
Politische Bildung
Rechte Vorfälle an Schulen – Wirkt die Erinnerungsarbeit?
In Gedenkstätten setzen sich hessenweit jährlich tausende Schüler mit der NS-Vergangenheit auseinander. Doch wie tief berührt sie das dort Gelernte? Jüngste Vorfälle lassen Zweifel aufkommen.
Von Christine Schultze und Andrea Löbbecke Sonntag, 01.06.2025, 12:40 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 01.06.2025, 12:41 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Tausende Menschen wurden aus ihrer Heimat verschleppt und als Zwangsarbeiter unter schlimmsten Umständen in der Sprengstoffproduktion ausgebeutet. Orte wie das Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) im mittelhessischen Stadtallendorf machen die Verbrechen während der NS-Zeit und das Leid der Opfer greifbar. Ihr Besuch gilt als wichtiger Baustein der politischen Bildung für Schülerinnen und Schüler. Doch die Häufung antisemitischer und rechter Vorfälle an Schulen in jüngster Zeit wirft die Frage auf, ob die Erinnerungsarbeit, die hier geleistet wird, bei der jungen Zielgruppe ausreichend greift.
Erst kürzlich war bekanntgeworden, dass bei einer anonymen Wahl eines Abi-Mottos an einer Gießener Schule ein Slogan mit Anspielungen auf das NS-Regime die meisten positiven Bewertungen bekam. Nur kurz darauf wurden bundesweit fünf Jugendliche und Heranwachsende wegen des Verdachts der Bildung einer rechtsextremen Terrorzelle in Untersuchungshaft genommen – der mit erst 14 Jahren jüngste von ihnen in Mittelhessen. Nicht zuletzt hatte die Meldestelle RIAS Hessen erst vor zwei Wochen über eine beunruhigende Häufung antisemitischer Vorfälle an Bildungseinrichtungen berichtet.
„Junge Leute nicht verloren geben“
Auch in Stadtallendorf haben die Vorkommnisse große Betroffenheit ausgelöst, wie DIZ-Leiter Jörg Probst deutlich macht. Das Zentrum arbeitet mit Lehrerinnen und Lehrern vor Ort zusammen, die Schülergruppen betreuen und begleiten. Angesichts der jüngsten Vorfälle treibe sie die Frage um, ob sie Inhalte deutlich genug vermitteln und ob ihre didaktischen Strategien stimmen, um gerade junge Leute zu erreichen.
Rund 2.000 bis 2.500 Schülerinnen und Schüler der 8. und 9. Klassen aus der Region besuchen pro Jahr das DIZ und die Gedenkstätte des ehemaligen KZ-Außenlagers Münchmühle, darunter auch viele Schüler aus sozialen Brennpunkten – mit sehr guten Erfahrungen, wie Probst sagt. Es gelinge, dass junge Menschen sich hier öffneten. Coolness oder gar das Punkten bei Mitschülern mit Tabubrüchen spiele hingegen keine Rolle. Das zeige, „dass man die jungen Leute nicht verloren geben darf“, sagt Probst.
Berichte über Provokationen
Der DIZ-Leiter weiß aber, dass es solche Tabubrüche in anderen Gedenkstätten durchaus gibt – bis hin dazu, dass Holocaust-Überlebende in Zeitzeugengesprächen von manchen Schülern provoziert würden. Solche Erfahrungen habe man in Stadtallendorf bisher nicht gemacht.
Auch in der Gedenkstätte Hadamar sind die Erfahrungen mit den Besuchen von Schulklassen „überwiegend positiv“, wie eine Sprecherin erklärt. Die meisten Jugendlichen seien bereit, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. „Im Ansatz respektloses Verhalten ist unserer Einschätzung nach zumeist als Übersprungshandlung aufgrund des emotional herausfordernden Themas der NS-„Euthanasie“-Morde zu werten.“
Derlei Situationen könnten mit einem kurzen individuellen Gespräch rasch geklärt werden, ergänzte die Sprecherin. „Rassistisch oder extremistisch motivierte Äußerungen kommen so gut wie nicht vor.“ In der Tötungsanstalt Hadamar wurden laut Gedenkstätte fast 15.000 Menschen ermordet. Dazu gehörten psychisch Erkrankte und Menschen mit Behinderung.
Persönlicher Zugang zu politischer Bildung
In Hessen gehört der Besuch von Gedenkstätten für Opfer des NS-Regimes nach Angaben des Kultusministeriums zwar nicht verpflichtend zum Lehrplan, werde den Schulen aber empfohlen. Gedenkstätten seien Lernorte, aber auch Orte der Erinnerung, Mahnung und Trauer, sie machten Geschichte greifbar und erlebbar, erklärt das Ministerium.
„Die vielfältigen Rückmeldungen aus Schulen sowie von den abgeordneten Lehrkräften zeigen, dass Gedenkstättenbesuche bei Schülerinnen und Schülern einen starken Eindruck hinterlassen, diese die historisch-politische Bildung fördern, Schülerinnen und Schüler aber auch auf emotionaler, moralischer und sozialer Ebene tief berühren“, heißt es vom Ministerium.
NS-Zeit kann unterschiedlich im Unterricht behandelt werden
Der Besuch von Schulklassen an einer NS-Gedenkstätte ist nach Einschätzung der Bildungsgewerkschaft GEW wichtig und sinnvoll – wenn er sorgfältig vorbereitet und nachbereitet wird. Daneben gebe es weitere gute didaktische Möglichkeiten, den Holocaust im Unterricht zu behandeln, erklärte der hessische GEW-Landesvorsitzende Thilo Hartmann. Dazu zähle der Besuch oder sogar in Einzelfällen das Recherchieren und Verlegen von Stolpersteinen.
Hartmann warnte ausdrücklich vor der Vorstellung, dass der Besuch einer Gedenkstätte per se sicherstelle, dass den Klassen der Charakter des Holocausts und des NS-Unrechtsstaats bewusst gemacht und damit eine demokratische Haltung gefördert werde. (dpa/mig) Aktuell Panorama
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