60 Jahre Aktion Sühnezeichen

„Antisemitismus ist in der Mitte der Gesellschaft zu finden“

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) feiert ihr 60-jähriges Bestehen am kommenden Wochenende mit mehreren Veranstaltungen. Einer der beiden ASF-Geschäftsführerinnen, Dagmar Pruin, im Gespräch über die Auseinandersetzung mit den Folgen der nationalsozialistischen Verbrechen sowie über den wieder offen zutage tretenden Antisemitismus. Von Christine Xuân Müller

Freitag, 25.05.2018, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 28.05.2018, 14:16 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Vor 60 Jahren wurde das Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) gegründet. Was hat die Initiative jungen Leuten heute zu sagen?

Dagmar Pruin: „Dass unbewältigte Gegenwart an unbewältigter Vergangenheit krankt, dass am Ende Friede nicht ohne Versöhnung werden kann, das ist weder rechtlich noch programmatisch darzustellen. Aber man kann es einfach tun!“ Mit diesen Worten leitete Lothar Kreyssig den Gründungsaufruf von ASF ein. Man kann es weiter tun und das ist es, was ASF auch heute ausmacht. Junge Menschen setzen sich mit der Geschichte auseinander und übernehmen zeichenhaft Verantwortung durch ihr konkretes Tun. Und sie engagieren sich vor dem Hintergrund der Geschichte gegen Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.

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Wie sieht das Engagement genau aus?

Dagmar Pruin: Wir senden junge Freiwillige in die Länder, die am stärksten unter der nationalsozialistischen Herrschaft gelitten haben, um dort Freiwilligendienste zu leisten, wo diese gebraucht und auch gewollt sind. Dadurch werden junge Menschen befähigt, sozial und politisch zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Konkret arbeiten wir etwa mit Holocaust-Überlebenden und ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern.

Im Bereich der politischen Bildung leisten wir Arbeit in Gedenkstätten oder auch in anderen Bildungseinrichtungen. Ebenso arbeiten wir mit Menschen mit Behinderungen und sozial Benachteiligten, wie etwa mit Obdachlosen oder geflüchteten Menschen. Unsere jährlich 25 Sommerlager sind ein weiterer Bereich. So haben wir in St. Petersburg Häuser restauriert von Menschen, die damals die Leningrader Hungerblockade erlebt haben und dort Wohnungen renoviert und Fenster gestrichen Es gibt also eine große Bandbreite von dem, was unser Verein tut. Seit 1958 haben sich mehr als 10.000 Teilnehmer allein bei den einjährigen Freiwilligen engagiert. Hinzu kommen die Teilnehmer der Sommerlager. Mit den langfristigen Freiwilligendiensten sind wir in insgesamt 13 Ländern aktiv. Von unseren Freiwilligen kommen derzeit 140 aus Deutschland, 40 sind internationale Freiwillige.

Anfangs haben sich vor allem junge Männer bei Sühnezeichen engagiert. Was hat sich seit der Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch dem Wegfall des Ersatzdienstes für ASF geändert?

Dagmar Pruin: Das war tatsächlich eine Veränderung, da mit Aussetzung der Wehrpflicht eine Gruppe ausfiel. Früher hatten wir mehr Männer als Freiwillige, jetzt sind es mehr Frauen. Wir haben genug Bewerber und Bewerberinnen, aber wir könnten immer auch noch weitere gebrauchen und freuen uns darüber!

Sie wählen ihre Freiwilligen genau aus. Auf was legen Sie dabei Wert?

Dagmar Pruin: Ja, es ist ein intensives Bewerbungsverfahren. Wir bieten unseren Freiwilligen aber auch eine intensive Betreuung in den einzelnen Ländern, mehr als andere Freiwilligendienste. Das müssen wir aber auch, denn die Projektbereiche, die ich beschrieben habe, sind keine einfache Arbeit, die einen nur unbekümmert sein lässt. Wir möchten, dass bei den Bewerbern ein ehrliches Interesse da ist, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Was wichtig ist zu wissen: Unsere Freiwilligen werden in ihre Projekten wirklich gebraucht und drehen nicht einfach nur Däumchen, sondern werden als Kolleginnen und Kollegen geschätzt.

Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus – das sind leider wieder ganz aktuelle Themen. Wie gehen Sie mit den jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen um?

Dagmar Pruin: Wie setzen uns auf unterschiedlichen Ebenen damit auseinander. Zum Beispiel befassen wir uns in unseren Predigthilfen mit dem Thema Anti-Judaismus in der christlichen Theologie. Wir arbeiten immer wieder durch, was heißt das für die konkrete Predigt, was heißt das für den Umgang mit dem Judentum in unseren Texten und unser konkretes Handeln? In der Bundesarbeitsgemeinschaft „Kirche und Rechtsextremismus“, deren Träger wir sind, arbeiten wir zu den Themen Antisemitismus, Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit an der Schnittstelle zwischen Kirche und Gesellschaft. Unsere vielen Freiwilligen, die in jüdischen Projekten arbeiten, erleben Begegnungen und werden für die Fragen des Antisemitismus sensibilisiert.

