Wochenrückblick

KW 3/11 Sarrazin, Goethe, Großbritannien, Moschee, Böhmer, Integrationsbegriff

Die Themen der 3. Kalenderwoche: Sarrazinische Verteidigungsstrategien. Eine Moschee im Zentrum Münchens. Konservative Selbstkritik in Sachen Einwanderungsland. Zum Vergleich: Großbritannien. Wie sollen Schulen Rücksicht auf muslimische Schüler nehmen? Goethes West-östlicher Diwan. Den Begriff Integration abschaffen?

Von Montag, 24.01.2011, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 23.01.2011, 22:53 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Sarrazinische Verteidigungsstrategie
Wer schon mal über die aggressive Verteidigungsstrategie von Herrn und seit jüngstem auch Frau Sarrazin den Kopf geärgert hat, der kommt bei einem tagesspiegel-Artikel von Lorenz Maroldt auf seine Kosten: „Wie sich die Sarrazins als Opfer inszenieren“. Der sechste von 8 Punkten lautet zum Beispiel:

Falsche Fährten legen, um Punkt 3 noch stärker zu machen, hier durch die Erklärung, wer angeblich hinter dem „Mobbing“ steckt: „Es scheint so zu sein, dass in einer bestimmten Klasse zwei bis drei Eltern türkischer Kinder üble Nachrede gegen mich üben.“ Dadurch massenwirksame Bestätigung von Vorurteilen und Ablenkung von eigenen Schwachpunkten. (Tatsächlich beschwerten sich seit 2001 Berliner Eltern massenweise, fast nur Deutsche).

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Gibt es nun doch bald eine repräsentative Moschee im Zentrum Münchens?
Das Sendlinger Projekt ist gestorben, aber es gibt inzwischen ein neues, größeres und zentraleres Moscheebauprojekt in München. Und damit vermutlich auch ein Tauziehen zwischen der Stadtpolitik, die sich fast einig ist, es zu unterstützen, und einem beträchtlichen Teil der Bürger, die es nicht haben wollen. Noch ist allerdings auch die Finanzierung nicht gesichert.

Die Moschee würde nahe dem Stachus, nahe der Fußgängerzone entstehen, nur wenige Minuten zu Fuß entfernt von der katholischen Frauenkirche, der evangelischen Matthäuskirche und der Synagoge am Jakobsplatz.

Über den aktuellen Stand berichten online Münchner Merkur, die Abendzeitung und der Migrationsblog der InitiativGruppe München.

Die Versäumnisse der Vergangenheit
Maria Böhmer, Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, hat in einem auch sonst beachtenswerten Interview mit dem Bonner Generalanzeiger die schweren Versäumnisse der Unionsparteien in Sachen Integrationspolitik eingeräumt:

Alle, die wir uns heute mit Integration befassen, kämpfen mit den Versäumnissen der Vergangenheit. Diese Versäumnisse sind auf allen Seiten vorhanden. Viele, auch aus meiner Partei, haben doch immer wieder negiert, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Wir gehören heute zu den Ländern mit dem höchsten Migrantenanteil. Mehr noch: Deutschland ist ein Integrationsland.

Wenn Deutschland nun eben doch ein Einwanderungsland ist, dann kann es von Kanada nur lernen. Zum Beispiel:

In Kanada findet das erste Beratungsgespräch meist am ersten Tag statt – noch auf dem Flughafen. Deshalb will ich noch in diesem Jahr Integrationsvereinbarungen in Deutschland, auch an zwei Orten in NRW, erproben …

Unsere Beratungsangebote sind ja freiwillig. Viele Migranten wissen nicht, welche es gibt. Faltblätter bei den Ausländerbehörden reichen eben nicht. Die Menschen müssen von Anfang an begleitet werden. Integration soll ja nicht ein Prozess von unendlicher Dauer sein.

Hat die Sarrazin-Debatte geschadet?
Ja, inzwischen liegen Untersuchungen vor, dass vor der Sarrazin-Debatte ein wirklich gutes Vertrauensverhältnis zwischen den Migranten und der deutschen Bevölkerung gegeben war. Inzwischen wissen wir, dass viele Migranten enttäuscht und verunsichert sind, sich zurückgestoßen fühlen. Vertrauen ist ein hohes Gut. Gerade wenn es um Integration geht. …

Es ist wichtig, dass wir bei der Integration schneller vorankommen, dass wir bei den Migrantinnen und Migranten Vertrauen wieder aufbauen, das in den letzten Monaten eindeutig verloren gegangen ist. Und dass wir auf den drei Großbaustellen – Sprache, Bildung/Ausbildung und Arbeitsmarkt – Boden gut machen.

Zum Vergleich: Großbritannien
Die Debatte in Großbritannien über den Islam läuft ähnlich ab wie bei uns. Ein Beispiel aus dem Guardian:

„I treat the Islamic religion with the same respect as the bubble-gum I scrape off my shoe,“ suggested one contributor to the website of the Richard Dawkins Foundation for Reason and Science …

Another offered the following charming observation: „I don’t care what the good or bad Baroness has to say about anything at all. I give her no credence nor voice. She is a person of faith so in my book a skinwaste.“

I cannot think of a single other group in our society about whom such vile remarks would be in any way socially acceptable.

Dieser letztere Satz in Übersetzung: „Ich kenne keine andere Gruppe in unserer Gesellschaft, der gegenüber solche gemeinen Bemerkungen in irgend einer Weise als sozial akzeptabel angesehen würden.“

„Goethe war Araber“
Unter diesen provozierenden Titel setzt der Schriftsteller Thomas Lehr seinen Essay in der FAZ, in dem er unter anderem den unsachgemäßen Umgang von Necla Kelek und Thilo Sarrazin mit Goethes Westöstlichem Diwan aufspießt.

