Andreas Foitzik, Baden-Württemberg, Diskriminierung, Rassismus, MiGAZIN
Andreas Foitzik © privat, Zeichnung: MiG

Ein Lehrstück

Bürokratieabbau als Demokratieabbau

Bürokratieabbau klingt harmlos – ist aber längst zum politischen Kampfbegriff geworden. Im Namen vermeintlicher Entlastung drohen zentrale Menschenrechte ausgehöhlt zu werden. Ein Lehrstück liefert Baden-Württemberg.

Von Dienstag, 26.08.2025, 11:39 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 26.08.2025, 11:40 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Es gibt wohl kaum ein politisches Thema, zu dem es über alle politischen Spektren hinweg eine solche Einigkeit gibt wie bei der Forderung nach Abbau einer „überbordenden“ Bürokratie. Lobbyverbände haben hier ganze Arbeit geleistet. Noch vor ein paar Jahren wurde das Thema als die Kontroverse zwischen Regulierung und Deregulierung verhandelt. Hier waren politische Zuordnungen noch einfacher. Die neoliberale Forderung nach weniger Staat und weniger einschränkende Regulierung war recht leicht dechiffrierbar als eine Politik zugunsten der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten.

Die Forderung nach Bürokratieabbau dagegen argumentiert vordergründig – oder ist zumindest anschlussfähig – mit realen Ärgernissen. Die langen Bearbeitungszeiten von privaten Bauanträgen betreffen jetzt auch nicht alle Schichten der Bevölkerung, sind hier aber ein oft genanntes Beispiel. Faktisch sind wir nun in einer Situation, in der sich in der Politik kaum wer traut, Bürokratie oder überhaupt staatliche Regulierung zu verteidigen.

___STEADY_PAYWALL___

Sicherlich gibt es bürokratische Regelungen, die schlichtweg verzichtbar sind. Was aber in der Diskussion zunehmend verloren geht, ist ein Verständnis, dass viele staatliche oder EU-angeordneten Regulierungen zum Schutz von vulnerablen Gruppen oder einer vulnerablen Natur geschaffen wurden. Sie haben das Ziel, gesellschaftlichen Egoismen und vor allem kapitalistischen Marktmechanismen Grenzen zu setzen: Naturschutz, Datenschutz, Diskriminierungsschutz, Inklusion etc.

Das Landesantidiskriminierungsgesetz als Lehrstück

Was das für die Zukunft, für die Verteidigung dieser Rechte bedeuten kann und jetzt schon bedeutet, zeigt ein Lehrstück aus Baden-Württemberg. 2021 war auf Druck eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses die Einführung eines Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG) im Koalitionsvertrag verankert worden. 77 Organisationen – Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, Verbände der Jugend- und Beratungsarbeit und viele weitere zivilgesellschaftliche Verbände und Akteur:innen aus dem Feld der Antidiskriminierungsarbeit – unterzeichnen ein Positionspapier.

„In fast allen anderen europäischen Ländern schließt ein nationales Antidiskriminierungsgesetz Bereiche wie Schule, Hochschule, Polizei und Behörden ein. In Deutschland nicht.“

Zur Erinnerung: Dass ein Deutschland Landesantidiskriminierungsgesetze braucht, liegt nur daran, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als Bundesgesetz alle Bereiche, die eher in Landeszuständigkeit liegen, ausgeklammert hatte. In fast allen anderen europäischen Ländern schließt ein nationales Antidiskriminierungsgesetz Bereiche wie Schule, Hochschule, Polizei und Behörden ein. In Deutschland nicht. Der öffentliche Bereich würde damit lediglich dem zivil- und arbeitsrechtlichen Bereich gleichgestellt.  2024 hat die Landesregierung unter der Bezeichnung „Gleichbehandlungsgesetz Baden-Württemberg“ in erster Lesung einen Gesetzesentwurf verabschiedet.

Direkt nach der ersten Lesung im Kabinett startete eine Kampagne von Städte- und Gemeindetag, die darauf abzielt, das Gleichbehandlungsgesetzes zu verhindern. Ein Argument war, das Gesetz würde gegenüber Mitarbeitenden von Behörden, Bildungseinrichtungen und Polizei einen Generalverdacht zeigen und ihnen unterstellen, dass sie diskriminieren. Diskriminierung sei für Mitarbeitende im öffentlichen Dienst ohnehin verboten, daher sei ein separates Gesetz unnötig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit diesem doch eher grotesken Argument politisch etwas hätten erreichen können.

Politisch viel wirkungsmächtiger war aber das Argument, das Gesetz würde einen Bürokratieaufwuchs in den Behörden befördern. Irgendwer setzte das Wort – ich würde es fast als Unwort bezeichnen – „Bürokratiemonster“ in die Welt, es wurde von den Medien ungeprüft übernommen und weiterverbreitet. Bürokratie-Bashing sells.

„Die Verteidigung von Minderheitenrechten und Menschenwürde ist kein Thema mehr, mit dem sich Parteien profilieren wollen.“

Auch von CDU und FDP und bis in Teile der Grünen hinein wurde es übernommen, ohne wirklich überprüft zu werden. Währenddessen gaben Fachpolitiker:innen aus den Parteien und auch hohe Vertreter:innen des Städtetages ihre Zustimmung zu Sachargumenten. Und kurz später wird dann plötzlich nach außen hin wieder das Gesetz als Bürokratiemonster angegriffen.

