Historische Rede

Bundespräsident Christian Wulff spricht im türkischen Parlament

MiGAZIN dokumentiert die historische Rede von Christian Wulff im türkischen Parlament. Er ging über die deutsch-türkischen Beziehungen hinaus unter anderem auch auf Integrationsthemen und die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ein.

Mittwoch, 20.10.2010, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 24.10.2010, 23:03 Uhr Lesedauer: 12 Minuten  |  

Ich grüße Sie und das Volk der Türkei herzlich und überbringe Ihnen die guten Wünsche meiner Landsleute. Es ist mir eine große Ehre, als erster deutscher Bundespräsident vor der Großen Nationalversammlung der Türkei zu sprechen. Ihre Einladung zeigt, wie intensiv und eng unsere beiden Völker verbunden sind. Ich freue mich besonders, dass mich bereits mein dritter Staatsbesuch in Ihr Land führt. Dies entspricht dem hohen Stellenwert der Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland.

Die Geschichte
Unsere Beziehungen reichen weit in die Geschichte zurück und haben die Entwicklung unserer Nationen immer wieder bereichert. Der Dialog von Orient und Okzident hat früh Schriftsteller und Künstler beschäftigt. Auch in Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Technik entstand eine enge partnerschaftliche Beziehung. Das Ende des Ersten Weltkriegs führte beide Länder in eine neue Epoche, die Kaiserreich und Sultanat hinter sich ließ und in der das Parlament eine zentrale Rolle spielen sollte.

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„In den Jahren des nationalsozialistischen Regimes fanden zahlreiche Deutsche, die wegen ihrer Überzeugung oder ihrer Herkunft verfolgt wurden, Aufnahme in der Türkei. […] Für die Bereitschaft der Türkei, die Verfolgten aufzunehmen, gebührt Ihrem Land heute noch unser aufrichtiger Dank.“

Jedoch bestand die erste deutsche Republik nur knapp anderthalb Jahrzehnte. Sie mündete mit der Machtübernahme Hitlers in die Diktatur. In den Jahren des nationalsozialistischen Regimes fanden zahlreiche Deutsche, die wegen ihrer Überzeugung oder ihrer Herkunft verfolgt wurden, Aufnahme in der Türkei. Die Verfolgten haben hier ihre Spuren hinterlassen. Als Beispiele nenne ich den Komponisten Paul Hindemith, den Juristen und Rechtssoziologen Ernst E. Hirsch, den Architekten Bruno Taut oder den Musikpädagogen Eduard Zuckmayer. Viele fanden hier an den Universitäten eine neue Betätigung. Sie konnten dadurch auch einen wesentlichen Beitrag zur Fortentwicklung der wissenschaftlichen Qualität leisten. Für die Bereitschaft der Türkei, die Verfolgten aufzunehmen, gebührt Ihrem Land heute noch unser aufrichtiger Dank.

Auch Ernst Reuter, der überaus eindrucksvolle spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, gehörte zu den Verfolgten. Nicht ohne Grund wurde 2006 sein Name gewählt, um durch die „Ernst-Reuter-Initiative“ den interkulturellen Dialog zwischen Deutschland und der Türkei weiter zu fördern.

Die Wirtschaftsbeziehungen
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich unsere Beziehungen in einer beispiellosen Weise intensiviert. Das wird schon durch wenige Beispiele deutlich: Nirgendwo in Europa leben heute mehr Mitbürgerinnen und Mitbürger mit türkischen Wurzeln als in Deutschland. Mein Land ist seit langem wichtigster Wirtschaftspartner der Türkei, an erster Stelle beim Export, an zweiter Stelle beim Import. Viele deutsche Unternehmen haben sich in der Türkei niedergelassen und tragen hier zur wirtschaftlichen Dynamik bei.

Die Türkei war schon zweimal eindrucksvoll Partnerland der Hannover Messe und dieses Jahr Partnerland der Internationalen Tourismusbörse in Berlin. Touristen aus Deutschland stellten auch im Jahr 2009 die größte Gruppe ausländischer Besucher in der Türkei. Sie sind beeindruckt von der türkischen Gastfreundschaft, der Schönheit der Natur und dem Erbe faszinierender Kulturen, dem sie hier begegnen können.

Dieser Überblick zeigt, dass Deutsche und Türken in beiden Ländern Gäste und Gastgeber und immer öfter auch Freunde und Nachbarn geworden sind. Miteinander leben und voneinander lernen gehören zu dieser engen Beziehung. Ganz besonders freue ich mich deshalb darauf, im Rahmen meines Besuchs den Grundstein für die Deutsch-Türkische Universität in Istanbul zu legen. Diese Universität ist ein herausragendes Projekt und ein Leuchtturm der deutsch-türkischen Wissenschaftskooperation. Sie verbindet unterschiedliche wissenschaftliche Traditionen und ermöglicht gerade so gemeinsames Lernen und Handeln.

