
Diakonie-Experte im Gespräch
Brandstäter: Der Streit um Aufnahmekapazitäten ist kleinkariert
„Es nützt unserer Wohlfahrt rein gar nichts, Migration zum ‚Mutter aller Probleme‘ zu erklären“, sagt Diakonie-Migrationsreferent Johannes Brandstäter im Gespräch mit dem MiGAZIN. Er erklärt, vor welchen Herausforderungen die Integrationsarbeit in Deutschland steht und welche Folgen der Migrationsdiskurs hat.
Von Ekrem Şenol Mittwoch, 02.07.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 02.07.2025, 9:29 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Die Diakonie ist eine der größten Träger von Integrationsangeboten in Deutschland. Kürzlich feierte sie 20 Jahre Migrationsberatung für Erwachsene. Diakonie-Migrationsreferent Johannes Brandstäter erklärt im Gespräch, warum Einwanderung nach Deutschland – allen Dramatisierungen zum Trotz – eine Erfolgsgeschichte ist, vor welchen Herausforderungen Träger stehen, warum ihre Arbeit erschwert wird, wenn Migration zum „Mutter aller Probleme“ erklärt wird und warum der Streit um Aufnahmekapazitäten kleinkariert ist.
MiGAZIN: In Deutschland gibt es zahlreiche Anlaufstellen für neu eingewanderte Menschen. Die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte, kurz MBE, gehört dazu. Eine aktuelle Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) zeigt: MBE wird von Ratsuchenden positiv bewertet. Was macht die MBE?
Johannes Brandstäter: Die Migrationsberatung ist eine sozialpädagogische Anlaufstelle für Ratsuchende, wenn sie Anliegen anders nicht selber lösen können. Manche kommen mit großen Anliegen wie dem Nachzug von Familienangehörigen aus dem Herkunftsland. Manche haben kleine Fragen, wie man etwa an einen der knappen Integrationskursplätze kommt oder ein bestimmtes Behördenformular ausfüllt, daraus können sich aber auch intensive Beratungsvorgänge entwickeln. Sie kommt praktisch ohne Werbung aus – allein durch Weitersagen spricht sich ihr Angebot herum. So gut, dass es oft zu Wartezeiten kommt. Das liegt wohl daran, dass die Ratsuchenden das Gefühl haben, dass sie den Beratenden vertrauen können. Die DeZIM-Studie unterstreicht das.
Erst kürzlich haben Sie bei einer Tagung das 20-jährige Bestehen der Migrationsberatung für Erwachsene begangen. Was hat sich in diesen zwei Jahrzehnten verändert – und was muss sich Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren dringend verbessern?
Ja, wir haben das gemeinsam mit sechs weiteren Wohlfahrtsverbänden in Berlin gefeiert. 2005 wurden die damalige Ausländersozialberatung und die Beratung von Spätausgesiedelten in die bundesgeförderte Migrationserstberatung, wie sie zunächst genannt wurde, zusammengeführt. Es entstand ein einheitliches Grundberatungsangebot des Bundes, durchgeführt von den Wohlfahrtsverbänden sowie dem Bund der Vertriebenen. Verändert hat sich seither viel. Zunächst war der Anteil von Spätausgesiedelten bei den Ratsuchenden noch sehr groß. Später kamen dann neu Angekommene aus arabischen, asiatischen und afrikanischen Ländern in großer Zahl hinzu. Auch Menschen aus den EU-Beitrittsländern und den Balkanstaaten beraten wir.
„Die Einwanderung nach Deutschland ist eine beachtenswerte Erfolgsgeschichte.“
Die MBE wurde im Laufe der Zeit geöffnet für Geduldete mit Bleibeperspektive. Es werden jährlich bis zu einer halben Million Eingewanderte erreicht. Die Beratungsgegenstände werden immer vielfältiger, zumal auch das Aufenthaltsrecht immer komplexer wurde. Die Zahl der Stellen wuchs allmählich, die der Ratsuchenden aber noch viel mehr. Die Bürokratie nahm auch zu, so dass angesichts schwieriger Förderbedingungen zuletzt manche Beratungsstellen schließen mussten. So mancher örtliche Träger tut sich eben sehr schwer, wenn Zuwendungsbescheide erst Mitte des Förderjahres erteilt werden und sie in Vorleistung treten müssen. Es braucht mehr und verlässlichere Finanzierung und auskömmliche Bedingungen für die gut 900 verbliebenen Beratungsstellen.
Auf Herausforderungen weist auch die DeZIM-Studie hin: Die MBE steht unter hohem Druck – die Ressourcen reichen in der Praxis kaum aus, um der Nachfrage gerecht zu werden. Woran liegt das?
