
Nicht ignorieren!
Wenn Gaza ins Klassenzimmer kommt
Jugendliche mit arabischen Wurzeln erleben den Gaza-Krieg als persönliches Trauma – und stoßen auf Sprachlosigkeit. Ein Lehrer fordert mehr Empathie, ehrlichen Umgang mit ihrer Wut – und Zuhören.
Von Dr. Marc Ntouda Sonntag, 01.06.2025, 10:11 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 31.05.2025, 22:24 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Als Lehrer arbeite ich auch mit Jugendlichen aus Familien mit Wurzeln in Palästina, Syrien, dem Irak und dem Libanon. In den letzten Monaten hat sich etwas verändert. Nicht nur in den Nachrichten. Auch in den Gesichtern meiner Schüler:innen. Seit dem Krieg in Gaza liegt eine neue Schwere über dem Unterricht. Manche schweigen. Andere kämpfen mit Tränen. Viele sind wütend. Und sie stellen Fragen, auf die wir Erwachsenen oft keine ehrliche Antwort haben:
„Warum schweigt ihr, wenn Kinder in Palästina sterben?“
„Warum dürfen wir nicht sagen, dass wir wütend auf Israel sind?“
Diese Fragen zeugen nicht von Radikalisierung. Sie entspringen einem tiefen menschlichen Bedürfnis: dem Wunsch, dass ihr Leid gesehen und ernst genommen wird.
Zwischen TikTok und Ohnmacht
„Die Ohnmacht bleibt oft unbearbeitet und verwandelt sich in Wut. Wut, die im Netz Verbündete findet.“
Die meisten Jugendlichen informieren sich nicht über Zeitungen oder Nachrichtensendungen, sondern über TikTok, Instagram und YouTube. Dort sehen sie ungefilterte Bilder aus Gaza: tote Kinder, weinende Mütter, zerstörte Wohnhäuser. Gleichzeitig erleben sie, wie westliche Politiker:innen schweigen oder das Bombardement rechtfertigen. Diese Ohnmacht bleibt oft unbearbeitet und verwandelt sich in Wut. Wut, die längst im Netz Verbündete findet. Andere sprechen längst mit den Jugendlichen, wenn wir es nicht tun.
„Warum darf ich nicht sagen, dass ich wütend auf Israel bin?“
Ich höre diese Frage oft. Und sie ist berechtigt. Die Jugendlichen sehen das Leid – und erleben gleichzeitig, dass ihre Wut schnell als Antisemitismus gelesen wird. Das ist nicht gerecht. Antisemitismus ist real. Er muss klar benannt und bekämpft werden. Doch Kritik an der israelischen Regierung – insbesondere an der zerstörerischen Politik unter Netanjahu – ist kein Antisemitismus. Sie ist legitim. Sie ist notwendig. Und sie gehört zur demokratischen Debatte. Nicht die Wut ist das Problem. Das Problem entsteht, wenn wir sie tabuisieren, pathologisieren oder ignorieren.
Zuhören ist kein Luxus. Es ist Pflicht.
„Solidarität mit Palästinenser:innen ist kein Gegensatz zu Empathie für jüdische Menschen.“
Wir können den Krieg nicht im Klassenzimmer lösen. Aber wir können entscheiden, wie wir mit ihm umgehen. Wir können Räume schaffen, in denen junge Menschen ihre Wut und Trauer aussprechen dürfen, ohne Angst vor Stigmatisierung. Wir können erklären, dass sie nicht allein sind; dass viele Jüdinnen und Juden in Israel und weltweit sich ebenfalls gegen diese Gewalt stellen; dass Solidarität mit Palästinenser:innen kein Gegensatz ist zu Empathie für jüdische Menschen.
Und wir müssen handeln:
- Durch moderierte Gesprächsformate, in denen Schüler:innen ihre Sicht teilen und Fragen stellen können, offen, ohne Angst.
- Durch Fortbildungen für Lehrkräfte, die helfen, auf emotionale und politische Spannungen sensibel zu reagieren, ohne zu relativieren oder zu moralisieren.
- Durch medienpädagogische Angebote, die Jugendlichen zeigen, wie sie Bilder und Botschaften im Netz kritisch einordnen können.
Wer sich nicht gehört fühlt, hört irgendwann nur noch denen zu, die ihm das Gefühl geben, recht zu haben. Selbst wenn es gefährliche Stimmen sind.
Menschlichkeit ist keine Einbahnstraße
„Was wir in deutschen Klassenzimmern erleben, ist nicht das Ergebnis einer ‚Islamisierung‘. Es ist das Echo eines Schmerzes.“
Was wir heute in deutschen Klassenzimmern erleben, ist nicht das Ergebnis einer „Islamisierung“. Es ist das Echo eines Schmerzes, den wir zu lange ignoriert haben; ein globales Trauma, das auch junge Menschen hier erreicht, weil sie Teil einer Welt sind, in der ihr Leid oft unsichtbar bleibt. Wer das nicht sehen will, darf sich morgen nicht wundern, wenn diese Jugendlichen sich abwenden oder radikalisiert werden. Unsere Aufgabe ist es, ihnen zu zeigen: Wir sehen euch, wir hören euch und wir stehen an eurer Seite. Auf der Seite der Menschlichkeit.
Wer Schulen zu Orten der Demokratie machen will, muss sie zuerst zu Orten der Empathie machen. Denn wenn junge Menschen das Gefühl haben, übersehen zu werden, wachsen Misstrauen, Rückzug und Radikalisierung. Empathie schützt. Ignoranz entfremdet. Wenn wir nicht zuhören, wird es jemand anderes tun. Die Frage ist nur: Wer? Und mit welcher Absicht? Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Migration in Tunesien Lieber wieder zurück in die Heimat
- Unmenschliche Behandlung Flüchtlinge fordern Abschaffung von Dublin-Zentrum
- „Asylwende“ Kabinett beschließt weitere Beschränkungen für Geflüchtete
- Schlepperei oder humanitäre Hilfe? EU-Gericht stärkt Rechte von Migranten
- Menschenrechtler entsetzt Oberstes US-Gericht erlaubt Trump Massenabschiebung
- Nicht ignorieren! Wenn Gaza ins Klassenzimmer kommt