„Während des Kalten Krieges hat die Türkei jahrzehntelang wesentlich dazu beigetragen, die Freiheit und die Sicherheit in Europa zu schützen.“

Die NATO
Deutschland und die Türkei sind auch durch die NATO eng verbunden und stehen als Bündnispartner füreinander ein. Während des Kalten Krieges hat die Türkei jahrzehntelang wesentlich dazu beigetragen, die Freiheit und die Sicherheit in Europa zu schützen. Heute sehen wir uns den Bedrohungen des 21. Jahrhunderts gegenüber, etwa dem Terrorismus, asymmetrischen Bedrohungen durch militante extremistische Gruppen sowie der Proliferation von Nuklearwaffen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, müssen wir vertrauensvoll gemeinsam handeln.

Mit fast 1.800 ISAF-Soldaten leistet Ihr Land einen signifikanten Beitrag für die Herstellung eines sicheren Umfeldes für den Wiederaufbau in Afghanistan. Regionalpolitisch bemüht sich die Türkei im „Ankara-Prozess“ um eine Kooperation zwischen Afghanistan und Pakistan. Dies schätzen wir sehr. In Pakistan hat die Flutkatastrophe von nie dagewesenem Ausmaß das Land weit in seiner Entwicklung zurückgeworfen. Es ist unser Anliegen, hier massive und schnelle Hilfe zu leisten.

Zypern und Armenien
In der Zypern-Frage hoffen wir auf Bewegung. Jetzt gilt es, die Zypern-Verhandlungen voranzubringen und den Knoten zu durchschlagen. Eine Lösung böte nicht nur die Chance, der wirtschaftlichen Entwicklung der Insel einen Schub zu verleihen. Sie hätte positive Auswirkungen auf die Stabilität und gutnachbarschaftlichen Beziehungen im gesamten östlichen Mittelmeerraum.

Mit Respekt und Sympathie betrachtet Deutschland die Schritte, die die Türkei unternimmt, um die Beziehungen zu ihren Nachbarn positiv zu gestalten. Für die Annäherung zwischen Ihrem Land und Armenien haben Sie unsere volle Unterstützung. Die Normalisierung der Beziehungen wäre ein Schritt in eine gemeinsame Zukunft – mit einer offenen Grenze, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch ermöglicht, bei dem auch umstrittene Themen nicht mehr ausgeblendet werden. Dies wäre auch ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Region. Ich möchte Sie bitten und ermutigen, auf diesem Weg voranzuschreiten.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte das Glück, dass ihr nach dem Zweiten Weltkrieg die ehemaligen Gegner die Hand reichten. Die NATO-Partner standen uns beim Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung zur Seite und bezogen unser Land in das Geflecht europäischer Sicherheit und Zusammenarbeit ein.

Die Verankerung in der NATO und die europäische Integration schufen die Voraussetzungen dafür, einen Aussöhnungsprozess mit unseren Nachbarn zu beginnen. Zuerst im Westen, insbesondere mit Frankreich. Dann, vor allem nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, auch mit unseren Nachbarn Polen und Tschechien im Osten. Mut und politischer Wille waren dazu nötig. Die Überwindung historischer Gegensätze ist nicht möglich, ohne sich mit der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen. Dabei haben wir eins gelernt: Auch wenn es ein mühsamer und manchmal schmerzhafter Prozess ist, es lohnt sich! Nur durch Versöhnung kann eine neue Basis des Vertrauens entstehen. Nur so kann der Weg in die Zukunft aufgezeigt werden.

Israel und Iran
Aus Deutschlands Geschichte ergibt sich eine besondere Verantwortung für Israel. Das Existenzrecht und die Sicherheit des Staates Israel sind für uns nicht verhandelbar. Wir sind davon überzeugt, dass die Sicherheit Israels langfristig nur durch die Schaffung eines demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staates gewährleistet werden kann – eines Staates, der Seite an Seite in Frieden mit Israel existiert. Deshalb unterstützen wir bilateral und im Rahmen der Europäischen Union Präsident Abbas und Premierminister Fayyad beim Aufbau staatlicher Institutionen. Und wir setzen unsere Hoffnungen auf die laufenden Friedensgespräche. Beide Seiten müssen über ihren Schatten springen, um den Verhandlungen zum Erfolg zu verhelfen. Wir alle sollten dabei unsere konstruktive Hilfe leisten.

Ihr Land sieht sich in besonderer Weise den Ambitionen Irans im Nuklearbereich gegenüber. Unsere Zweifel am ausschließlich friedlichen Charakter des Programms bestehen fort. Wir teilen Ihre Sorge, dass es zu einem nuklearen Wettlauf im Nahen und Mittleren Osten kommt, wenn wir hier nicht rechtzeitig Einhalt gebieten. Wir arbeiten aktiv mit unseren Partnern im E3+3-Kreis an einer diplomatischen Lösung.

Gleichzeitig müssen wir aber auch deutlich machen, dass es nun an Iran ist, Bewegung zu zeigen. Der doppelgleisige Ansatz der Resolution 1929 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sieht deshalb zu Recht verschärfte Sanktionen vor, solange Iran die Forderungen der internationalen Gemeinschaft nicht erfüllt. Wir haben mehrfach wiederholt, dass das Dialogangebot an Iran nach wie vor auf dem Tisch liegt.

