
Zocken bis in den Ruin
Vom Spiel zur Spirale: wie Zocken Leben, Familien und Kinder zerstört
Millionen Menschen sind laut Experten glücksspielsüchtig oder zocken in riskanter Weise – überdurchschnittlich stark gefährdet sind Menschen mit Einwanderungserfahrung. Viele Kinder wachsen mit spielsüchtigen Eltern auf. Auch sie leiden oft – still und unbemerkt.
Von Yuriko Wahl-Immel Dienstag, 23.09.2025, 11:55 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 23.09.2025, 10:54 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Sie zocken bis zum letzten Cent und reißen oft auch ihre Familien mit in den Abgrund. Fast fünf Millionen Menschen in Deutschland sind nach Schätzungen süchtig nach Glücksspielen oder spielen in riskanter Weise. Auch für ihre Partner kann das drastisch werden, und viele Kinder leiden mit. Fatal auch: Glücksspielsucht bleibt lange unbemerkt.
„Glücksspielstörung ist eine der häufigsten Abhängigkeitserkrankungen in Deutschland – mit gravierenden Folgen für Gesundheit, Beziehungen und die finanzielle Existenz“, schildert der Suchtbeauftragte der Bundesregierung, Hendrik Streeck. Er geht von rund 1,3 Millionen betroffenen Erwachsenen aus und Hunderttausenden Kindern, die mit einem spielsüchtigen Elternteil aufwachsen.
Illegales und vor allem digitales Glücksspiel würden die Lage verschärfen, sagt Streeck der dpa. „Glücksspiel ist keine harmlose Freizeitbeschäftigung. Wir brauchen konsequenten Jugend- und Spielerschutz, wirksame Prävention und bessere Daten, um Betroffene und ihre Familien wirksam zu schützen.“
Betroffene: „Jeder Spieler ist auch ein perfekter Schauspieler“
Bei Nicole Dreifeld war es der Spielautomat. „Am Anfang wurden aus vier Euro 45 Euro. Dann war es wie ein Rausch. Man versucht es wieder und wieder, hat tausend Gedanken, was man sich alles kaufen könnte.“ Sie habe in vier Jahren rund 60.000 Euro verzockt, erzählt Dreifeld, die heute Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Selbsthilfe Glücksspielsucht („Glücksspielfrei“) ist.
Als das exzessive Spielen begann, war ihr Sohn sechs Jahre alt. Oft ließ die alleinerziehende Mutter ihn stundenlang allein, um in die Spielhalle zu gehen. „Rückblickend war ich eine Rabenmutter, aber in der Sucht findet man immer eine Ausrede, warum man sich die Spielzeit gönnt.“ Alle Rücklagen und ihr Gehalt gingen drauf, Kredite türmten sich auf 30.000 Euro auf.
„Jeder Spieler ist auch ein perfekter Schauspieler.“ So bleibe diese Suchtform oft im Verborgenen, was fatal auch für die Kinder sein könne, die ebenfalls Hilfe bräuchten. Mit Mitstreitern gründete Dreifeld Ende 2021 den Bundesverband.
Kinder werden vernachlässigt
„Spielsüchtige Eltern sind in ihren Problemen so gefangen, dass sie sich nicht ausreichend um ihre Kinder kümmern können“, beschreibt Verena Küpperbusch, Leiterin der NRW-Landesfachstelle Glücksspielsucht in Bielefeld. „Psychische Verwahrlosung ist ein großes Problem.“ Schätzungen gehen von etwa 600.000 Kindern und Jugendlichen mit mindestens einem spielsüchtigen Elternteil aus.
„Es kann zu Angststörungen kommen, zu Depressionen, Problemen in der Schule, Leistungsabfall“, weiß Küpperbusch. „Kinder übernehmen es von ihren Eltern, sich zu verstecken, zu leugnen. Die Spielsucht ist das beherrschende Thema zu Hause, aber draußen darf niemand davon wissen. Das ist ein enormer Druck für die Kinder.“ Sie leiden oft still, sind für Hilfen schwer erreichbar.
