Bade, Klaus J. Bade, Prof. Bade, Klaus Bade
Prof. Dr. Klaus J. Bade, Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) 2008-2012

Bades Meinung

Vielfältige Ausbeutungsmöglichkeiten

Es gibt keine weltweite 'Flüchtlingskrise', sondern eine Weltkrise, die Fluchtbewegungen erzeugt. Wenn man diese Weltkrise bekämpfen will, muss man sich nicht nur um die Begrenzung ihrer Folgen, sondern auch um die Analyse ihre Ursachen kümmern und dazu weltwirtschaftliche Systemfragen stellen.

Von Dienstag, 21.07.2015, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 22.07.2015, 20:35 Uhr Lesedauer: 11 Minuten  |  

Die weltweiten Fluchtbewegungen haben eine nie gekannte Dimension erreicht, die selbst diejenige der Fluchtbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg übertrifft: Die UNHCR-Daten erfassten im Dezember 2014 weltweit 59,5 Millionen Menschen, 16 Prozent mehr als im Jahr zuvor (51,2 Mio.): „Im Jahr 2014 wurden täglich durchschnittlich 42.500 Menschen zu Flüchtlingen, Asylsuchenden oder Binnenvertriebenen im eigenen Land.“ 1

Die Ursachen der weltweiten Fluchtwanderungen reichen zum Teil weit zurück in die Geschichte und sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Europa haben sie historisch viel mit der weltweiten Kolonialexpansion, ihren willkürlichen Grenzziehungen, den Bevorzugungen und Benachteiligungen einzelner Ethnien und anderen Strategien des ‚Divide et impera‘ (‚Teile und herrsche‘) zu tun. Die Briten zum Beispiel fassten die ‚Rache der Kolonialgeschichte‘ in die Worte ‚The Empire strikes back‘ (‚Das Imperium schlägt zurück‘) und glaubten Zuwanderer und Flüchtlinge aus den ehemaligen Kolonialgebieten sagen zu hören: „We are here because you were there‘ (‚Wir sind bei Euch, weil ihr bei uns wart‘).

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Historische Ursachen von aktuellen Problemen kann man nicht rückwirkend korrigieren. Deshalb sollte man bereit sein, sich wenigstens die Last der Folgen zu teilen.

Wenn die Weltgesellschaft eine lebenswerte Zukunft behalten soll, dann genügt aber es nicht, über Geschichte zu klagen und sich die Last ihrer Folgen zu teilen. Es gilt vielmehr anzuerkennen, dass die armutsstabilisierende und fluchttreibende Ausplünderung der ‚Dritten‘ und ‚Vierten Welt‘ durch den menschenfeindlichen ‚Raubtierkapitalismus‘ (Helmut Schmidt) insbesondere von multinationalen Konzernen, aber auch von Hedgefonds-‚Heuschrecken‘ (Franz Müntefering) zum Teil noch die Ausbeutungsmechanismen der Kolonialgeschichte übersteigt, denn:

Weit jenseits der oft mörderischen Ausbeutungssysteme der Frühen Neuzeit trug die europäische Kolonialgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert – von Ausnahmen wie der barbarischen Raubkolonie Belgisch-Kongo abgesehen – bereichsweise Züge einer begrenzten, wenn auch ganz von den Interessen der Kolonialmächte geleiteten ‚Entwicklungsgeschichte‘. Deren Folgen habe ich vor Jahrzehnten, in meinen wissenschaftlichen Anfängen als Kolonialhistoriker, in den bald auch von anderen Autoren übernommenen Begriff der kolonialen Dialektik gefasst. Sie bestand für mich darin, dass die Kolonialherrschaft mit ihren zur Förderung der eigenen Interessen implantierten Entwicklungsprogrammen am Ende die Grundlage für ihre eigene Aufhebung im Zeitalter von Dekolonisierung und Befreiungskampf schuf.

Für die profitorientierten Investitionen in den weltweiten Ausbeutungskreisläufen des real existierenden Raubtierkapitalismus steht das heute nicht zu erwarten. Umso selbstverständlicher sollte es sein, sich einerseits im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten – und sei es auch nur durch Konsumverweigerung gegenüber einschlägigen Produkten – dagegen aufzulehnen, andererseits das menschliche Treibgut aus den Krisenzonen der Welt aufzunehmen und für eine anständige Behandlung der Flüchtlinge und Asylsuchenden einzutreten.