Türken in Deutschland
Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger türkischer Herkunft stellen die größte Gruppe der Einwanderer in Deutschland. Sie sind in beiden Kulturen zu Hause. Sie sind in unserem Land herzlich willkommen und sie gehören zu unserem Land.

In den 60er Jahren haben die damals so genannten „Gastarbeiter“ den wirtschaftlichen Aufschwung entscheidend unterstützt. Unter persönlich oft schwierigen Bedingungen haben sie gute Arbeit geleistet. Ihr Beitrag verdient hohe Anerkennung und wir sind ihnen zu Dank verpflichtet.

„Niemand muss und soll seine kulturelle Identität aufgeben oder seine Herkunft verleugnen. Es geht darum, die Regeln und Gesetze des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft zu achten und zu schützen.“

Viele Menschen türkischer Herkunft haben inzwischen in Deutschland Wurzeln geschlagen, haben studiert, Unternehmen gegründet und zahlreiche wertvolle Arbeitsplätze geschaffen. Viele sind deutsche Staatsbürger geworden. Das ist ein gutes Zeichen. Ich ermutige alle in meiner Heimat, sich verantwortungsvoll einzubringen. Als ihr aller Präsident fordere ich, dass jeder Zugewanderte sich mit gutem Willen aktiv in unsere deutsche Gesellschaft einfügt.

Einwanderer haben Deutschland vielfältiger, offener und der Welt zugewandter gemacht. Das Zusammenleben in Vielfalt ist aber auch eine große Herausforderung. Es ist wichtig, dass wir unsere Probleme klar benennen. Dazu gehören das Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Machogehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung. Es sind beileibe nicht nur Probleme von und mit Einwanderern! Durch multikulturelle Illusionen wurden diese Probleme regelmäßig unterschätzt. Der offene und respektvolle Dialog ist Voraussetzung für erfolgreiche Integration.

Integration
Niemand muss und soll seine kulturelle Identität aufgeben oder seine Herkunft verleugnen. Es geht darum, die Regeln und Gesetze des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft zu achten und zu schützen. Dazu gehören unsere Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Werte: zu allererst die Menschenwürde, aber auch die freie Meinungsäußerung, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und der religiös und weltanschaulich neutrale Staat.

Es geht auch darum, die deutsche Sprache zu lernen, Recht und Gesetz einzuhalten und sich mit den Lebensweisen der Menschen vertraut zu machen. Wer in Deutschland leben will, muss sich an diese geltenden Regeln halten und unsere Art zu leben akzeptieren. Ich bin Staatspräsident Gül, Premierminister Erdogan und Europaminister Bagis dankbar, die ja allesamt in den letzten Tagen zu Integration aufgerufen haben.

In Deutschland ausgebildete islamische Religionslehrer und Deutsch sprechende Imame tragen zu einer erfolgreichen Integration bei. Es ist notwendig, dass wir fundamentalistischen Tendenzen entgegenwirken. Wir dulden erst recht keinerlei Extremismus. Aber wir dürfen uns auch nicht in eine falsche Konfrontation treiben lassen.

Ebenso wie Deutschland hat die Türkei in den letzten Jahren große Veränderungen erfahren. Sie haben wichtige Entscheidungen getroffen, um Gesetzgebung und Institutionen zu modernisieren. Besonders die jüngsten Verfassungsänderungen haben wir mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Die Türkei nähert sich mit diesen Reformen erneut ein Stück den europäischen Standards an. Ich möchte Sie ausdrücklich ermuntern, auf diesem Weg fortzuschreiten.

Die Türkei kann zeigen, dass Islam und Demokratie, Islam und Rechtsstaat, Islam und Pluralismus kein Widerspruch sein müssen. Ihr Land verbindet ein modernes Staatsverständnis mit einem lebendigen Islam. Nicht zuletzt zeichnet es die Türkei aus, dass sie sowohl nach Westen als auch nach Osten schaut. Mit dem Nahen und Mittleren Osten verbinden Ihr Land Jahrhunderte alte kulturelle und wirtschaftliche Bande. Eine im Westen verankerte Türkei, die eine aktive, stabilitätsorientierte Nachbarschaftspolitik im Osten betreibt, ist als Brücke zwischen Okzident und Orient ein Gewinn für Europa.

„Wir halten an der Entscheidung fest, die Beitrittsverhandlungen in einer fairen und ergebnisoffenen Weise zu führen.“

EU-Beitritt der Türkei
Deutschland hat ein besonderes Interesse an einer Anbindung der Türkei an die Europäische Union. Wir hoffen, dass Sie den Weg nach Europa fortsetzen, der durch Ihren großen Staatsmann Mustafa Kemal Atatürk geöffnet wurde. Wir halten an der Entscheidung fest, die Beitrittsverhandlungen in einer fairen und ergebnisoffenen Weise zu führen. Gleichzeitig erwarten wir, dass die Türkei ihre eingegangenen Verpflichtungen erfüllt.

