Spracherziehung 3/5
Sprachprestige und Lernerfolg
Die richtige Spracherziehung - Soll man Kindern zuerst die Muttersprache oder die Landessprache beibringen oder doch gleich mehrsprachig erziehen? Ein fünfteiliges MiGAZIN-Special mit Ergebnissen der Bilingualismusforschung und Tipps für die Praxis.
Von Prof. Dr. Sabine Schiffer Mittwoch, 09.03.2011, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 11.03.2011, 6:00 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Eine Armenierin erzählte mir kürzlich, wie sehr sie es bedauert, dass sie mit ihrem Kind nie die Muttersprache gesprochen hat. Nun kann es sich nicht mit der Großmutter in Armenien unterhalten und hat kaum eine Vorstellung von der Herkunft seiner Mutter. Viele hatten ihr geraten, doch Russisch mit dem Kind zu reden, damit es diese weit verbreitete Sprache später einmal beherrschen könnte. Die Mutter hielt das nicht durch, weil ihr die Sprache nicht nahe genug war, sie darin nicht alles ausdrücken konnte – außerdem hatte man ihr auch geraten, doch lieber Deutsch mit dem Kind zu sprechen zum Nutzen des Kindes und ihrem eigenen. Ihren armenischen Dialekt – eine Mischung aus Armenisch, Türkisch und anderen kaukasischen Einflüssen hielt sie hingegen für „ungenügend“, für nicht lohnend, ihn dem Kind zu vermitteln – die Schriftsprache beherrscht sie selber nicht.
Stellen wir uns einmal vor, alle arabischen Kinder würden die jeweilige Landessprache nicht mehr lernen, weil es eine Hochsprache gibt, die zwar angesehen ist, die aber niemand mehr aktiv beherrscht und die ausschließlich in den Schulen vermittelt wird? Und obwohl Marokkaner und Tunesier sich bemühen müssen, um einander zu verstehen, entwertet das doch die einzelnen Sprachen nicht. Egal ob Dialekt, regional begrenzte Sprache oder eine sog. Hochsprache – alle Sprachen sind gleichwertig! Und das Wertvollste geben Sie Ihrem Kind mit, wenn Sie mit ihm in IHRER Sprache sprechen.
Das Prestige, das die Umgebung eines Kindes einer Sprache beimisst, entscheidet mit darüber, wie erfolgreich das Kind diese Sprache lernen kann. Wächst das Kind in Deutschland mit Englisch, Italienisch oder Französisch als Zweitsprache auf, dann wird das allgemein positiv begrüßt und hat ganz unterschwellig eine positive Wirkung auf das Interesse des Kindes (oder auch eines Erwachsenen) an der Sprache. Kinder, deren Eltern(-teil) eine afrikanische Sprache sprechen oder vielleicht Lettisch, tun sich damit schwerer. Dies aber nur dann, wenn sich die Eltern von der Umgebung verunsichern lassen. Verunsicherung erzeugt dann oft genau das, was vorher prophezeit wurde. Es wird einem oft nicht leicht gemacht, wenn sogar Kinderärzte sich verwundert zeigen, dass man mit dem Kind Slowakisch spricht. Dagegen äußerte sich die gleiche Ärztin kurz darauf einer lateinamerikanischen Mutter gegenüber, dass es prima sei, dass deren Kind auch Spanisch spreche. Als Instanz mit hohem Ansehen, sollte von Seiten der Ärzte, Erzieher und Lehrer sensibler und vor allem selbstkritischer im Hinblick auf die eigenen Vorurteile mit der Thematik umgegangen werden. Nochmal: alle Sprachen sind gleichwertig! Mein subjektiver Eindruck ist, dass die Aus- und Fortbildung und wohl auch Erfahrung der Pädagogen in Kindergärten besser ist als das Fachwissen an Schulen – wenn dort allen Ernstes angesehene Lehrkräfte behaupten, die Zweitsprache der Kinder würde sie beim Lernen behindern – dem eigenen Vorurteil entsprechend ohne sich genau anzusehen, was die Kinder tatsächlich behindert. Während also Faktoren wie Medienkonsum, Hörschwierigkeiten u.a. etwa bei deutschen Kindern untersucht werden, besteht bei sog. ausländischen Kindern die Gefahr, dass man Probleme vorzeitig auf die andere Sprache schiebt. Schade für alle Beteiligten, denn so wird dem Kind nicht geholfen. Und wenn ein Zusammenhang mit der Erstsprache des Kindes besteht, dann höchstens, dass diese nicht ausreichend ausgebildet ist. Lassen Sie sich also nicht irritieren! Maßgebend ist vor allem das Gefühl der Eltern. Wenn sie sich sicher sind, dass Sie ihrem Kind etwas Gutes bieten und ihm gar etwas Wichtiges nehmen würden, würden sie auf die zweite Sprache der Familie verzichten, dann wird sich das Kind anschließen – einige Aussetzer seien ihm dabei gewährt. Das höchste Gewicht haben immer diejenigen, die die engste emotionale Bindung zum Kind aufgebaut haben.