Das Letztere wird auf dieser Seite der Welt aber nur möglich sein, wenn es auch zu einer grundlegenden Reform des inhumanen und überdies dysfunktional gewordenen Asylrechts in Europa kommt. Und damit nicht genug, denn diese Reform muss noch von anderen Kurswechseln begleitet werden:

Das gilt zum Beispiel für die wachstumsblockierende und krisentreibende EU-Handels- und Agrarpolitik gegenüber den Herkunftsländern der irregulären und oft unfreiwilligen Zuwanderungen nach Europa. Und es gilt im Blick auf das immer engmaschiger gewordene Netz von neokolonialen Strukturen, das über Afrika gebreitet wurde und vielfach aus doppelter Ausbeutung besteht – von außen durch die verschiedensten Geschäftsinteressen und von innen durch mit diesen Interessen kooperierende korrupte Führungseliten.

An diesem neokolonialen Netz weben auf deutscher Seite zum Beispiel die ›Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft‹ (DEG) in Köln, eine Tochter der staatlichen ›Kreditgesellschaft für Wiederaufbau‹ (KfW), internationale Konzerne und diverse Einzelunternehmen, vom Ölmulti in Nigeria bis zum deutschen Rosenproduzenten in Kenia. Besonders wirksam sind in dieser Hinsicht die in Kooperation mit korrupten Regimen etablierten ‚Exportproduktionszonen‘ (EPZ) in oft bis dahin autark funktionierenden agrarwirtschaftlichen Regionen, wobei die vormaligen Kleinlandwirte nicht selten zuerst enteignet oder vertrieben und dann als rechtlose angelernte Hilfsarbeiter mit Hungerlöhnen wieder einbezogen werden. 2

Das ist aber nicht nur ein afrikanisches Problem: Von der Inbesitznahme von nutzbarem Land oder der Landpacht auf Generationen hinaus durch große Investoren in Afrika zieht sich eine rote Linie bis hin zu der von Papst Franziskus in seiner Enzyklika ‚Laudato si‘ scharf kritisierten Internationalisierung des Amazonas. Auf dieser roten Linie liegt aber zum Beispiel auch Rumänien, ein Ausgangsraum von Elitenwanderungen wie von ‚Armutsflüchtlingen‘ (Roma), wo 30 bis 40 Prozent aller Agrarflächen von ausländischen Investoren kontrolliert werden.

  1. Christian Jacob, Eine Rekordzahl von Flüchtlingen, in: taz, 18.6.2015; Flüchtlingszahlen höher als nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Migazin, 19.6.2015.
  2. Hierzu und zum Folgenden: Staat mischt mit. Entwicklungsbank DEG fördert Landraub, in: Afrique-Europe-Interact, Winter 2014/15, Nr. 5, S. III; Zwei Dörfer stehen auf. Transnationale Proteste gegen Landraub in Mali, in: ebenda.
Aktuell Meinung

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  1. Kai Diekelmann sagt:

    Dankenswert listet Bade auf, was alles wesentlich zur fluchttreibenden Ausbeutung der Herkunftsstaaten von Flüchtlingen beigetragen hat.
    Entscheidende lässt Bade unerwähnt: von imperialer Wirtschaftspolitik profitieren nicht nur die politische Klasse und das Kapital, sondern nahezu jede/r Einzelne in den Wohlstandsgesellschaften. Mit dem Finger auf Kolonialmächte, internationale Konzerne und Organisationen wie die Weltbank, IWF etc. zu zeigen, greift zu kurz. Wir alle tragen als kleine Rädchen im Getriebe zu den Fluchtursachen bei. Es ist ein bisschen wie während des Dritten Reichs: wir machen uns schuldig und verschließen die Augen vor unseren schmutzigen Händen. Wann wird dieses Tabu fallen?

  2. Pingback: Hinweise des Tages | NachDenkSeiten – Die kritische Website

  3. Idahoe sagt:

    @Kai Diekelmann
    Der Mythos vom Einfluß des Individuums in einem System?
    Dazu müßte der einzelne frei sein und ihm alle Informationen offen im Zusammenhang zur Verfügung stehen. Da systembedingt permanente Manipulation und Propaganda läuft, ist dies höchstens ein schlechter Scherz.
    Das dritte Reich? Wie war denn die Lebenswirklichkeit des einzelnen? Gab es denn keine Entstehungsgeschichte?

