
Irrsinn
Führt die Migrationswende zur Rente mit 72?
Seit Jahrzehnten hält Einwanderung die Rentenkasse stabil – sinkende Geburtenraten belasten sie. Wer jetzt über ein Rentenalter von 72 spricht, blendet aus, dass Abschreckungspolitik jene vertreibt, die das System mittragen.
Von Johannes Brandstäter Dienstag, 18.11.2025, 11:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 18.11.2025, 11:22 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Ich habe noch genau im Ohr, wie Arbeitsminister Norbert Blüm 1986 mit seinem rheinischen Akzent bekräftigte: „Die Rente ist sicher.“ Als Student der Politikwissenschaft war ich damals noch weit von der Rente entfernt, der Claim gab mir aber ein gutes Gefühl. Was ich damals nicht ahnen konnte: Die unablässig weiter fallende Geburtenrate nagt seither beständig am Rentensystem, so dass Blüm und seine Nachfolgenden das Renteneintrittsalter anhoben. Was ich auch nicht ahnte: Zunehmende Einwanderung, die die Zahl der Erwerbstätigen bis heute auf ein Rekordniveau gehievt hat, schützt seit 1990 die Rentenkasse vor noch schlimmerer Beanspruchung.
Die Bevölkerung wuchs seit 1990 trotz eines starken Geburtenrückgangs dank Einwanderung um 5 Millionen Menschen. Nur dadurch konnte die Zahl der Erwerbstätigen auf knapp 35 Millionen steigen. In der Diakonie Deutschland sind wir bei einem Höchststand der Beschäftigten von bundesweit 680.000 angelangt, auch durch Einwanderung. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren 2024 3,1 Millionen Drittstaatsangehörige in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. In der Mehrzahl sind es aus verschiedensten humanitären Gründen in unser Land Gekommene. Die dauerhaft hier lebenden und arbeitenden EU-Staatsangehörigen, die Geflüchteten und, in zahlenmäßig geringerem Umfang, die zu Erwerbszwecken hergekommenen Drittstaatsangehörigen zahlen mit ihren Beiträgen unterm Strich kräftig in die Rentenkassen ein. Die Einwanderung in die Sozialsysteme findet statt, ja, aber im positiven Sinne, auch wenn es bis zur Arbeitsmarktintegration oft länger dauert. Und diese Nachricht vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung passt dazu: Der Beschäftigtenanteil ukrainischer Geflüchteter hat sich binnen zwei Jahren verdreifacht.
„2024 waren 3,1 Millionen Drittstaatsangehörige in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. In der Mehrzahl sind es aus verschiedensten humanitären Gründen in unser Land Gekommene.“
Für mich stellt sich die aktuelle Diskussion um die Rente in einem neuen Licht dar. Die Beiträge der Einwanderung zur Sicherheit der Rente werden erstaunlich wenig beachtet. Das Bundesarbeitsministerium will mit seinem Rentenpaket 2025 das Rentenniveau bis 2031 bei 48 Prozent erhalten und damit „die Haltelinie bis 2031 verlängern“. Das wird nur mit weiterer kontinuierlicher, u. a. humanitärer Einwanderung gelingen.
Ohne Einwanderung droht jedoch ein spürbar niedrigeres Rentenniveau. Oder aber ein deutlich höheres Renteneintrittsalter, womöglich sogar mit 72. Damit die Zahl der eingewanderten Erwerbstätigen nicht wieder sinkt, sollte die Migrationswende am besten schnell wieder einkassiert werden. Es ist irrsinnig, Menschen, die in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen stehen oder gerade eine Ausbildung machen, nach Syrien oder in andere Länder abzuschieben. Die Zahl der Menschen, die nach Deutschland kommen, sinkt gerade rapide. Der vom Statistischem Bundesamt ermittelte Wanderungssaldo nimmt seit 2022 ab, aus verschiedenen Gründen.
„Im Interesse der Rentenbeziehenden und der Babyboomer ist es dagegen viel mehr, dass alle in unserem Land Eingetroffenen möglichst schnell in gut und angemessen bezahlte sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse kommen.“
Einen Blick wert sind auch andere Neuerungen, zum Beispiel dieser Bundestagsbeschluss: Die Obergrenze für kurzfristige Beschäftigung wird von 70 auf 90 Tage jährlich angehoben. Von 2026 an können Saisonarbeitskräfte bis zu 90 Tage sozialversicherungsfrei in der Landwirtschaft beschäftigt werden. Das hat zur Folge, dass Migration entsprechend weniger zur Rentenkasse beiträgt.
Im Interesse der Rentenbeziehenden und der Babyboomer ist es dagegen viel mehr, dass alle in unserem Land Eingetroffenen möglichst schnell und mit aktiver Unterstützung in möglichst gut und angemessen bezahlte sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse kommen. Vor allem Frauen. Qualifikationsmaßnahmen, Sprachkurse und die Gewinnung für eine Ausbildung sind so gesehen das Gebot der Stunde. Schattenarbeitsverhältnisse müssen in reguläre umgewandelt werden.
Meinung
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