In den letzten Jahren ist auf Grund der Deutschlerndiskussionen in Deutschland eine zunehmende Unsicherheit in einigen Migrantenkreisen zu verzeichnen – natürlich nicht in denen englischer oder französischer Herkunft. Es ist dringend erforderlich, dass die Kinder Türkisch, Russisch, Polnisch… als einen Gewinn bzw. eine Selbstverständlichkeit betrachten. Haben Eltern hier Bedenken, dass das Kind etwa mit Türkisch nicht so gut Deutsch lernen kann, dann besteht die Gefahr, dass die Kinder keine der beiden Sprachen richtig lernen. Wie bei allem, brauchen auch hier die Kleinen eine sichere Bindung, um sich dann beim Hinausziehen in die Welt Neues aneignen zu können. Dafür müssen zuerst einmal die Aneignungsmechanismen an sich trainiert werden – die Inhalte sind dabei zweitrangig. Auch hier sehen wir, geht ohne das Einverständnis und bestenfalls noch die positive Begleitung der Eltern nichts. Diese dürfen sich auch von bestimmten Vorkommnissen nicht entmutigen lassen, denn es ist zum Beispiel ganz normal, dass Kinder phasenweise den Gebrauch einer Sprache verweigern und etwa in der dominanten Umgebungssprache antworten. Das macht nichts, denn auch eine rein rezeptive Sprachkompetenz erhält das Sprachwissen eine Zeitlang aufrecht.
Übrigens ist es auch völlig normal, dass Menschen, die mit verschiedenen Sprachen aufwachsen, bestimmte Begriffsfelder in einer Sprache besser beherrschen als in der anderen. Kinder, die in den Heimatländern der Eltern etwa die Ferien am Meer verbringen, werden das dazugehörige Vokabular im Deutschen nicht unbedingt beherrschen. Das ist nicht weiter schlimm und wird erst dann relevant und schnell erlernt, wenn man das entsprechende Vokabular in der anderen Sprache braucht. Mein Kollege etwa ist Franzose, hat aber in Deutschland studiert und kürzlich kapituliert, als er einen Beitrag über sein Fach auf Französisch verfassen sollte. Dafür fehlt ihm schlicht das Vokabular. Für einen Fachvortrag in Frankreich musste er es auch nicht erwerben, weil die Konferenz auf Englisch stattfand. Englisch zu lernen ist heutzutage ein Muss und darf auch als dritte oder vierte Sprache nicht erschrecken. Im Gegenteil, auch hier profitiert der Lerner von den Erfahrungen des bisherigen Spracherwerbs. Je mehr (an Qualität), umso besser.
Von Sprechern und Schweigern
In der Sprachwissenschaft unterscheidet man die Rezeption, d.h. die Aufnahme sprachlicher Äußerungen, und die Produktion, welche das eigene Produzieren von Sprachäußerungen bezeichnet. Es gibt stillere und lebhaftere Menschen und so gibt es auch verschiedene Sprachtypen. Es gibt sprechfaulere Menschen und sprechfreudigere – was manche Eltern sehr sprechfreudiger Kinder jetzt mit einem Stöhnen quittieren mögen. Von einer gewissen Sprechfaulheit auf eine fehlende Sprachkompetenz zu schließen ist aber falsch. Vielleicht sind die Anlässe nicht reizvoll genug. Vor allem, wenn Kinder in einer Sprache eine gewisse Sprechfaulheit an den Tag legen, führt das oft zu verfrühten Ängsten bei den Eltern, die nicht selten im Abbruch der zweisprachigen Erziehung enden. Das ist schade, denn ein gewisses Sprachniveau kann – wie gesagt – durch eine Regelmäßigkeit auch weniger Impulse aufrecht erhalten werden. Man sollte dann aber gezielt nach Möglichkeiten suchen, in denen das Kind auf die weniger dominante Sprache angewiesen ist, weil die Adressaten nur die verstehen: also etwa Ferienaufenthalte – ältere Kinder kann man da auch schon mal zu einer verwandten oder befreundeten Familie in die Ferien schicken – oder eine solche Person für eine längere Zeit zu sich einladen, eine Brieffreundschaft oder auch ein Au pair kann helfen. Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Suchen Sie Situationen, in denen das Kind nur mit der anderen Sprache etwas anfangen kann. Erfährt es zudem noch, dass sein Idol Michael Schumacher fließend Deutsch und Italienisch spricht, kann auch das sehr motivierend wirken, mehr Sprachen zu können.