    Sie selbst verschleiern mit Ihren Behauptungen ein TABU und verhindern ehrliche Aufarbeitung.

    Waren Sie wählen? Wenn ja, haben Sie dieses System legitimiert, denn die Teilnahme an dieser verschafft die Legitimation, völlig gleich, welche Partei gewählt wird. Das ist eine Tatsache.

    Einzig Sie, versuchen den einzelnen Menschen eine Schuld zuzuweisen,
    das ist unredlich.

    Es ist ein Unterschied zwischen JEDEM und ALLEN, hat auch die FDP schon nicht verstanden. Ihr lebt in Glaubenswelten, in Gut und Böse, Schuld und Unschuld, das ist das Problem.

  4. Chris Wielo sagt:

    @Diekmann
    Wie sollte denn mein Beitrag für eine bessere Welt aussehen? Nichts mehr aus der Dritten Welt oder Schwellenländern kaufen?
    Wie sah die Welt aus, bevor Europäer die anderen Kontinente entdeckten? Friedliche Welten? Wohl kaum. Sklavenhandel in Afrika und Arabien. Kriege gegen Nachbarn, Kannibalismus und und und .Kein Kontinent war ausgenommen. Der Mensch ist nun mal so. Der Starke ist bald der Reiche und Mächtige. Dann kommt nein anderer Starker und macht ihm Konkurrenz. Im Grunde sehr einfach. Dann werden die Schwachen unterdrückt und versklavt aus viele verschieden Arten.
    Aber am deutschen Wesen muss die Welt genesen. Manch einer ist wirklich unverbesserlich.

  5. Anton Berendi sagt:

    @Idahoe & Chris Wielo: So einfach ist das nicht, sich aus allem herausreden zu wollen. Unser ‚Wohlstand‘, man könnte auch sagen, unsere ständige GIER nach billigen Gütern ist sehr wohl verantwortlich für Hunger und Verwerfungen in der Dritten Welt, und es gibt hier sehr wohl eine individuelle Verantwortung. Andersrum: Reden wir doch einfach mal über Ihren Fleischkonsum. Wieviel Umwelt-, Tier- und Menschenzerstörung zieht die GIER nach billigem Supermarktfleisch nach sich? Und da gibt es keine Alternativen? Achja, die gibt es doch! Zurück zum Sonntagsbraten, viel weniger und dafür viel hochwertiger, wenn überhaupt Fleisch. Ihr (Bio-)bauernhof um die Ecke freut sich. Und das ist nur ein Beispiel, in allen anderen Kosumsparten sind Ursache und Wirkung ähnlich gelagert.

  6. Idahoe sagt:

    @Anton Berendi
    Tja, sagen Sie das mal einem Menschen, der mit Hartz4 auskommen muß oder einem mit kleiner Rente, die hinten und vorne nicht reicht.
    Das ist keine Frage von Ursache und Wirkung, sondern eine Systemfrage. Und Ja, das ist gewollt, denn in einer Wettbewerbsgesellschaft gibt es zwingend Verlierer. Sie müssen nur die Augen öffnen und sich nicht das Leben schön lügen.

    Das hat mit meiner Person ungefähr gar nichts zu tun, das ist nu(h)r eristische Dialektik Ihrerseits.

  7. aloo masala sagt:

    Guter Artikel, Herr Bade. Was ich bei Ihnen nicht verstehe, weshalb Sie in Ihren Artikeln nicht die gleichen Überlegungen beim Fachkräftemangel anstellen. Weshalb ist der Fachkräftemangel nicht auch ein Konstrukt des „Raubtierkapitalismus“, der nach billigen Arbeitskräften verlangt, die heimische Löhne drücken? Die ganze Einwanderungsdebatte und inzwischen auch die Asyldebatte läuft auf einem Nützlichkeitsrassismus von ökonomisch verwertbarem Humankapital hinaus In dieser Angelegenheit verweigern Sie sich als auch andere Migazin-Autoren einer offenen Einwanderungsdebatte und zwar auf eine ähnliche Weise wie sich die CDU/CSU der Debatte verweigert.