Ist ihrer Erfahrung nach der Anteil der Menschen mit antisemitischen Ressentiments in Deutschland wieder gewachsen?

Dagmar Pruin: Antisemitismus in unserem Land ist nichts Neues und war auch nicht in den letzten Jahrzehnten verschwunden. Umfragen zeigten immer, dass etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung antisemitische Ansichten haben. Wer hier nur auf Migrantinnen und Migranten schaut, verkennt schlicht unser Problem. Neu ist, wie ungezwungen und ungestört sich der Antisemitismus wieder Bahn bricht und wie deutlich er auch in der Mitte der Gesellschaft zu finden ist. Menschen benennen heute unerschrockener, was sie vorher nur im Herzen getragen haben. Und ich erlebe, dass wir eine Politik der Tabubrüche haben und diese gesellschaftlich akzeptierter werden.

Welche neuen Projekte gibt es bei ASF, die auch aktuelle Veränderungen einbeziehen?

Dagmar Pruin: Zunächst einmal ist es natürlich die Arbeit, die wir schon immer tun, die wirksam ist auch angesichts der gegenwärtigen Situation. Ein neueres Projekt in den letzten Jahren ist „Germany Close-Up“, ein deutsch-amerikanisch-jüdisches Begegnungsprogramm. Dabei kommen junge amerikanische Jüdinnen und Juden nach Deutschland. Das ist auch eine starke transatlantische Arbeit, die in der heutigen Zeit notwendig ist. Zudem haben wir den Bereich „Geschichten aus der Migrationsgesellschaft“, wo wir in Projekten mit Frauen aus der Roma-Community, aber auch mit jungen Geflüchteten gearbeitet haben. Mit ihnen sind wir an die Orte der nationalsozialistischen Vernichtung gegangen und dabei ins Gespräch gekommen. In den Jahren vorher haben wir etwa Stadtteilmütter in Berlin-Neukölln und Holocaust-Überlebende ins Gespräch gebracht. Ein weiterer neuer Arbeitsbereich ist die schon erwähnte Bundesarbeitsgemeinschaft „Kirche und Rechtsextremismus“. ASF ist durch diese neuen Projekte tatsächlich in den vergangenen fünf Jahren stark gewachsen.

Gedenkstättenpflichtbesuche mit jungen Flüchtlingen – das war zuletzt auch eine politische Forderung, als Maßnahme gegen wachsenden Antisemitismus. Was halten Sie davon?

Dagmar Pruin: Wachsender Antisemitismus ist nicht nur eine Frage der Einwanderungsgesellschaft, sondern auch eine Frage der deutschen Mehrheitsgesellschaft! Und daher geht es darum, wie wir gemeinsam mit allen Menschen, die bei uns leben, dieser Herausforderung begegnen. Wenn die Gesellschaft sich verändert, müssen sich auch die pädagogischen und politischen Antworten verändern. Ich glaube, es ist wichtig, dass jede Generation ihre eigenen Erfahrungen macht mit den Gedenkstätten, die heute ja auch von vielen ehemaligen ASF-Freiwilligen mitgestaltet werden. Da kann man keine einfachen Lösungen vorschreiben, sondern man muss Räume schaffen, wo eigene und gemeinsame Erfahrungen gemacht können. Wichtig ist, dass die Politik das ernst nimmt und mehr investiert sowohl in die schulische Bildung als auch in die außerschulische Bildung. Und wichtig ist ein breites Engagement der Zivilgesellschaft. (epd/mig) Aktuell Gesellschaft Interview

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  1. karakal sagt:

    Die Zeit der Sühne ist vorbei. Die materielle Schuld an den Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer der unpassenderweise „Holocaust“ genannten planmäßigen Vernichtung von Juden und anderen Minderheiten durch die Nazis ist längst beglichen – sofern sich derartige Verbrechen überhaupt materiell begleichen lassen. Von der Generation der Täter ist kaum noch jemand am Leben, und die Nachkriegsgenerationen können keine moralische Schuld dafür übernehmen, sofern sie sich von diesen Verbrechen distanziert haben, wie es in Bibel heißt: „In jenen Tagen wird man nicht mehr sagen: Die Väter haben unreife Trauben gegessen, und die Zähne der Söhne sind stumpf geworden“ [Jeremias 31,29].
    Für die Nachkommen der Opfer hat eine neue Rechnung begonnen, und es ist eigentlich widersinnig, daß sie weiterhin vom Opferbonus profitieren sollen. Das gilt insbesondere für diejenigen unter ihnen, die in Israel leben und das Unrecht mittragen, das das zionistische Regime an den Palästinensern begeht.