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Wohnhaus (Symbolfoto) © de.depositphotos.com

Lei(s)tungsmissbrauch

Wahlkampf mit Sündenböcken

Im Ruhrgebiet werden bulgarischer und rumänischer Zuwanderer zum politischen Werkzeug. Statt strukturelle Ursachen anzugehen, schüren Spitzenpolitiker Ressentiments – und gefährden so den sozialen Frieden.

Von Donnerstag, 11.09.2025, 11:14 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 11.09.2025, 11:14 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Noch wird es einige Tage eine hohe Pendelmigration aus Berlin Richtung Ruhrgebiet geben, bis die Kommunalwahlen im größten Bundesland mit der Morgendämmerung zum 15. September überstanden sind. Dann werden die für bundespolitische Aufgaben Verantwortlichen sich über die drängenden Fragen des Gesamtlandes beugen und den „Herbst der Reformen“ ausgestalten. Eine der Maßnahmen soll sich gegen „mafiösen Bürgergeldbetrug“ wenden, der als ein Sinnbild für den angeblichen Handlungsdruck gegen einen ausufernden Sozialstaat hergenommen wird.

Es ist die Sorge vor hohen Stimmgewinnen für die AfD, die insbesondere dem Ruhrgebiet verhaftete Spitzenpolitiker vor Ort zieht. Die öffentlichkeitswirksamen Termine ähneln dem Verhalten nach Naturkatastrophen, Botschaften der Verbundenheit werden an die Lokalpolitik und die Teile der Wählerschaft gesendet, die für den Wahlausgang als entscheidend ausgemacht werden. Die auf kommunaler Ebene wahlberechtigten EU-Zugewanderten zählen dazu nicht. Dabei wären sie aufgrund ihrer lokal mitunter hohen Gesamtzahl und vor allem der in einzelnen Stadtteilen relevanten Größe als Adressaten für solidarische Wahlankündigungen einer strategischen Überlegung wert. So beträgt in Duisburg z. B. allein die Zahl der Bulgaren und Rumänen über 25.000 Personen (ca. 5 % der Gesamtbevölkerung).

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Aber das Gegenteil ist der Fall. Als „Armutszuwanderung“ gelabelt wurde die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien mit der Hinzufügung ‚mafiöse Strukturen betrieben Bürgergeldbetrug‘ unter dem Druck einzelner Ruhrgebietspolitiker auf die bundespolitische Agenda gesetzt. Von dieser Ebene erfolgen nun wiederum die Signale zurück: ‚Wir sehen Euch, wir haben Euch nicht vergessen, stehen euch bei und wir sind dran, wir werden das Ruhrgebiet lebenswert halten‘.

„Als entscheidender Störfaktor für das Gedeihen der seit Jahrzehnten vernachlässigten Stadtteile werden die Zugewanderten aus Bulgarien und Rumänien wiederholt ausgemacht.“

Als entscheidender Störfaktor für das Gedeihen der seit Jahrzehnten vernachlässigten Stadtteile werden die Zugewanderten aus Bulgarien und Rumänien wiederholt ausgemacht. Dabei sind ihre armutsgeprägten Lebens- und Wohnsituationen Symptome genau dieser Vernachlässigung, die tiefer liegende strukturelle Hintergründe hat. Diese gilt es zu bearbeiten, anstatt den Aufenthalt jener Menschen pauschal und auf einer empirisch diffusen Grundlage zu delegitimieren und Ressentiments zu schüren. Womit die Frage nach der politischen Verantwortung zu stellen ist.

Um die Verantwortung soll es im Weiteren gehen, dabei ist die Existenz der folgenden Phänomene genauso wenig in Zweifel zu ziehen, wie die Notwendigkeit, adäquaten staatlichen Handelns (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): a) Vermietung von sanierungs- bis abrissreifen Häusern just zu Konditionen der vom Jobcenter festgesetzten Mietobergrenze, b) Überbelegung von Wohnungen, c) Arbeitgeber ist auch Vermieter, der vom Lohn überhöhte Kosten für die Unterkunft einbehält, d) Beantragung von aufstockenden Leistungen nach SGB II aufgrund unzureichenden Erwerbseinkommens, e) wie Punkt d, allerdings mit dem Ziel, Lohn und Sozialabgaben zu sparen, während die Beschäftigten undokumentiert in Vollzeit arbeiten, f) ebenfalls wie Punkt d aber ohne das ein realer Arbeitsvertrag besteht und in Kombination mit der Auszahlung von Leistungen an ein personenfremdes Konto etc. Diese Realitäten des deutschen Arbeits- und Wohnungsmarktes wurden nicht durch die Zugewanderten etabliert, die mehrheitlich ressourcenarm sind und nur in wenigen Fällen sind einzelne von ihnen die Nutznießenden. Worin die „mafiösen Strukturen“ bestehen, wenn der Begriff ernst gemeint sein soll und dann eine Kombination aus kriminellen Handlungen, wirtschaftlichen Interessen und Einfluss auf Politik und Verwaltung erfasst, wäre notwendige politische Aufklärung.