Unsere Nationen gehören schon seit langem gemeinsam dem Europarat an. Seine Prinzipien, Menschenrechte, Demokratie und Rechtstaatlichkeit, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt sind, binden uns. Dazu gehört auch der Schutz der Minderheiten sowie religiöser und kultureller Pluralismus. Muslime können in Deutschland ihren Glauben in würdigem Rahmen praktizieren. Die zunehmende Zahl der Moscheen zeugt hiervon.

Religionsfreiheit
Gleichzeitig erwarten wir, dass Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht haben, ihren Glauben öffentlich zu leben, theologischen Nachwuchs auszubilden und Kirchen zu bauen. In allen Ländern müssen Menschen die gleichen Rechte und Chancen genießen, unabhängig von ihrer Religion.

Hier in der Türkei hat auch das Christentum eine lange Tradition. Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei. Ich freue mich, an diesem Donnerstag in Tarsus einen ökumenischen Gottesdienst mitfeiern zu können. Ich höre mit großer Begeisterung, dass in der Türkei Stimmen zu hören sind, die mehr Kirchen für Gottesdienste öffnen wollen. Zu dieser Entwicklung möchte ich Sie nachhaltig ermutigen: Die Religionsfreiheit ist Teil unseres Verständnisses von Europa als Wertegemeinschaft. Wir müssen religiösen Minderheiten die freie Ausübung ihres Glaubens ermöglichen. Das ist nicht unumstritten, aber es ist notwendig. Das friedliche Miteinander der verschiedenen Religionen ist eine der großen Zukunftsaufgaben dieser Welt im 21. Jahrhundert. Sie ist bei gutem Willen und Respekt vor der Würde eines jeden Menschen lösbar.

Deutschland und die Türkei haben zusammen viel erreicht. Es ist mein persönliches Anliegen, der deutsch-türkischen Partnerschaft und Freundschaft mehr und mehr Gewicht zu verleihen. Treten wir gemeinsam ein für eine wirtschaftlich starke, innovative, menschliche und dem Frieden verpflichtete Welt im 21. Jahrhundert. Ganz im Sinne Mustafa Kemal Atatürks: „Yurtta baris, dünyada baris“ – „Frieden im Lande und Frieden in der Welt“. Aktuell Politik

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  1. YMelodieY sagt:

    Auf die Rede unseres Bundespräsidenten in Ankara vor dem türkischen Parlament habe ich diesem eine Mail geschickt, mit nac hstehendem Wortlaut:

    Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

    Ihre Rede in der Türkei fand ich diesesmal – im Gegensatz zu allen vorangegangenen Reden – angemessen. Vielleicht hätten Sie auf den Einwand von Aussenminister Gül – Deutschland hätte ja die Türken in den 60iger Jahren nach Deutschland eingeladen – folgendes antworten m ü s s e n (diese Tatsachen sind in den letzten Jahren publik geworden und sicher jetzt fast jedem Deutschen bekannt):

    „Vor ca. Fünzig Jahren wurde “auf sanften Druck der USA” ab 1961 bzw. 1963 ein Anwerbeabkommen für die Türkei (Türkei als gleichberechtigtes NATO-Mitglied) mit der BR abgeschlossen. Für die westdeutsche Wirtschaft waren es die willkommenen billigen Arbeitskräfte. Die Initiative für das deutsch-türkische Anwerbeabkommen ging, was wenig bekannt ist, von der Türkei aus. Die Türkei hatte ein erhebliches Interesse daran, einen Teil der rasch anwachsenden Bevölkerung befristet als Gastarbeiter ins Ausland zu schicken. Neben der Entlastung des eigenen Arbeitsmarktes versprach sie sich zu Recht dringend benötigte Deviseneinnahmen sowie einen Modernisierungsschub durch zurückkehrende Gastarbeiter, die sich entsprechende Qualifikationen angeeignet haben würden.

    Rund 77 Prozent der Erwerbstätigen aus der Türkei waren damals in der
    Landwirtschaft tätig, nur etwa zehn Prozent in der Industrie. “Sowohl
    Anfang der sechziger Jahre als auch zu Beginn der siebziger Jahre war die Türkei darauf angewiesen, Arbeitskräfte ins Ausland zu schicken, da sie nur auf diese Weise die Arbeitslosigkeit im Lande reduzieren und mit Hilfe der regelmäßigen Gastarbeiterüberweisungen ihr hohes Außenhandelsdefizit ausgleichen konnte.

    Man wolle als NATO-Mitglied insbesondere gegenüber Griechenland – mit dem ein Anwerbeabkommen im März 1960 geschlossen worden war – nicht diskriminiert werden, ließ der Vertreter der türkischen Botschaft in Bonn im Dezember 1960 wissen. Die deutsche Bundesregierung hatte zunächst keine Notwendigkeit gesehen, auch noch mit der Türkei oder anderen außereuropäischen Ländern ein Abkommen zu schließen, man wollte sich auf Arbeitskräfte aus Europa beschränken.

