Demo, Demonstration, Lorenz, Oldenburg, Polizei, Polizeischüsse, Tod, Menschen
Demonstration nach dem Tod von Lorenz durch Polizeischüsse (Archiv) © Hesham Elsherif/AFP

In den Rücken geschossen

Keine Notwehr: Anklage gegen Polizisten im Fall Lorenz A.

Nach monatelangen Ermittlungen folgt nun die Anklage: Ein Oldenburger Polizist soll den Schwarzen Lorenz A. fahrlässig getötet haben – die Staatsanwaltschaft sieht keine Notwehr. Der Rassismus-Vorwurf ist nicht ausgeräumt. Dass es zu einer Verurteilung kommt, ist aber unwahrscheinlich.

Mittwoch, 05.11.2025, 15:35 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 05.11.2025, 15:56 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Im Fall des durch Polizeischüsse getöteten Lorenz A. in Oldenburg hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen einen Polizeibeamten erhoben. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft müsse sich der Polizist wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten, teilte eine Sprecherin am Mittwoch mit. Ein vorsätzliches Tötungsdelikt könne dem Angeschuldigten nicht vorgeworfen werden.

Der Fall Lorenz A. hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt. Der 21-Jährige starb am 20. April laut Obduktionsergebnis durch drei Polizeikugeln, die ihn in den Rücken trafen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll er zuvor Reizgas in Richtung von Polizeibeamten gesprüht haben und dann „an ihnen vorbei“ gelaufen sein. Im Zentrum des Falls steht die Frage nach möglichem Rassismus bei der Polizei, weil der Getötete schwarz war.

___STEADY_PAYWALL___

Staatsanwaltschaft: Opfer wollte fliehen

Oberstaatsanwältin Carolin Castagna sagte, der Polizist sei davon ausgegangen, mit einem Messer angegriffen zu werden. Zum Zeitpunkt der Schussabgabe habe allerdings keine Notwehrlage mehr bestanden. Lorenz A. habe zwar vor der Schussabgabe Reizgas gegen den Beamten eingesetzt, allerdings kein Messer. Er habe sich einer Festnahme entziehen und fliehen wollen. Das Landgericht Oldenburg entscheide nun darüber, ob ein Hauptverfahren eröffnet werde.

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hätte der Polizist erkennen können und müssen, dass das Opfer lediglich habe fliehen wollen, hieß es in der Mitteilung. Für die fahrlässige Tötung eines Menschen sieht das Strafgesetzbuch eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe vor.

Vorwurf: Ermittlungen „voreingenommen und unzureichend“?

Dass der Fall überhaupt vor Gericht aufgearbeitet werden soll, ist für viele eine Erleichterung. Ein Prozess bietet die Chance, dass offene Fragen geklärt werden. „Das ist erst mal ein Schritt in die richtige Richtung“, sagte Suraj Mailitafi von der Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“ in einem Video auf Instagram. Aber: Wenn jemand von hinten erschossen wird, könne das nicht fahrlässig sein.

Auch die Familie des Getöteten fordert eine Anklage wegen Totschlags. Aus Sicht der Anwälte der Eltern von Lorenz liegen die Voraussetzungen der Notwehr nicht vor. Sie verweisen darauf, dass der Beamte schoss, als der 21-Jährige sich abwandte, um zu fliehen. „Es ist nicht glaubhaft, dass der Beamte in dieser Situation noch irrtümlich davon ausgegangen sein will, er werde mit einem Messer angegriffen“, schreiben die Juristen Lea Voigt, Nils Dietrich und Thomas Feltes. Sie kritisieren die bisherigen Ermittlungen als voreingenommen und unzureichend.

Aus Sicht der Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“ ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Ausdruck eines strukturellen Problems mangelnder Verantwortungsübernahme in Fällen tödlicher und rassistischer Polizeigewalt. Der gewaltsame Tod des 21-Jährigen sei kein tragischer Unfall, sondern ein schweres Unrecht. Die Tat betreffe nicht nur die Familie, sondern eine ganze Community, die für Gerechtigkeit und Anerkennung in der Gesellschaft kämpfe.