Die seit über zwei Jahrzehnten entwickelten Phänomene zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie nicht im Verborgenen stattfinden, sondern sichtbar und dokumentiert sind, spätestens dann, wenn Personen sich anmelden, Anträge auf Leistungsgewährung gestellt werden, für die eine Vielzahl an Dokumenten einzureichen ist. Vermieter sind genauso identifizierbar, wie Arbeitgeber kontrollierbar. Außenstehende – und das ist die absolute Mehrheit der Wählenden – können nicht nachvollziehen, wie es zu massenhaftem Betrug kommen kann, wenn nicht zugleich ein weitgehendes Staatsversagen vorliegen soll. Dass der rechtmäßige Aufenthalt der EU-Zugewanderten, genauso wie ihre Leistungsbereitschaft und der Wunsch, eine sichere Zukunft für ihre Kinder zu bauen, von der leitenden Lokalpolitik in Zweifel gezogen wird und bundespolitisch orchestriert ist, fördert nicht den sozialen Frieden und beruhigt keinen Konflikt in der Nachbarschaft.

„Die Menschen ohne Ansehen ihrer Herkunft und Zugehörigkeit gegen Ausbeutung zu schützen und sie in ihren Rechten zu stärken, wäre politisch verantwortliches Handeln.“

Die Handlungsfähigkeit der staatlichen Verwaltungen auch und gerade auf kommunaler Ebene ist gleichfalls eine Frage der politischen Verantwortung. Über das Duisburger Spezifikum den Einsatz einer sogenannten Task-Force zur Überprüfung von Wohnhäusern, die als Problem- oder Schrottimmobilien geführt werden, wurden in MiGAZIN wiederholt berichtet. Inzwischen gab es seit 2016 über 200 dieser Einsätze, die oft öffentlichkeitswirksam begleitet werden. Betroffen davon sind in großer Mehrheit bulgarische und rumänische Zugewanderte, unter denen Roma wiederum einen bedeutenden Anteil haben. Es ist Teil der lokalpolitischen Verantwortung, diese Realität nur defizitär zu deuten und nicht integrationspolitisch zu nutzen. Symptomatisch ist bei diesem Punkt, dass Dortmund 2016 ein Roma-Kulturfestival initiierte, das inzwischen überregional Beachtung findet, während die Stadtverwaltung Duisburg zeitgleich die Task-Force zum Einsatz brachte. Die Wirkung ist desintegrativ und richtet sich stark gegen Familien. Aus ihrem Aufenthalt leitet sich ein integrationspolitischer Auftrag ab, der mit einem Ausbau der sozialen und Bildungsinfrastruktur für die Stadt zukunftsorientiert wäre. In gleichem Maße würde eine realistische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen auf dem lokalen und regionalen Arbeitsmarkt – mit Niedriglöhnen, prekärer Beschäftigung und undokumentierter Arbeit – das Denkmodell eines massenhaften Betrugs mit Sozialleistungen und steuerfinanziertem Kindergeld weitgehend obsolet machen. Die Menschen ohne Ansehen ihrer Herkunft und Zugehörigkeit gegen Ausbeutung zu schützen und sie in ihren Rechten zu stärken, wäre politisch verantwortliches Handeln.

„Die Drohkulisse eines Ausplünderns des deutschen Sozialstaates durch Zuwandernde begleitet den EU-Erweiterungsprozess von Beginn an.“

Die Drohkulisse eines Ausplünderns des deutschen Sozialstaates durch Zuwandernde begleitet den EU-Erweiterungsprozess von Beginn an und sie diente dazu, die Zugangswege für EU-Bürger so eng wie nur möglich zu ziehen. Bundesweit wissen soziale Einrichtungen um die Folgen dieser Politik, die sich in ihrer extremsten Form in der Verelendung zugewanderter Menschen insbesondere aus Bulgarien, Rumänien und Polen auf offener Straße zeigen.

Dabei war und ist das fehlgehende Urteil von einer drohenden Zuwanderung in die Sozialsysteme keine ausschließlich rechtskonservative oder AfD besetzte Domäne, sondern wenigstens in Bezug auf die EU-Zuwanderung auch und gerade in den politischen Maßnahmen stark sozialdemokratisch geprägt. Als drohendes Massenphänomen wurde es wiederholt widerlegt, so auch auf der lokalen Ebene des medialen Hotspots für Leistungsmissbrauch Duisburg durch den Leiter des dortigen Jobcenters, der von Einzelfällen spricht.

Dem zum Trotz lautet die Argumentation: Regelungen auf Ebene der Europäischen Union und Nichthandeln der Bundespolitik würden Fehlanreize setzen, die auf der lokalen Ebene negative Konsequenzen hätten. Der Fehlanreiz wären nach dieser Lesart die niedrigen Hürden, um als erwerbstätig zu gelten, mit geringem Stundenumfang und Einkommen, womit die Möglichkeit auf den Bezug staatlicher Leistungen entsteht, wenn die Regelung zur Aufstockung in Anspruch genommen wird – was insbesondere bei Familien mit höherer Kinderzahl von Interesse sein kann. Die jüngste Forderung lautet daher, auf europäischer Ebene brauche es eine rechtlich verbindliche Definition, dass nur eine existenzsichernde Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit den Status als erwerbstätig und damit den Aufenthalt sichern kann. Mit diesem Vorschlag sind weder Lokalwahlen zu gewinnen, noch ist er umsetzbar. In Deutschland gilt als erwerbsfähig, wer mindestens drei Stunden am Tag arbeiten kann und das EU-Gleichbehandlungsgebot verbietet eine Schlechterstellung von Unionsbürgern. Nur so ist es möglich, dass die deutsche Gesellschaft seit Jahren von der Anwesenheit von über fünf Millionen Menschen mit einer EU-Staatsbürgerschaft profitiert. Ausgrenzende Diskurse der politisch Verantwortlichen im Wahlkampf bleiben in ihren Folgen nicht auf diesen beschränkt, sondern entwickeln ihre Konsequenzen zeitversetzt auf Kosten aller. (mig) Meinung

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