Die Hauptleistung des „Divans“ ist denkbar antisarrazinisch, denn es ist kein Buch der Spaltung, sondern ein Großwerk der Zusammenführung, des Respekts und des kulturellen Dialogs. Tiefgeistig, albern und humorvoll, abgründig, zynisch und raffiniert, voller Travestien, Anverwandlungen und Amalgamierungen spiegeln sich Ost und West in diesen Gedichten. Der „Divan“ ist ein Weltbuch, ein Glücksfall der literarischen Globalisierung und des wohlwollenden Kulturenvergleichs, der auf der tieferen Einsicht der gemeinsamen universellen menschlichen Wurzeln beruht.

Allein schon im Verstehen- und Nachempfinden-Wollen ist Goethe ein Gigant, wo Sarrazin ein Zwerg ist, der nicht versuchen sollte, einen Weltdichter für seine Polemik dienstbar zu machen. Für meinen Geschmack war Goethe sogar zu sehr Muslim, denn sein Verhältnis zu patriarchalischen Strukturen und zur Unabwendbarkeit der irdischen Macht ist nicht unbedingt das eines Demokraten.

Wie sollen Schulen Rücksicht auf Muslime nehmen? – Beispiel 1
Auf interessante Weise umstritten ist ein Faltblatt des Kultusministeriums Rheinland-Pfalz, das Lehrern und Schulen Ratschläge gibt, wie sie auf muslimische Schüler Rücksicht nehmen sollten, wenn es um Sportunterricht, Klassenfahrten, Sexualunterricht und religiöse Feiertage/Ramadan geht.

Die Welt lässt auch die Gegner zu Wort kommen:

Julia Klöckner, die Spitzenkandidatin der CDU bei der Landtagswahl im März, kritisiert in dem Leitfaden des Ministeriums vor allem die Geschlechtertrennung. „Dies wäre ein Rückschritt in die graue Vorzeit. Das hat nichts mit Fortschritt und Aufklärung zu tun“, sagte Klöckner. Sie empfiehlt der Regierung von Ministerpräsident Kurt Beck, sich um die alle betreffenden und drängenden Themen in der Bildungspolitik zu kümmern.

„Ich denke, dass sich die Landesregierung um den Rekord-Unterrichtsausfall und die Qualität des Unterrichts kümmern muss. Stattdessen legt sie Papiere vor, die – so fürchte ich – zu einer Spaltung der Gesellschaft führen können.“ Auch der Vorsitzende des rheinland-pfälzischen Philologenverbandes, Malte Blümke, kritisierte laut dem Nachrichtenmagazin „Focus“ die Initiative als „anti-aufklärerisch und anti-emanzipativ“. Die Tradition gemeinsamen Lernens werde aufgegeben.

Wie sollen Schulen Rücksicht auf Muslime nehmen? – Beispiel 2
In der Berliner Fichtelgebirge-Grundschule löst man das Problem über Elternbotschafter und Elterncafé. (Bericht: focus)

„Wir haben kaum Probleme mit muslimischen Schülern, die aus Glaubensgründen nicht an Schulveranstaltungen oder bestimmten Fächern teilnehmen können“, sagt Mandera. Alle Kinder besuchen den Schwimmunterricht, nehmen am Sexualkundeunterricht teil und fast alle fahren mit auf Klassenfahrt.

Was nach einer Vorbild-Multi-Kulti-Schule klingt, die beispielhaft zeigt, wie Integration funktioniert, ist vor allem eines: Das Ergebnis harter Arbeit. Eine permanente Anstrengung, mit den Eltern im Gespräch zu bleiben: „Das ist das A und O,“ betont Mandera.

Dafür gibt es an der Grundschule Elternbotschafter, die bei Problemen zwischen Schulleitung und Eltern vermitteln, ein Elterncafé, in dem sich Mütter und Väter austauschen können und regelmäßige Elterngespräche. Auch bei der Ausarbeitung der Schulregeln wurden sie miteinbezogen. „Uns ist wichtig, dass wir alle unterschiedlichen Gruppen in solche wichtigen Entscheidungen einbinden.“

Der Begriff Integration – ist das jetzt ein Kampfbegriff gegen Migranten?
Die Welt berichtet:

Die hessische Landtagsabgeordnete Mürvet Öztürk (Grüne) sagte bei einer Rede auf der „Statt-Integrationskonferenz“ des Deutsch-Türkischen Jugendwerks, das Wort sei seit der von Ex-Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin vom Zaun gebrochenen Debatte um Muslime in Deutschland ein „politischer Kampfbegriff“.

Die Termini „Integration“ und auch „Migrationshintergrund“, wie sie Sarrazin benutze, seien „diskriminierend und rassistisch“, sagte die kurdisch-stämmige Islamwissenschaftlerin Öztürk vor etwa 160 Teilnehmern. Denn Menschen mit Migrationshintergrund seien für den SPD-Politiker ausschließlich Muslime. Deswegen schlug Öztürk vor, den Terminus „Integration“ durch Begriffe wie Vielfalt, gesellschaftliche Teilhabe, Pluralität oder Demokratie zu ersetzen.

Wie sollen diese Begriffe das ersetzen, was der Begriff Integration meint: Eingliederung ohne Preisgabe des Eigenen, der besonderen kulturellen Identität? Wochenschau

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