Innenministerin Behrens: Vorwürfe gegen Polizei nicht angemessen

Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) sagte, die Entscheidung der Staatsanwaltschaft zeige sehr deutlich, dass der Rechtsstaat funktioniere. Bei allem Verständnis für die Trauer und die Wut über den Tod von Lorenz A. seien viele der pauschalen Vorwürfe in Richtung von Polizei und Staatsanwaltschaft in den vergangenen Monaten nicht angemessen und nicht durch Fakten gedeckt gewesen. „Die Ermittlungsbehörden in Niedersachsen arbeiten unabhängig, unvoreingenommen und rechtskonform.“

Der Oldenburger Polizeipräsident Andreas Sagehorn sagte, unabhängig vom Urteil könne das rechtliche Verfahren Angehörigen und Freunden des Verstorbenen bei der Verarbeitung des schrecklichen Ereignisses helfen. Die Anklageerhebung sei das Ergebnis professioneller und sorgfältiger Ermittlungsarbeit: „Eine Selbstverständlichkeit, die in diesem Fall jedoch leider besonderer Betonung bedarf, da sie von verschiedenen Seiten infrage gestellt wurde.“ Sagehorn ergänzte, bis zu einem Urteil gelte überdies die Unschuldsvermutung. Einer Studie zufolge sind rassistische Vorurteile innerhalb der Polizei verbreiteter als in der Gesamtbevölkerung.

Demonstrationen gegen Polizeigewalt und Rassismus

Nach dem Tod des jungen Mannes hatte es zahlreiche Demonstrationen gegen Polizeigewalt und mögliche rassistische Strukturen innerhalb der Polizei gegeben. Unter anderem kamen in Oldenburg rund 8.000 Teilnehmende zusammen, die „Gerechtigkeit für Lorenz A.“ forderten. Viele Menschen äußerten den Verdacht, Lorenz A. wäre noch am Leben, wenn er kein Schwarzer gewesen wäre.

Tatsächlich zeigen Studien, dass Polizeieinsätze anders vorbereitet und durchgeführt werden, wenn die Tatverdächtigen ausländisch gelesen werden. Das Täterprofil bestimme wesentlich mit, mit wie vielen Polizeikräften der Einsatz durchgeführt werde und ob die Beamten eher deeskalierend oder aggressiv auftreten.

2024: 22 Personen durch Polizeikugeln getötet

In der Gesamtbetrachtung richten Polizisten in Deutschland nur selten eine Schusswaffe auf Menschen. Geschossen werden darf nur, wenn andere Maßnahmen keinen Erfolg bringen – etwa um das eigene Leben oder das eines anderen Menschen zu schützen, ein Verbrechen zu verhindern oder einen flüchtigen Verdächtigen aufzuhalten.

Seit der deutschen Wiedervereinigung sind laut der Zeitschrift „Bürgerrechte & Polizei/Cilip“ des Instituts für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit an der Humboldt-Universität zu Berlin bis heute mindestens 376 Personen durch Kugeln der deutschen Polizei getötet worden. Im Jahr 2024 wurden mit 22 Personen demnach so viele Menschen erschossen wie nie zuvor seit Beginn von Aufzeichnungen im Jahr 1976. In Bund und Ländern arbeiten aktuell rund 350.000 Polizisten und Polizistinnen.

Verurteilung von Polizisten eher selten

Nach einem Schusswaffengebrauch der Polizei wird generell ermittelt, ob die Voraussetzungen für einen solchen Einsatz tatsächlich vorgelegen haben. Die Staatsanwaltschaft entscheidet, ob sie überhaupt Anklage erhebt. Zu einer Verurteilung kommt es fast nie. Das liegt mitunter auch daran, dass in Deutschland Polizisten gegen Polizisten ermitteln und das geschehe oft nicht ergebnisoffen.

Der Bundesgerichtshof beschäftigt sich etwa aktuell mit einem Fall vom August 2024 aus Düsseldorf. Das dortige Landgericht hatte einen Polizisten freigesprochen, obwohl er dem Urteil zufolge die Schüsse nicht hätte abfeuern dürfen, weil keine akute Gefahr für Menschen bestand. Dennoch war die Tat nach Ansicht des Richters nicht strafbar, weil der Beamte schlicht eine Fehleinschätzung getroffen habe. Die Staatsanwaltschaft ging in Revision.

Hätte er keine dunkle Hautfarbe gehabt, wäre er am leben

Bundesweit für Aufsehen erregte der Fall des 16-jährigen Mouhamed Dramé. Das Landgericht Dortmund kam im Dezember 2024 zu dem Schluss, dass keinem der fünf angeklagten Polizisten Schuld an dessen Tod nach den Polizeischüssen trifft, weil sie irrtümlicherweise davon ausgingen, der suizidale Jugendliche wolle sie mit einem Messer angreifen. Gutachten hatten den beteiligten Beamten massive Fehler und zahlreiche Ungereimtheiten bei der Einsatzdarstellung bescheinigt.

Auch dort waren sich Beobachter sicher: Hätte Mouhamed Dramé keine dunkle Hautfarbe gehabt, wäre er nicht erschossen worden. Nur gegen den Freispruch des Einsatzleiters ging die Staatsanwaltschaft in diesem Fall in Revision. (epd/dpa/mig) Leitartikel Panorama

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)