    Aus außenpolitischen Rücksichten – die Türkei sicherte die Südost-Flanke der NATO – entschied man sich dann allerdings anders. Noch vor Abschluss des Anwerbeabkommens wurde eine deutsche Verbindungsstelle der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und
    Arbeitslosenversicherung im Juli 1961 im Gebäude des türkischen
    Arbeitsamtes in Istanbul bezogen.

    Der Ansturm sei sofort erheblich gewesen, berichtet die deutsche Botschaft, das Generalkonsulat werde “von türkischen Arbeits- und Auskunftssuchenden geradezu überschwemmt und belagert.” Was bemerkenswert erscheint ist, dass die internen Abstimmungen innerhalb der Bundesregierung mit der Türkei keineswegs abgeschlossen waren. Das Bundesinnenministerium legte – in weiser Voraussicht – Wert darauf, in der Anwerbevereinbarung die Aufenthaltsgenehmigungen jeweils auf maximal zwei Jahre zu beschränken. Es solle “deutlich gemacht werden, dass eine Dauerbeschäftigung türkischer Arbeitnehmer im Bundesgebiet und eine Einwanderung, auf die auch von der Türkei kein Wert gelegt wird, nicht vorgesehen sind.”

    Weiter verlangte das Innenministerium, alle Verweise auf einen möglichen Familiennachzug (wie er u. a. in der Anwerbevereinbarung mit Griechenland ausdrücklich enthalten war, zu streichen. Beiden Forderungen wurde – zunächst – entsprochen. So hieß es in der Fassung des Jahres 1961: “Die Aufenthaltserlaubnis wird über eine Gesamtaufenthaltsdauer von 2 Jahren hinaus nicht erteilt.” Zudem fehlte im Übereinkommen mit der Türkei jeglicher Hinweis auf möglichen Familiennachzug.

    Dass die Anwerbevereinbarung mit der Bundesrepublik Deutschland auf Initiative und Druck der türkischen Regierung zustande kam, bleibt meist unerwähnt. Als Grund für die Arbeitsmigration wird auf den Arbeitskräftebedarf der westdeutschen Wirtschaft verwiesen.

    Das Interesse in der Türkei an einer Zuwanderung war seit Beginn der 1960er Jahre groß und blieb es über die Jahrzehnte. Aufgrund des starken Bevölkerungswachstums überstieg das Arbeitskräfteangebot den Bedarf der einheimischen Wirtschaft erheblich. Die Förderung des “Exports” von Arbeitskräften wurde von der türkischen Politik seit den 1960er Jahren als “eine wesentliche beschäftigungspolitische Maßnahme eingesetzt.“

    Hätten Sie diese geschichtliche Tatsache Herr Gül in Erinnerung gebracht, ich glaube, die Vertreter der Türkei wären – zumindest – irritiert gewesen……….

    Wie soll es denn nun weitergehen? Macht sich die heutige Politik von den damaligen Ereignissen endlich frei und entscheidet – mit der Deutschen Wirtschaft – endlich einmal für das Deutsche Volk und nicht dagegen?

    Mit freundlichem Gruss

    B. B……., 603.. Frankfurt am Main

  2. Eckart sagt:

    … meinen Sie : „Nur wer die Vergangenheit kenn, kann die Gegenwart begriefen und die Zukunft gestalten“ -wird hier oder anderswo verfangen? Hier (konkret hier!) ist Optimismus völlig fehl amPlatze … :-(

    Aber sei´s drum – das hilft uns nun aber jetzt so ganz konkret auch nicht weiter, da m.E. das Bewußtsein völlig fehlt, daß ´man‘ (bzw. die (Ur-)Eltern sich höchstselbst und bewußt entschieden haben in DE zu bleiben (festgehalten wurden sie ja wohl keiner, oder?) , dann jedoch den zwangsläufig folgenden Schritt – die Integration (aus ganz persönlichem Interesse!) aktiv zu starten – unterlassen hat … Zumindest läuft das bei der ‚klassischen‘ Migration und weltweit so – warum funktionierte das hier nicht?
    Sicherlich war die dt. Politik ebenso über einen unentschuldbar langen Zeitraum widersprüchlich, aber wenn ich den festen Entschluß gefaßt hätte hier zu bleiben, würde ich doch versuchen mich aktiv in die Gesellschaft ‚einzubetten‘ damit man einfach ‚vergißt` mich zurückzuschicken… ;-)) Oder stelle ich mir das zu einfach vor, wie z.B. die Aufenthaltstitel gestaltet waren ? Mußte man ggf. ständig mit einer Repatriierung rechnen?
    Aber jetzt quasi zu sagen – IHR MÜSST uns integrieren, weil ihr uns hier nicht mehr rausbekommt – ist das der richtige Stil? Ich weiß ja nicht …
    Ist das ggf. eine Mentalitätsfrage (u.a. Toleranz=Schwäche) ?
    Wenn ich als nicht-Autochthoner immer und überall sofort erst mal laut artikuliere, was mir ‚zusteht‘, klappt´s dann wirlich besser mit dem Nachbarn?? Hätten ‚wir´ damit z.B. in TR Erfolg?? Hier herrscht wohl ein grundsätzliches kulturelles Mißverständnis, daß es eben hier üblich ist, sich Respekt zu *erwerben* und Toleranz zu *zeigen* – nicht beides vorab zu FORDERN.
    Ist schon eine ziemlich verfahrene Sitauation mit verhärteten Fronten und ob diese ganzen Verbände da tatsächlich i.S. der Migranten agieren …