An der stark gewachsenen Nachfrage. Die Einwanderung nach Deutschland ist eine beachtenswerte Erfolgsgeschichte, wenn man auf den Arbeitsmarkt blickt. Die Erwerbstätigkeit ist dank Einwanderung trotz Geburtenrückgang auf einem Allzeithoch. Die meisten Eingewanderten kamen aber nicht zu Erwerbs- oder Ausbildungszwecken, sondern aus humanitären Gründen. Bei dieser Form der Einwanderung dauert die Arbeitsmarktintegration länger, kann aber durch Deutschkurse und eine gute MBE beschleunigt werden. Gerade in schwierigen Fällen entfaltet die MBE eine gute Wirkung, etwa durch ihre ganz individuell ansetzende Einzelfallarbeit, „Case Management“ genannt. Die Migrationsberatung leistet keine Arbeitsvermittlung, aber sie macht die Menschen, die zu ihr kommen, ganz gezielt fit für den Alltag, so dass sie der Gesellschaft Schritt für Schritt ein Mehr zurückgeben können von dem, was sie bekommen. Das Problem ist: die Zahl der Ankommenden (und damit auch der dabei Unterstützungsbedürftigen) ist über die Jahre höher, als man in der Bevölkerungsvorausplanung annahm. 2005 hatte man sogar noch gesagt: Wir sind kein Einwanderungsland. Heute steht im Koalitionsvertrag: Wir wollen ein einwanderungsfreundliches Land bleiben. Das kostet aber auch Geld, Haushaltsmittel eben.
Ein Kritikpunkt aus der Integrations-Praxis sind in diesem Kontext immer wieder zeitliche Befristungen bei Förderungen. Worum geht es?
Bundesförderung erfolgt grundsätzlich auf Basis von Haushaltsjahren. Jedes Jahr entscheidet der Bundestag neu und kann sich damit an neue Entwicklungen anpassen. Nicht nur bei den Integrationskursen, sondern auch bei der Migrationsberatung bringt das Probleme. Wir haben jetzt schon zwanzig Ein-Jahres-Projektförderungen hinter uns, für im Grunde immer wieder das Gleiche. Es ist klar, dass die Angebote jedes Jahr aufs Neue nötig sind, und zwar immer schon ab Anfang Januar. Personal muss über das Jahresende hinweg gehalten und finanziert werden. Das bringen wir als Trägerverbände gefühlt schon zwanzig Jahre vor. Seit kurzer Zeit gibt es aber nun Ansätze für eine mehrjährig angelegte Förderung. Wir kämpfen nun darum, dass das nicht mehr, sondern weniger Bürokratie bedeutet.
Immer wieder wird darüber gestritten, wer für Integration eigentlich zuständig ist: Bund, Länder oder Kommunen? Warum ist das so kompliziert – und was bedeutet dieser Streit für Angebote wie die Migrationsberatung?
„Das Streiten um Aufnahmekapazitäten nehme ich sehr ernst, aber finde es irgendwie auch ein bisschen kleinkariert.“
Beim Zuwanderungsgesetz von 2005, in dessen Zuge die MBE geschaffen wurde, rechnete man nicht mit so vielen neu Ankommenden, wie es nach dem Flüchtlingsherbst 2015, dem Ausbruch des Ukrainekriegs 2022 und vielen anderen internationalen Krisen und Entwicklungen wurden. Die MBE wurde damals als ein kleineres und nicht wirklich eigenständiges Geschwister der Integrationskurse eingerichtet. Einige Bundesländer nutzten die Gelegenheit und stellten ihre bis dahin vorhandenen Beratungsangebote ein, andere haben noch immer keine aufgebaut. Aus heutiger Sicht braucht es wohl mehr Klarheit bei der Arbeitsteilung mit den Ländern bzw. Kommunen. Der Bund bestimmt das Aufenthaltsrecht, daraus leiten sich Aufgaben wie grundlegende Deutschkurse und grundständige Migrationsberatung ab. Den Kommunen kommt, mit Unterstützung der Länder, die Funktion der Daseinsvorsorge und der allmählichen Herstellung sozialer Teilhabe zu. In der Praxis und aus sozialpädagogischer Sicht ist eine strikte organisatorische Aufgabentrennung geradezu unmöglich. Integration, also auch unterstützende Beratungsangebote, muss es „von Anfang an“ geben, so ist es heute Common Sense.
