
Nebelkerze
Merz‘ importierter Antisemitismus
Ein Satz, ein Skandal: Merz redet in Washington von „importiertem Antisemitismus“. Wer Antisemitismus nur bei Migranten sucht, sucht nicht – er lenkt ab.
Von Birol Kocaman Montag, 09.06.2025, 13:49 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 09.06.2025, 13:49 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Es gibt Sätze, die sagen mehr über den Sprecher aus als über das Thema. Friedrich Merz hat in Washington so einen Satz gesagt. Auf die Frage, was er gegen Antisemitismus in Deutschland unternehme, antwortete der Bundeskanzler bei Fox News sinngemäß: „Wir tun, was wir können – aber offen gesagt, haben wir eine Art importierten Antisemitismus mit dieser großen Zahl von Migranten seit 2015.“ Zack. Da ist er wieder, der gute alte Kurzschluss aus der Abteilung „Migration gleich Problem“. Diesmal im Gewand der Fürsorge für Jüdinnen und Juden.
Was wie Anteilnahme klingt, ist in Wahrheit eine politische Nebelkerze. Merz bedient ein Narrativ, das rechte Kreise seit Jahren pflegen: Der Antisemitismus kommt von außen. Als hätte es die Shoah nicht gegeben. Als sei Judenhass nicht mit deutscher Gründlichkeit verwaltet, verordnet, und vollstreckt worden.
Dass der Begriff „importierter Antisemitismus“ von Jurymitgliedern nicht zufällig 2024 zum persönlichen Unwort des Jahres gekürt wurde, sollte dem Kanzler eigentlich zu denken geben. Die Jury begründete ihre Wahl damit, dass der Ausdruck suggeriere, Judenhass sei durch Migration entstanden – und diene als Mittel, um Muslim:innen und Menschen mit Migrationsbiografie pauschal zu stigmatisieren, während der hausgemachte Antisemitismus aus dem Blick gerät.
„Es wäre naiv zu leugnen, dass es in Teilen migrantischer Communities antisemitische Einstellungen gibt.“
Natürlich: Es wäre naiv zu leugnen, dass es in Teilen migrantischer Communities antisemitische Einstellungen gibt. Niemand behauptet das Gegenteil. Aber wer diesen Fakt zur Hauptsache erklärt, unterschlägt absichtlich den eigentlichen Befund: Der Antisemitismus in Deutschland ist nicht neu – er ist strukturell, tief verankert und sehr alt. Er sitzt in Burschenschaften, Chat-Gruppen, Leserbriefspalten, Stammtischen, Ämter, Polizeirevieren, Parlamenten, in Lehrer- und Klassenzimmern, in Schultaschen, auf Flugblättern und Ministerbänken. Und er trägt viel öfter Krawatte als Galabija.
Der aktuelle Bericht des Bundesverbands RIAS (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus) verzeichnet für 2024 einen drastischen Anstieg antisemitischer Vorfälle: 8.627 registrierte Fälle, ein Plus von 77 Prozent. Besonders auffällig: Die Zahl rechtsextrem motivierter Taten ist so hoch wie nie seit Beginn der bundesweiten Erfassung. Und dennoch nennt Merz ausgerechnet Geflüchtete. Warum? Weil man sie – im Gegensatz zu den „eigenen Jungs“ – ausweisen kann.
„Wer so rechnet, müsste ehrlicherweise seine Grenzen komplett dichtmachen.“
Die Argumentation von Merz folgt dabei einer erstaunlich schlichten Assoziationskette: Antisemitismus = Import = Migration. Doch wer so rechnet, müsste ehrlicherweise seine Grenzen komplett dichtmachen. Die sieben größten jüdischen Gemeinden außerhalb Israels melden kürzlich einen deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle. Einer Studie zufolge vertritt fast die Hälfte der Erwachsenen weltweit antisemitische Auffassungen – Experten zufolge befeuert nach dem 7. Oktober. Klar, solche Befunde schwanken, je nach bevorzugter Antisemitismus-Definition. Doch die wenigsten Menschen weltweit dürften sauber subsumieren, ob die Form ihres geäußerten Unmuts wegen der israelischen Kriegsführung in Gaza noch im Bereich des Erlaubten liegt – wenn es sie überhaupt interessiert. Und wenn wir von weltweit sprechen, sind nicht nur ferne Länder wie Japan oder Indonesien gemeint, auch in EU-Ländern wie Spanien ist Umfragen zufolge Antisemitismus derzeit besonders ausgeprägt. Oder gilt das nicht, weil spanische Erzieher:innen mit einem Fachkräftediplom im Koffer kommen oder asiatische IT-Experten dringender gebraucht werden als Antisemitismus bekämpft wird?
Wer „importiert“ sagt, meint in Wahrheit: „nicht von uns“. Das ist bequem. Denn dann lenkt man ab von der möglichen Frage, warum antisemitische Stereotype jahrzehntelang deutsche Schulbücher füllen durften oder NS-Kader deutschen Sicherheitsbehörden und Amtsstuben – oder warum etliche Straßen bis heute nach Tätern benannt sind haben. Natürlich hätte man auch Antisemitismus bekämpfen können, wo er herkommt: aus der Mitte, von rechts, aus alten Denkmustern: Das wäre aber unschön geworden, weil’s dann die Nachbarin im Amt trifft, den Horst aus dem Verein, den netten Bäcker um die Ecke oder die Pensionsansprüche des Opas.
Eigentlich hatte Merz‘ USA-Reise nicht schlecht begonnen. Er bedankte sich beim US-Präsidenten im Oval-Office für die Befreiung Deutschlands von den Nazis. Wenig später dann dieser Rückfall. Als ob ausgerechnet Amerikaner nicht wüssten, wo der Antisemitismus in Deutschland herkommt. Meinung
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