Daniela Kolbes Zwischenruf

Innenansichten in Halbmondwahrheiten*

Ein Einblick in die Innenansichten von Halbmondwahrheiten und der Notwendigkeit verlässlicher finanzieller Förderung guter Integrationsarbeit...

Von Dienstag, 22.03.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 25.03.2011, 3:47 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

An einem Montagabend im Februar, um 18 Uhr in der Uthmannstraße Neukölln: dicht gedrängt sitzen hier ca. 25 Männer unterschiedlichen Alters – von Anfang 20 bis ins hohe Rentenalter – zusammen. Eines haben sie gemeinsam: entweder kamen ihre Eltern als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland oder sie selbst. Jeden Montag treffen sie sich in der bundesweit ersten türkischen Väter- und Männergruppe hier in Berlin-Neukölln, jenem bundesweit stigmatisierten Problemkiez. Im Jahr 2007 initiierte der Diplom-Psychologe Kazim Erdogan diese Gruppe gemeinsam mit 50 Männern, die er bis heute ehrenamtlich leitet. Sein Ansinnen: mit türkeistämmigen Männern ehrenamtlich zu arbeiten, über die schon so viel medial und in der Konsequenz auch politisch gesprochen wird – meist plakativ in Stereotypen als Machotürke, Familienpatriarch und Schläger usw.

Die Gruppe findet bis heute regen Zulauf und stillt anscheinend einen Bedarf, sich auszutauschen, Rat zu finden und auch über heikle Themen zu sprechen. Es gibt keine Tabus: über Gewalt und Sucht wird ebenso offen und schonungslos beraten, wie über Erziehungsfragen und Diskriminierungserfahrungen mit deutschen Behörden – vor dem Familiengericht oder auch im Bewerbungsverfahren einer Landesbehörde. Viel hat sich durch die Männergruppe getan in den Leben der Teilnehmer: sie berichten mir davon wie sie ehrenamtliches Engagement entdecken, weil sie die Hilfe die sie durch die Gruppe erstmals erfahren haben gerne weitergeben wollen; davon dass sie tradierte Rollenmuster in Frage stellen einerseits und dass sie sich stigmatisiert fühlen durch das Stereotyp des „anatolischen Machos“ andererseits; davon dass sie aktiv werden und politische Positionen formulieren, beispielsweise zum Wahlrecht und zur Kindergartenpflicht; und auch davon wie sie sich im hohen Alter zum Besuch eines Sprachkurses entschieden haben, weil sie sich ohnmächtig stimmlos fühlen.

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Auch an mich formulieren sie in einer erfrischenden Offenheit konkrete Fragen und politische Anliegen. Erwartungsvoll sind ihre Augen auf mich gerichtet, wohl auch – wie ich erfahre – da ich überraschenderweise die erste Politikerin bin, die zu Ihnen in Ihre Gruppe kommt und mit ihnen spricht. Am Ende des engagierten Austauschs meldet sich Kazim Erdogan zu Wort: Er berichtet mir von der Herausforderung, vor der so viele gute und erfolgreiche Integrationsprojekte stehen – der Finanzierung. Kazim Erdogan, Preisträger vieler Auszeichnungen für seine beispielhafte und vielseitige Integrationsarbeit in Berlin-Neukölln (neben der Vätergruppe ist er u.a. Initiator der Woche der Sprachen und des Lesens, von Jugend Neukölln e.V.), steht exemplarisch für das grundsätzliche Problem der Verstetigung von Integrationsarbeit.

Bisher hangelt sich die (ehrenamtliche) Integrationsarbeit von einer Projektförderung zur nächsten. Mit dieser Finanzierungsunsicherheit ist kaum die notwendige Verstetigung in der Integrationsarbeit möglich. Inzwischen ist eine differenzierte und unübersichtliche Projekt- und Trägerlandschaft in der Integrationsarbeit gewachsen: Von institutionalisierten „deutschen“ Wohlfahrtsverbänden, die sich erst langsam für interkulturelle Arbeit öffnen, über Migrantenorganisationen und ihre Jugendorganisationen, bis hin zu relativ neuen multiethnischen und –religiösen Initiativen. Gleichzeitig ist klar, dass Integration neben der bundespolitischen Rahmensetzung eine täglich zu leistende Aufgabe vor Ort in den Städten und Gemeinden ist. Die Projektförderung führt beispielsweise zu fehlenden oder unzureichenden hauptamtlichen Strukturen und damit verbunden zu einer ausbaufähigen Professionalisierung.