  3. delice sagt:

    @YMelodieY

    Ich finde schon, dass Deutschland wohl zu seinem Glück von uns gestoßen wurde. Wie kann man sich denn auch erklären, warum wir gerade jetzt so 2,8 Milionen hier sind und hätten auch mehr sein können, wenn Kohl nicht wenigen Geld angeboten hötte für die Rückreise in die Türkei. Es waren doch die besseren und fleißigeren Arbeiter!

  4. YMelodieY sagt:

    @delice

    ich habe ihnen schon in einem anderen Thread geschrieben, dass die Anfänge der Migration – auch die der Muslime – in Deutschland erst mal positv gesehen wurde.

    Wenn man aber die 50 Jahre überblickt, muss die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland leider feststellen, dass zwar in den 60iger bis in die Anfänge der 80iger Jahre die Immigration zum Vorteil Deutschlands war, heute aber die Nachteile überwiegen. Es wurde einfach versäumt, den Menschen, die hier bleiben wollten zu sagen, dass zum Zusammenleben mehr gehört als „Zusammenarbeiten“. Leider ist es auch so, dass in der Minderheitsgesellschaft die Arbeitlosigkeit höher ist……. Die Alimentierung dieses Teils der Gesellschaft kostet Deutschland soviel Geld, dass für andere Leistungen an die Mehrheitsgesellschaft wenig übrig bleibt.

    Haben Sie das auch mal bedacht, dass man einen Euro nur einmal ausgeben kann (oder man muss Geld drucken ohne Ende, was einer Geldentwertung gleichkäme)?!

  5. Deutschland ist leider nicht weltanschaulich neutral!

    Bundespräsident Wulff fordert von Ausländern zu respektieren, dass Deutschland ein weltanschaulich neutraler Staat sei.
    Diese Forderung wäre sicher in Ordnung, wenn Deutschland wirklich weltanschaulich neutral wäre.

    Aber die Realität sieht leider völlig anders aus, da religiöse Weltanschauungen (speziell die christliche) menschenrechtswidrig sogar extrem bevorzugt werden:
    Schon in der Präambel des Grundgesetzes gibt es Bezug auf einen „Gott“ – statt sich nur auf die Menschenrechte zu beziehen.
    Weitere krasse einseitige Parteilichkeiten sind zum Beispiel:
    „Kirchensteuer“ – statt Einzug der Mitgliedsbeiträge durch die Kirchen selbst, „Religionsunterricht“ an öffentlichen Schulen – statt weltanschaulich neutralem Ethik-Unterricht, außerdem die vielen christlichen staatlichen Feiertage – statt weltanschauungsneutrale Feiertage.

    Bevor Wulff eine an sich sehr begrüßenswerte Forderung an Migranten richtet, sollte er erst einmal überlegen und prüfen, ob diese Forderung in seinem eigenen Land überhaupt erfüllt wird!

  6. YMelodieY sagt:

    @ Reiner Moysich

    Ihren Beitrag möchte ich nicht kommentieren, nur soviel:

    Zu Deutschland gehören die Christen
    Zu Deutschland gehören die Juden
    Zu Deutschland gehören a u c h die Atheisten
    und in der Neuzeit erst
    Muslime, wenn sie sich denn zu Deutschland zugehörig fühlen.

    YMelodieY

  7. YMelodieY sagt:

    Hallo Eckart
    „… meinen Sie : “Nur wer die Vergangenheit kenn, kann die Gegenwart begriefen und die Zukunft gestalten” -wird hier oder anderswo verfangen? Hier (konkret hier!) ist Optimismus völlig fehl amPlatze … “
    __________________________________________________________

    Ja, das mit der Vergangenheit – und zwar die ganze – meinte ich. Wenn hier die Nazi-Keule geschwungen wird, aber andererseits von „Aufbauarbeit“ von Minderheiten schwadroniert wird, „schwillt mir der Kamm“.

    Ehrlicher wäre es, wenn man schon von Ursache und Wirkung schreiben würde und dann mit der Ursache bitteschön anfangen.

    Bei der Aufbauarbeit wird nämlich immer vergessen, die „Trümmerfrauen“ zu erwähnen, die nach 1945 Deutschland in Ermangelung von Männern (die entweder gefallen oder in Gefangenschaft waren) die Aufbauarbeit im wesentlichen alleine geleistet haben.

    Was nach 1960 an Personalbedarf von Nöten war, hatte mit Aufbauarbeit aber auch überhaupt nichts zu tun.!!!!!! Das war die Wirkung, nach der Aufbauarbeit!!!

    Der deutsche „Michel“ brauchte einfach Unterstüzung und Hilfe, die anstehenden Arbeiten im Konsens mit anderen Völkern zu meistern.