Dies hat sicher auch mit einer veränderten Stimmungslage in der Bundesrepublik und Europa zu tun. Die Verteidigung von Minderheitenrechten und Menschenwürde ist kein Thema mehr, mit dem sich Parteien profilieren wollen. Vor allem aber gegen den Vorwurf des Bürokratieaufbaus ist es in diesen Zeiten offensichtlich schwer, noch eine sachorientierte Politik zu machen. Und dabei ist es völlig unerheblich, ob es tatsächlich ein Bürokratieaufbau mit dem Gesetzesvorhaben verbunden ist.

Das zivilgesellschaftliche Bündnis für ein LADG hat immer wieder versucht, mit Sachargumenten in der Debatte durchzudringen. Es hat Expert:innen zu einem Faktencheck eingeladen, die aus der Erfahrung von vier Jahren LADG Berlin gut beurteilen können, was an den aktuell in Baden-Württemberg erhobenen Vorwürfen dran ist. Thilo Cablitz von der Berliner Polizei, Susanne Stecher, Vorsitzende des Berliner Hauptpersonalrats, Doris Liebscher von der Ombudsstelle der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung waren sich einig, dass das LADG zu keinem Bürokratieaufbau geführt habe. Da das Gleichbehandlungsgesetz keine Anforderungen stellt, die nicht bereits im Grundgesetz verankert sind, sind auch keine zusätzlichen Vorkehrungen nötig.

Nur: das hat niemand interessiert. An zwei prominent besetzten Online-Pressegesprächen im Jahr 2024 hat jeweils ein einziger Journalist teilgenommen, es erschien kein einziger Artikel. Die Stimme eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses, das auch die Interessen von vielen betroffenen Menschen vertritt, bleibt ungehört. Die Presse hatte sich offenbar mit dem Fake-Bürokratie-Argument arrangiert.

Fast schon unnötig zu erwähnen, dass ein anderes Argument in der Debatte komplett untergeht. Zumindest für den Bereich Bildung gibt es klare europarechtliche Vorgaben, die in Deutschland bestehende Schutzlücke zu schließen. Europäische Verpflichtungen im Bereich Menschenrechte: das juckt – auf Deutsch gesagt – keine Sau mehr.

Was tun?

Menschenrechtsaktivist:innen werden aktuell keine Kundgebung zur „Verteidigung der Bürokratie“ organisieren können. Vielleicht wäre aber schon viel gewonnen, wenn zivilgesellschaftliche Gruppen ihre Möglichkeiten nutzen, überhaupt wieder das Narrativ zu stärken, dass Regulierungen notwendig sind, um Natur und Menschen zu schützen.

Auch Menschenrechtsaktivist:innen können selbst Bürokratie kritisieren, um bürokratische Regelungen sichtbar zu machen, die sich gegen Minderheiten richten. Ilja Trojanow hat dies in dem Kommentar „Tod von Familienangehörigen: Sterben in Bürokratistan“ in der taz gezeigt. Auch die hohen Hürden einer Anerkennung beruflicher Abschlüsse durch das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz oder bei der Einbürgerung könnten hier Ansatzpunkte bieten.

„Im Zentrum sollte die Frage stehen, zu welchem Zweck Regulierungen vorgeschrieben werden, wem sie nutzen und wem sie schaden.“

Im Zentrum sollte die Frage stehen, zu welchem Zweck Regulierungen vorgeschrieben werden, wem sie nutzen und wem sie schaden. Auf dieser Grundlage wäre dann auch besprech- und verhandelbar zu machen, welche Risiken und Nebenwirkungen mit einzelnen Regulierungen verbunden sein können, und wie diese abgemindert werden können, ohne die Regulierung im Kern selbst in Fragen zu stellen. So können im Einzelfall das Beharren auf starre Regelungen kreative Lösungen verhindern, die das eigentliche Ziel der Regulierung verfolgen. Ein Beispiel: Wenn ein barrierefreier Zugang nicht gebaut wird, weil die Umsetzung der vorgeschriebenen Normen aufgrund der örtlichen Gegebenheiten nicht zu 100 Prozent möglich ist, bräuchte es demokratische Mechanismen, die eine möglichst gute Lösung ermöglichen, ohne damit sinnvolle Normen an und für sich infrage zu stellen.

Es ist vermutlich sinnvoll, sich auf diese Weise Bürokratiekritik wieder anzueignen, um sie nicht komplett dem Populismus zu überlassen. Dies wird aber nicht viel ausrichten gegen die zu erwartende weitere Aushöhlung menschen- und naturrechtlicher Errungenschaften im Namen des Bürokratieabbaus. Einfach deswegen, weil es gar nicht um Bürokratieabbau geht.

Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg, das unter dem Dach von adis e.V. Antidiskriminierung – Empowerment -Praxisentwicklung organsiert ist. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa zwei Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik.

Meinung
Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)