Güner Tante
  2. Kreuzberg schafft sich ab, Morgenpost, 16.07.2011, S.9
  3. Beispielhaft: Süddeutsche Zeitung, analyse & kritik
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  1. NDS sagt:

    Liebe Beri,
    vielen vielen Dank für diesen eindrucksvollen Brief. Er zeigt deutlich auf, warum dieser „Spaziergang“ ethisch falsch war, welche Fakten durch Frau Balci verdreht wurden, wo drin die Provokation bestand und wie ewig gestrig unser Frührentner wirklich ist.
    Viel Erfolg bei Deinen weiteren Vorhaben und liebe Grüße aus dem Ruhrgebiet!

  2. Jürgen sagt:

    LOL!
    Geile Satire zu dem ganzen ZDF-Trash:
    http://www.turkishpress.de/2011/07/23/chefredakteuse-luzia-braun-sarrazin-hat-recht/id3808

    Ich schmeiß mich wech …! :D

  3. Vorname Nachname sagt:

    Guten Tag allerseits.

    Ich möchte einige Anmerkungen zum Brief Beri Tunç`s machen:

    Zunächst mal frage ich mich was für eine abstruse Vostellung von freier Meinungsäußerung Frau Tunc hat.
    Ist es freie Meinungsäußerung einen Ladenbesitzer dazu zu nötigen einen Gast, der einem selbst nicht passt, aus seinem Laden zu werfen?
    Nein natürlich nicht, es ist eine Straftat.

    Man mag ja ja Sarrazin für einen Rassisten halten, aber haben Rassisten nicht auch ein Recht auf Nahrungsaufnahme?

    Frau Tunc empört sich, dass ihr Freund als „linksradikaler Faschist“ bezeichnet wurde. Nun, ich weiß nicht, ob er links ist, aber sein undemokratisches und nötigendes Verhalten, sowie auch ihres, kann durchaus als faschistoid eingestuft werden.

    Ums mal mit Voltaires Worten zu sagen:
    „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“

    Ich denke diese Aussage dürfte demokratischer Konsens sein und ja Frau Tunc, das gilt auch für Leute, die sie nicht mögen.

    Desweiteren möchte ich auf einige Passagen des Briefes eingehen:

    Ja Güner, in einem Punkt stimme ich dir zu: Wir KreuzbergerInnen haben uns empört! Wir haben uns nicht instrumentalisieren lassen, weder von Sarrazin noch von den Medien, und werden es auch nicht dir erlauben, über unsere Köpfe hinweg bestehende Vorurteile zu festigen.
    ——–
    Also erstmal finde ich es etwas größenwahnsinnig von Frau Tunc, sich anzumaßen für alle Kreuzberger sprechen zu können, dieses „wir“ zieht sich ja durch den gesamten Text.
    Desweiteren haben die Kreuzberger sich nicht instrumentalisieren lassen, lediglich auf Frau Tunc und ihren Freund, die sich genauso verhalten haben, wie Sarrazin es wollte, trifft dies zu, während so ziemlich alle anderen Kreuzberger sachlich bleiben konnten.

    Wir brauchen keinen Sarrazin, der uns vorschreibt, wie, was und wann wir essen müssen
    —–
    Aber Frau Tunc darf Sarrazin vorschreiben, wo er essen darf?

    Wir brauchen keinen Sarrazin, der meint, dass wir unsere Geburtenrate zu kontrollieren haben, weil wir für die Verdummung des Staates verantwortlich seien
    ——
    Sarrazin hat die Kreuzberger für die Verdummung des Staates verantwortlich gemacht? Oder wer ist dieses mal dieses mysteriöse „wir“?

    weil seiner Meinung nach Intelligenz vererbbar ist
    —–
    Allgemeiner Stand der Wissenschaft. Intelligenz setzt sich zusammen aus Anlage und Umwelt.

    Wir brauchen einen Dialog schreibst du so schön in deinem widersprüchlichen Artikel. Ein Dialog ist meiner Meinung nach nur dann möglich, wenn Menschen sich auf einer Augenhöhe begegnen.
    —–
    Was sind das den für Ausflüchte? Weil Sarrazin einem angeblich nicht auf Augenhöhe begegnet kann man nicht mit ihm diskutieren, sondern nur brüllen? So kann man seine mangelnde Dialogbereitschaft auch erklären.

    Wie also soll deiner Meinung nach dieser Dialog aussehen? Indem wir uns beugen, ihm das Recht auf Sprechen eingestehen, uns selbst als klagende Opfer inszenieren?
    —-
    Der gesamte Brief ist doch eine Opferinszenierung.
    Außerdem hat jeder das „Recht auf Sprechen“. Dass Frau Tunc meint, sie könnte es jemand eingestehen zeigt nur ihre undemokratische Haltung.