    Was ich sehr wichtig finde, um die immer noch stattfindenden Debatten, welche Nation nun Deutschland am meisten geholfen hat, auf ein Mass des erträglichen zu senken ist, den Eingewanderten zu sagen, dass sie zwar am Aufstieg Deutschlands beteiligt waren, aber sicher nicht umsonst in Deutschland gearbeitet haben. Ausserdem waren die Lebensbedingungen mancher Bevölkerungsteile in den 60iger Jahren besser, als in Ihrem Ursprungsland.

    Was mich also umtreibt ist, Den Eingewanderten mitzuteilen, dass die Konten „Aktiva“ und „Passiva“ mehr als ausgeglichen sind.

    Der ersten Generation der Einwanderer möchte ich hiermit noch ein ganz grosses Kompliment für ihren Einsatz in Deutschland machen, speziell auch den türkischen Migranten. Sie haben zu Recht es verdient, auf „ihre Alten Tage“ hier in Würde und ohne Angst (vor was eigentlich?) zu leben.

    Den nachfolgenden Generationen spreche ich aber den gleichen Einsatz und die Begeisterung hier in Deutschland mitzuwirken, teilweise ab.

    Wären die Verhältnisse des meist positiven Zusammenlebens wie in den 60igern und 70iger Jahren gleichwertig, hätten wir nicht die ellenlangen und manchmal auch fruchtlosen Diskussionen, was von den Einwanderern erwartet werden kann und wird.

    Wir können also eine Zäsur machen und zusammen neu anfangen, was hindert uns daran?

    YMelodieY

  8. Lutz sagt:

    Moderation: Bitte keine Links zu externen Seiten, die kein vollständiges Impressum beinhalten. Danke!

    Was Hr. Wulff mit „Integration“ und „Aussöhnungsprozess“ und „Vertrauen“ beschreibt, kann ich sehr unterstützen – wie ja auch viele Mitmenschen andere verschiedenster Glaubensrichtungen mit mir. Diese Vorschläge sind sogar mit Hilfe theoretischer Analysen plausibel, siehe Essay […]

    Aber wir müssen es schon jeden Tag selber anpacken. Nur – die Politik muss statt Worten auch konkrete Unterstützung anbieten, z.B. soziale Treffpunkte ermöglichen statt die Finanzierung derselben zu kürzen (ich denke an Jugendzentren und deren Unterstützung mittels Sozialarbeitern). Die Kürzungen erfolgen ja meist indirekt über kommunale Finanzprobleme sich entsprechend auswirkt. Dabei will ich nicht die positiven Beispiele von Städten ausgrenzen, die es trotzdem tun. Aber vielleicht könnnten ja die Banker das mal subventioneren? Immerhin verdienen sie wieder gut, oder?

    Packen wir es an.

  9. Ghostrider sagt:

    @Rainer Moysich

    Kleiner Nachtrag von mir. Frankreich wird z.B. überwiegend von Katholiken bewohnt. Trotzdem ist in Frankreich Kirche und Staat getrennt. Im Klartext, wer in Frankreich arbeitet bekommt von seinem Lohn/Gehalt auch keine Kirchensteuer abgezogen. Ganz einfach, weil es in Frankreich keine Kirchensteuer gibt.
    Die kirchlichen Institutionen dort, sind ausschließlich auf Spenden angewiesen. Klar, dass sehr gläubige Franzosen sich mit Spenden einen sicheren Platz im Paradies, in der ersten Reihe für die Zeit nach ihrem irdischen Ableben erkaufen.

    Na ja, bei meinem Lebenswandel wäre ich schon mit einem Platz in der hintersten Reihe sehr zufrieden;-)))

    Wie es in den anderen Ländern der EU mit der Kirchensteuer bestellt ist, weiß ich nicht, da ich kein Christ bin.

    Ghostrider

  10. Pragmatikerin sagt:

    Wulffs Rede: Integration heißt nicht, “ein Volk” zu sein

    Bundespräsident Wulff hat unrecht, wenn er Deutsche aller Herkunft über einen Kamm schert. Zusammenwachsen braucht Zeit.

    „Ja – wir sind ein Volk.“ Es sollte mehr sein als eine literarische Wendung, als der Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede am 3.Oktober den Satz der Aufbegehrenden von 1989 auf das Deutschland im Jahre 2010 übertrug. Aber sind wir, die Bürger dieses Staates, tatsächlich alle ein Volk?

    Vor 20 Jahren zog es die Bürger im Osten und Westen Deutschlands zusammen, weil sie sich trotz über 40-jähriger Trennung nach wie vor als ein Volk empfanden – geprägt durch dieselbe Sprache, dieselbe Kultur, dieselbe Literatur, dieselbe Geschichte, auch immer noch durch ähnliche Mentalitäten. Familien lebten beidseits der Mauer, es gab Kontakte, wenn auch mehr Reisen von West nach Ost als von Ost nach West, es gab gemeinsame Sorgen um den Frieden und die Atomkraft und immer mehr auch um die Freiheit.