* Titel in Anlehnung an Isabella Kroth (2010): Halbmondwahrheiten. Türkische Männer in Deutschland – Innenansichten einer geschlossenen Gesellschaft. Diederichs Verlag.

Um das Ziel einer dauerhaft gesicherten, qualitativ hochwertigen und erfolgreichen Integrationsarbeit zu erreichen braucht es klare und transparente Rahmenbedingungen für eine abgesicherte Förderung. Mögliche Kriterien für ein solches Konzept müssen der Differenzierung Rechnung tragen. Ein Forderung, die im Übrigen die SPD Bundestagsfraktion in ihrem aktuellen Positionspapier zu Integrationspolitik formuliert hat. Nun ist es an Ihnen, Frau Böhmer, nicht nur Schaufensterpolitik zu betreiben, sondern konkrete Rahmenbedingungen für erfolgreiche Integration zu gestalten! Aktuell Meinung

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  1. Sinan A. sagt:

    Die Freunde in Berlin müssen aufpassen, dass sie vor lauter Selbsthilfe- und Integrationsgruppen nicht zum Witzfigurenkabinett verkommen. Genau diese Rolle hat der Deutsche für sie vorgesehen.

    Berlin ist auch deshalb besonders im Visier, weil Migranten zentrale Viertel bewohnen, die der Deutsche lieber komplett abreißen und neu gestalten würde. Zugleich hat Berlin einen gewaltigen Zustrom von integrationsunwilligen bzw. -unfähigen Neubürgern.

    1) Der Bullerbü-Akademiker
    2) Der Ostdeutsche

    Diese beiden Gruppen wollen den Migranten entweder loswerden oder zum Studienobjekt degradieren. An einem normalen Miteinander sind sind sie nicht im geringsten interessiert. Im schlimmsten Falle ist der Ostdeutsche zugleich Akademiker, was ihn sofort für eine Stelle am Berlin Institut für Bevölkerung qualifiziert, wo er dann die Geschichte der Gastarbeiter völlig neu erfindet.

    Das ist das schwere Los, das die Migranten in Berlin haben. Nicht nur, dass sie von Veränderungen am Arbeitsmarkt betroffen sind wie alle, von Lohndumping und befristeten Verträgen.Nein, auch diese Insellage inmitten kerndeutscher Gesinnung macht ihnen das Leben schwer.

  2. Leon sagt:

    „DER Deutsche“ will Kreuzberg und Neukölln abreißen?
    Und“ DER Ostdeutsche“(Akademiker) fälscht die Geschichte der Gastarbeiter?
    Ach, wäre“ DER Ostdeutsche“doch in seiner DDR geblieben und hätte die Mauer stehen gelassen.
    Der Schutzwall hatte die bedauernswerten Migranten ja noch vor der kerndeutschen Gesinnung „Des Ostdeutschen“ bewahrt.

  3. Cengiz sagt:

    Hallo Frau Kolbe,

    danke, dass Sie auf einen wichtigen Punkt aufmerksam machen. Wie viele tolle Projekte werden eingestellt mangels Mittel? Ich allein könnte mal eben ein Dutzend aufzählen. Auf der anderen Seite sieht man, wie viel Geld für sinnlose Projekte draufgehen, die nichts bringen. Hauptsache man hat einen guten Draht zum Träger.

  4. Bleier sagt:

    @ Sinan A.

    Schauen sie sich das mal wieder an:

    http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,752484,00.html

    Vielleicht wäre ja eher noch mehr Engagement türkisch- und arabischstämmiger Väter angebracht, nicht weniger?

    Ich finde es zumindest unterstützenswert.