Viele Beratungsgegenstände betreffen auch noch Jahre nach dem Ankommen aufenthaltsrechtliche Fragen. Ich denke an den für ein gutes Ankommen total wichtigen Familiennachzug, oder an Fragen der Einbürgerung, die auch bundesrechtlich geregelt ist. Das ist das Grundberatungsangebot des Bundes. Es hilft auch nicht, wenn Bund und Länder sich die Lasten des erforderlichen Ausbaus der Beratungsangebote gegenseitig zuschieben. Beide Seiten müssen Verantwortung übernehmen. Es braucht eine pragmatische Lösung mit niedrigschwelliger Kooperation. Möglicherweise durch eine bundesgesetzliche Verankerung der Migrationsberatung von Anfang an.
Wenn Bund, Länder und Kommunen über Migration sprechen, geht es oft um Geld. Kommunen behaupten, sie seien überlastet, Länder fordern mehr Geld vom Bund, dieser wiederum verweist auf Milliardenhilfen. Die Verantwortung wird hin und hergeschoben. Dabei scheinen die Farben der jeweiligen Regierungen eine entscheidende Rolle zu spielen: Schwarz greift Rot an, Grün greift Schwarz an usw. Was bewirkt dieser Streit in der öffentlichen Wahrnehmung über die sogenannte Aufnahmekapazität Deutschlands?
Der Streit bewirkt eine unnötig schlechte Stimmung und droht die vielen Pflänzchen der Willkommenskultur allerorten zu zerdrücken. Das Streiten um Aufnahmekapazitäten nehme ich sehr ernst, aber finde es irgendwie auch ein bisschen kleinkariert. Seit 1990 haben wir viele Millionen Menschen aufgenommen, in der Mehrheit aus humanitären Gründen, zu großen Teilen auch im Rahmen der europäischen Freizügigkeit, und nur deswegen haben wir ein Beschäftigungshoch, ich sprach schon davon. Gäbe es die Einwanderung nicht, wären wir ein wirtschaftlich schrumpfendes Land. Gastronomie und Pflege würden zu Luxusdienstleistungen. Die Kosten für Erstaufnahmeeinrichtungen, für Migrationsberatung und manches Andere sind ein Klacks bezogen auf unser Wirtschaftspotenzial, und sie können letztlich als Investition in die Zukunft verstanden werden.
„Manche ziehen wieder weg wegen der rassistisch aufgeladenen Stimmung.“
Schwieriger und ganz anders ist es bei der Wohnungsfrage. Und erst recht bei Schulen und Kitas, Sie kennen die Berichte aus einwanderungsgeprägten Quartieren in den Großstädten. Das Unbehagen, das es dazu gibt, muss viel ernster genommen werden. Infolge der langanhaltenden Einwanderung muss richtig in großem Stil aufgestockt werden. Das ist größtenteils Ländersache. Aber der Bund muss unterstützen, wobei die Lockerung der Schuldenbremse nur ein erster, wenn auch sehr wichtiger Schritt ist. Es nützt unserer Wohlfahrt rein gar nichts, Migration zum ‚Mutter aller Probleme‘ zu erklären und sie gar zu bekämpfen. Gestritten werden muss vielmehr um Bildung, Wohnen und Soziales.
Was wäre Ihrer Meinung nach nötig, damit es bei der Integrationspolitik nicht länger nur ums Geld geht – sondern um das eigentliche Thema: Aufnahme, Versorgung und Integration von eingewanderten Menschen?
Migration müsste anders geframt werden. Vor allem auch hinsichtlich Asyl und humanitären Aufnahmen. Im öffentlichen Diskurs wird die Gewinnung von internationalen Fachpersonen gänzlich anders dargestellt als die Aufnahme Geflüchteter. Geflüchtete sind, auch wenn sie unser kulturelles Leben und überhaupt das Gemeinwesen bereichern, wirtschaftlich zunächst nicht so „nützlich“ wie gezielt angeworbene Fachkräfte. Doch Deutschland ist für diese nicht so attraktiv wie oft erhofft. Sie kommen trotz aufenthaltsrechtlicher Erleichterungen nur in geringer Zahl. Auch weil das Deutschlernen ein Hemmnis ist. Manche ziehen wieder weg wegen der rassistisch aufgeladenen Stimmung. Die mehr als dreißig Jahre nach der Wende zeigen dagegen, dass sich humanitäre Aufnahme für den Arbeitsmarkt unterm Strich langfristig lohnt. (mig) Aktuell Interview Panorama
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Politischer Druck Flüchtlinge aus „Dublin-Zentrum“ suchen Hilfe im Kirchenasyl
- „Nicht ganz richtig“ Gerichtspräsident widerspricht Dobrindt bei…
- Landessozialgericht Asylbewerber darf nicht ohne jede Mindestsicherung sein
- Conni wird abgeschoben Geschmacklose Frontex-Broschüre für Kinder
- „Sichere“ Regionen Schweiz will Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge einschränken
- Nebenan Was für ein erbärmlicher Haufen