    Die Losung „Wir sind ein Volk“ konnte blitzschnell die ostdeutschen Straßen erobern, weil sie auf wunderbare Weise zwei Dinge zusammenfasste: den Wunsch zum Zusammenleben aller Brüder und Schwestern in Deutschland Ost und Deutschland West, also die Vereinigung des ethnisch deutschen Volkes, und den Wunsch zum Zusammenleben in einer gemeinsamen Nation, also die Vereinigung als Staatsvolk.

    Kein Volk, sondern Staatsvolk

    Wie wir nach 20 Jahren sehen, wächst zwar zusammen, was zusammengehört, aber selbst zwischen Deutschen Ost und West ist der Prozess noch immer mit Reibungen aufgrund unterschiedlicher Prägungen, gegenseitigen Kränkungen und vielen Missverständnissen verbunden. Um wie viel komplizierter wird der Prozess erst sein, wenn Gruppen zusammenwachsen sollen und wollen, die keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Geschichte, keine gemeinsame Religion, nur begrenzt gemeinsame Werte und nur begrenzt gemeinsame Literatur besitzen?

    Die eben kein Volk bilden, sondern ein Staatsvolk, eine Gesellschaft; gleich als Bürger, aber ungleich in Herkunft, Kultur oder Religion? Wer Türken, Polen, Russen, Juden, Iraker, Italiener, Deutsche zu einem Volk erklärt, weil sie deutsche Staatsbürger sind, verkleistert gerade das, was uns augenblicklich so viele Probleme bereitet und gelernt werden will: das von allen verbindlich zu fordern, was unsere gemeinsame staatsbürgerliche Grundlage ist, und das zu respektieren und auszuhalten, was die jeweils anderen an eigener Kultur und Religion neben uns leben.

    Deutschland hat in seiner Geschichte keine so langen und vielfältigen Erfahrungen im Umgang mit Menschen anderer Herkunft gesammelt wie unsere mitteleuropäischen Nachbarn, deren Bürger teilweise zu einem Drittel nationalen Minderheiten angehörten. Deutschland heute ist unsicher im Umgang mit den Fremden, die in den letzten 50 Jahren zu uns gekommen sind, und schwankte lange zwischen völliger Abgrenzung beziehungsweise Ignoranz und illusionärer Multikulti-Haltung. Ob „sie“ und „wir“ zu einem Volk zusammenwachsen, kann sich erst über Generationen entscheiden. Aber ob wir uns hier und heute als ein Staatsvolk verstehen lernen, das sich trotz ethnischer, sprachlicher, kultureller, religiöser Unterschiede auf eine gemeinsame staatsbürgerliche Grundlage verständigen kann, davon hängt der innere Frieden in unserem Land ab.

    Radikaler Islam gehört eben nicht zu Deutschland

    Zu Deutschland, erklärte Christian Wulff, gehörten zweifelsfrei das Christentum und das Judentum. Zu Deutschland, erklärte Wulff weiter, gehöre inzwischen aber auch der Islam. Wie das passiert sein soll, bleibt sein Geheimnis. Wenn von der christlich-jüdischen Tradition in Deutschland und Europa die Rede ist, ist damit eine weit über die Religionen hinausweisende Werte-Grundlage gemeint, die auch von nicht religiösen Staatsbürgern geteilt wird.

    Wulff warnt vor Spaltung in Deutschland
    Zweifellos gehören inzwischen auch Muslime zu Deutschland, aber einen Islam, wie er sich uns oft präsentiert, lehnen wir ab: mit der Scharia, der Unterdrückung der Frau, mit seiner Verachtung für Freiheiten, die wir schätzen. Ein solcher Islam darf nicht in die ethisch-moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft eingehen.

    Aus Angst und Hilflosigkeit haben wir das Fremde zunächst gänzlich ignoriert, sodass Parallelgesellschaften entstanden. Aus Angst und Hilflosigkeit soll das Fremde jetzt so schnell wie möglich integriert werden, damit es kein Fremdes mehr bleibt. Dabei zeigt ein Blick auf Einwanderungsgesellschaften, dass Fremdes und Eigenes lange nebeneinander bestehen, dass Übergänge von einer zur anderen Identität fließend sind, sich über viele Generationen hinziehen können und es sogar zu Renationalisierungen kommen kann wie auf dem Balkan. Ob und wie schnell sich ein Italiener, Pole oder Türke in Deutschland als Deutscher verstehen möchte, kann letztlich niemand anders entscheiden als er selbst. Es gibt auch Auslandsdeutsche, die sich noch nach Generationen als Deutsche fühlen, was sie nicht von der Loyalität gegenüber dem Staat entbindet, in dem sie leben.

    Es hat keinen Sinn, die kulturellen und ethnischen Differenzen in modernen Gesellschaften einzuebnen und die Konflikte schönzureden, die sich daraus ergeben. Dann wird weiter jener Unmut geschürt, der dem Sarrazin-Buch zu seinem Erfolg verholfen hat. Wir hier in Deutschland müssen nicht ein Volk sein, um als Staatsbürger zu einem Konsens zu finden.

    Pragmatikerin