Theater

„Das Summen der Montagswürmer“ lässt das Berliner Ballhaus Naunynstraße beben

Nun stirbt die erste Generation der Einwanderer, wenn sie nicht schon gestorben ist. Das Drama beschwört die Toten. „Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben wurde“, sagt Heiner Müller.

Von Dienstag, 15.10.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.08.2016, 10:50 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

So verstehe ich „Das Summen der Montagswürmer“ von Tugsal Mogul und Antje Sachwitz: als Zwiesprache der Post-Migration mit ihrer Geschichte. Diese Geschichte währt länger als mancher Staat Bestand hatte. Der Fluss der Zeit gerinnt auf dem Theater, noch einmal schauen die Alten aus dem Rachen, der sie verschlungen hat.

Da ist Nazim Kurt, der beinah sein Leben lang Leichen mit einem Lächeln durch die Labyrinthe eines Krankenhauses geschoben hat. (Das Kreuzberger Krankenhaus, das dem Stück Modell stand, liegt urban und hieß auch lange so. Schon Alfred Döblin machte da seine Beobachtungen.) Nuri Sezer spielt den alten Wolf zuerst als greisen Bonvivant. Nazim ruft seine Biografie mit den Namen ihrer Stationen auf. Dazu gehörte die geistesgegenwärtige Organisation unerwarteter Zwillingsgeburten. Doch jetzt ist Nazim selbst der Patient. Die Diagnose lautet tot. Trotzdem gerät Nazim in den Sog der Gerätemedizin. Er wehrt sich. Er ergibt sich. Die letzte Zigarette und ein Rakı im Stehen werden ihm verwehrt.

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Da ist Sevda, Nazims Frau. Sema Poyraz spielt sie als Herzenskluge extrem berührend. Ein ganzes Leben rauscht in der Nussschale ihrer Darstellung auf. Sevda fing als Reinigungskraft an und machte als Dolmetscherin weiter. Sie vereitelte Fehldiagnosen. Nicht, dass sie dafür bezahlt worden wäre. Egal. Was zählte, das war der Status. Sevda war gefragt, bis eine „Umstrukturierung“ die Leiharbeit ins Haus brachte.

Da ist die altgediente Krankenschwester Margot. Margot Gödrös spielt die Schwester so wie John Wayne eine Schwester in Szene gesetzt hätte: super unsentimental und auf den Punkt genau. Margot weiß, worauf es ankommt, wenn Freund Hein die Miete kassieren kommt.

Nazim, Sevda und Margot repräsentieren die Vergangenheit auf einer futuristischen Bühne. Dem Krankenhaus wurde das Design einer Europacenter-Oase verpasst. Im Bereich der Anmeldung temperiert ein Pianist (Tobias Schwencke) Evergreens des gedämpften Wohlempfindens. Hier soll jeder Gedanke an Krankheit und Tod verdunsten. Wasserfallprojektionen passen als Kulisse zu der leidenschaftlich schnellredenden, von Zahlen absorbierten Klinikmanagerin Ela. Für sie ist der Patient ein Kostenfaktor. Bis Opa Nazim eingeliefert wird.

Info: Tickets für das Stück „Das Summen der Montagswürmer“ wird im Ballhaus Naunynstraße gibt es hier. Nächster Termin ist der 15. Oktober 2013 Uhr 20.

Die „Montagswürmer“ schaffen der Wirklichkeit einen Fantasieraum. Darin kollidieren Erfahrungen in den Milieus der Migration mit Verkehrsformen der Mehrheitsgesellschaft. Elmira Bahrami spielt Enkelin Ela als vollständig assimilierte Braut & Beute von Westeuropa. Ihre Mutter ist vor Ort Oberärztin der Chirurgie. Sie weiß, was es mit dem „Morbus Bosporus“ auf sich hat. Sie weigert sich, mit ihrem kulturellen Vorsprung immer nur Kosten zu senken. Zwar will sie nicht mehr die Bauchschmerzen türkischer Patienten übersetzen, „dafür habe ich nicht Medizin studiert“, doch bleibt ihr gar nichts anderes übrig. Sie ist die Übersetzerin der Antagonismen, die in der Gesellschaft wirken. Melek Erenay spielt Nazims und Sevdas Tochter Meral als Über-Ich nicht allein ihrer Sippe. Melek Erenay zeigt deutlich, was für ein Stress das ist – die Übererfüllung sämtlicher Normen und dann soll man auch noch menschlich bleiben.

Merals Tiraden erschüttern ihren Arbeitsplatz. Die Chirurgin entfernt laufend Wurmfortsätze aka Blinddärme aus dem organischen Arsenal türkischer Mädchen, daher der Titel. Sie erklärt diese Operationen zu Folgen seelischer Belastungen. Die Patientinnen kriegen die Forderungen ihrer Familien mit den deutschen Erwartungen und dem Amalgam ihrer Wünsche nicht unter ein Tuch. Sie möchten weder da noch dort aus dem Rahmen fallen und erleben die Unmöglichkeit einer gradlinigen Anpassung als persönliches Versagen. Ist das so schon einmal erzählt worden? Das glaube ich nicht. Ich behaupte, mit den „Montagswürmern“ gewinnt das Theater seine gesellschaftliche Relevanz zurück. Aktuell Feuilleton

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