    Soweit erst mal dazu und um auch dem linken Kreuzberger Spektrum gerecht zu werden schließe ich ab mit Rosa Luxemburg:

    „Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden“

  4. Whatever sagt:

    @vorname

    1.) Rassismus ist keine Meinung, sondern Hass, Angst und Vorurteile versprühendes Gift, das zu Tod bzw. Massenvernichtungen führen kann. Nicht aufgepasst in der Schule, was? Und dagegen MUSS protestiert werden!

    2.) Tun Sie sich selbst einen Gefallen und setzen Sie sich doch bitte näher mit dem Begriff „Faschismus“ auseinander.

    3.) „Ehe man den Kopf schüttelt, vergewissere man sich, ob man einen hat.“ Truman Capote

  5. Hanna sagt:

    Liebe Beri!
    Ich war, nachdem ich den Beitrag gesehen hatte, sehr traurig, dass der „Besuch“ von Herrn Sarrazin zu so einem Bild geführt hat. Natürlich kann ich nur das beurteilen, was gezeigt wurde und kann deswegen evtl. auch nicht recht nachvollziehen, wie es zu dem gekommen ist, was für den Beitrag ausgewählt wurde.
    Auch habe ich mich gefragt, wie ich reagieren würde, wenn eine Person die für mich durch ihre Äußerungen ein „rotes Tuch“ wäre unerwartet in meinem Stammlokal auftauchen würde und kann verstehen, dass so eine Situation schnell emotional aufgeladen ist.
    Trotzdem finde ich, dass es nicht in Ordnung ist eine Person aus einem Stadtteil oder Lokal zu verweisen – insbesondere nicht, wenn diese gekommen ist um in Kontakt und Dialog zu treten. Je weniger man die Ansichten einer Person teilt, desto wichtiger ist es, wie ich finde, absolut sachlich zu bleiben und von den Argumenten des Gegenübers ausgehend zu erklären, weshalb ich diese als problematisch oder nicht kohärent ansehe. Dabei ist es nicht sonderlich hilfreich durch eine Einordnung dieser Argumente meinerseits als (z.B. rassistisch, beleidigend, …, in politischen Diskussionen auch wahlweise gerne mal „idealistisch“ oder naiv) lediglich meine Ablehnung auszudrücken, ohne differenziert auf die Argumente des Gegenübers einzugehen. Wenn ich selbst gute Argumente vorbringe kann ich es dann den Zuhörern überlassen alle in der Runde vorgebrachten Argumente abzuwägen und selbst einzuordnen.

    Wie gesagt – ich kann es verstehen, wenn man unvorbereitet in so eine Situation trifft emotional zu reagieren, aber ich fand es schade und würde mir wünschen, dass wir alle in Deutschland (z.B. auch im Parlament) zu einer besseren Diskussionskultur finden würden. Und dass kann man nur indem man sich mit den Gedanken und Menschen die man am wenigsten versteht am intensivsten und sachlichsten auseinandersetzt.

    In diesem Sinne – liebe Grüße aus einem anderen Berliner Kiez! Hanna

  6. Pingback: Fundstücke – 25.07.2011 | Serdargunes' Blog

  7. paulo sagt:

    schade beri, du nimmst doch tatsächlich das recht auf meinungsäußerung für dich in anspruch, („Wir werden uns von euch nicht verbieten lassen, zu sprechen“), verwährst es aber anderen. darüber, dass sarrazin euch als linksfaschisten bezeichnet, bin ich aber auch entrüstet, denn ihr seid nicht links – eher braun.

  8. MoBo sagt:

    Jeder Lokalbesitzer hat das recht, jedem aufgrund seiner Äußerungen Hausverbot zu geben. Sarrazin hat die Besucher des Lokals also als faschistisch beleidigt, damit kann man ihn locker rausschmeißen.

  9. hannibal sagt:

    1. Sarazzin hat die „draussen stehenden“ Personen als faschistisch bezeichnet.

    2. Der Lokalbesitzer hat aus Furch vor seinen´eigenen „Landsleuten“, die dann vielleicht sein Lokal boycottieren würden, Herr Sarrazin aufgefordert, es sei doch besser, wenn er ginge.

  10. HansWurst sagt:

    @paulo

    „Sarrazin hat genug geredet und geschrieben. Jetzt sind wir an der Reihe zu antworten.“

    Da bin ich aber echt interessiert daran zu erfahren, was Sie hieran „braun“ finden?