Glücksspielprobleme erhöhen auch das Risiko für häusliche Gewalt, erläutert Küpperbusch. Die finanzielle Not mache sich für die Kinder bemerkbar – wenn etwa eine Klassenfahrt nicht mehr drin ist. Bis Betroffene Hilfe holten, dauere es oft ein bis fünf Jahre, mit starken Belastungen auch für den Nachwuchs. Werbung für Glücksspiele solle eingeschränkt werden, mahnt Küpperbusch zum Aktionstag gegen Glücksspielsucht an diesem Mittwoch (24. September).
Glücksspielmarkt und Steuereinnahmen wachsen
Bundesweit gelten nach den aktuellsten Daten (2023) fast 1,4 Millionen Menschen zwischen 18 und 70 Jahren als glücksspielsüchtig und weitere 3,5 Millionen Betroffenen zeigen ein riskantes Verhalten, wie Psychologe Tobias Hayer von der Uni Bremen berichtet.
Der Markt wachse. Die Umsätze auf dem legalen Glücksspielmarkt lagen zuletzt mit 63,5 Milliarden Euro auf einem Rekordhoch – daraus resultierten staatliche Steuereinnahmen von 6,6 Milliarden Euro. Die Summe sei mehr als doppelt so hoch wie die Erträge aus alkoholbezogenen Steuern, sagt der Glücksspielforscher.
„Glücksspielsucht kann jeden treffen“, stellt Hayer klar. Männer sind häufiger spielsüchtig als Frauen. Als stärker gefährdet gelten Jugendliche und junge Erwachsene, Personen mit niedrigem Einkommen, geringer Bildung, Menschen mit Migrationserfahrung – letztere sind aufgrund ihres vergleichsweise jüngeren Durchschnittalters, ihrer Bildungs- und Einkommenssituation statistisch gesehen deutlich stärker gefährdet. Aufgrund religiöser oder kultureller Tabus ist es für viele dieser Menschen besonders schwer, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Und: Kinder aus spielsüchtigen Familien haben ein drei- bis fünffach erhöhtes Risiko, selbst später einmal exzessiv zu „zocken“ – ein Teufelskreis. Das Problem sei unterschätzt, es brauche breite Aufklärung, mehr Mittel für Forschung, Prävention und das Versorgungssystem.
Online-Glücksspiele gelten als besonders gefährlich
„Glücksspiele haben unterschiedlich hohes Suchtpotenzial“, unterstreicht der Psychologe. Große Gefahr bestehe, wenn ein Angebot stark verfügbar und zugleich die Spielgeschwindigkeit hoch ist. Vor allem Online-Glücksspiele seien hochriskant: Denn Zocken via Handy ist jederzeit und von überall aus ständig möglich, der Zahlungsverkehr bargeldlos, Hemmschwellen sinken, das anonyme Spielen verläuft ohne jegliche soziale Kontrolle.
Das kennt Familienvater Martin aus Unna: Er war lange dem Online-Kasino verfallen, hat massive Schulden angehäuft. „Ich konnte das vor meiner Frau und meinem Sohn gut vertuschen, weil ich mit immer neuen Krediten die alten Kredite abgelöst habe“, erzählt der 45-Jährige. Post vom Gerichtsvollzieher habe er länger abfangen können. „Ich habe uns komplett ruiniert, exzessiv Vertrauen missbraucht und meine Familie mit runtergezogen.“
Mithilfe einer ambulanten Therapie habe er sich aus dem Online-Zocker-Sumpf befreit, schildert Martin. Allerdings: „Spielsucht ist therapierbar, aber nicht heilbar. Ich bin ein trockener Spieler.“ Ähnlich sagt Nicole Dreifeld: „Man ist immer nur eine Armlänge vom Rückfall entfernt. Das Suchthirn schläft nie.“ (dpa/mig) Gesellschaft Leitartikel
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