„Es ist gar keine Marmelade da!“, sagt der 20-Jährige am Frühstückstisch. Die Mutter fasst sich ans Herz. „Junge, Du kannst ja sprechen. Warum hast Du denn bisher nie etwas gesagt?“ Der Sohn: „Bisher war ja auch immer Marmelade da.“ Dieser Witz steht sinnbildlich nicht nur für den rezeptiven Sprachtyp, sondern gleichzeitig für ein Phänomen, das man als Überfürsorge bezeichnen muss. Offensichtlich entstand für den Jungen nie die Notwendigkeit, sich überhaupt zu äußern. Gerade die hier zugespitzte Übertreibung macht ein Grundproblem heutiger Erziehung deutlich. Alles, was wir den Kindern abnehmen, erlernen sie nicht unbedingt. Sprechanlässe für das Kind ergeben sich nicht, wenn wir ihnen die Sprecharbeit abnehmen, indem wir etwa Fragen stellen, auf die nur mit „ja“ oder „nein“ geantwortet werden muss. Offene Fragen hingegen ermöglichen ein sich Austauschen. Auch das frühzeitige Erkennen, was das Kind begehrt, kann behindernd wirken. Es ist gut, wenn Kinder immer wieder mal außerhalb der eigenen Familie sind, denn Fremde verstehen die Sprachmarotten der Kleinen ja nicht und es ist beobachtet worden, dass sich die Kinder dann auch mehr anstrengen, deutlicher und kompletter zu sprechen – als nur Ein- bis Wenigwortsätze. Kinder, die frühzeitig auch außerhalb des Elternhauses betreut werden, entwickeln sich sprachlich schneller – egal in welcher Sprache.
Hinweis: Der nächste Teil dieser Artikelreihe erscheint morgen auf MiGAZIN. Zurück zum ersten Teil.
Aber ein zu forsches Vorgehen kann manche Kinder auch abschrecken. Wenn sie etwa ohne Sprachkenntnisse in eine andere Familie oder den Kindergarten kommen, sind ganz andere Herangehensweisen nötig. Mit einfachen und sich wiederholenden Sätzen, die die eigenen Handlungen begleiten, kann man dem Kind die Möglichkeit bieten, sich willkommen zu fühlen und sich auf die andere Ausdrucksweise einzulassen. Auch hier bewährt sich eine Kombination aus Kindsbeobachtung, Selbstbeobachtung und gezieltem Einwirken – etwas das in großen Gruppen schwer zu leisten ist.
Weiter zum vierten Teil dieser Artikelreihe Aktuell Gesellschaft
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Kinder sind Sprachgenies. Sie lernen mehrere Sprachen gleichzeitig, wenn sie nur genügend Sprachanregung bekommen. Ich empfehle allen mehrsprachigen Familien mit ihren Kindern in den Sprache zu sprechen, in der sie sich zu Hause fühlen, denn Sprache übermittelt nicht nur Verstand sondern auch Emotionen.
Natürlich gibt es spezifische Sprachentwicklungsstörungen nicht nur bei einsprachigen Kindern, doch inzwischen gibt es zu ihrer Untersuchung bei mehrsprachigen Kindern aussagekräftige Methoden und, so es notwendig erscheint, auch mehrsprachige Therapieangebote (vgl. Chilla, Rothweiler & Babur (2010): Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen – Störungen – Diagnostik, München: Reinhardt.
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Hallo, Können Sie mir einige Literatur empfehlen, die um das Sprachprestige insbesondere jene die um das Arabisch geht?
Mit freundlichen Grüßen
Hamza