
Glücksspiel als Teilhabehindernis
Warum Deutschland von Europa lernen sollte
Glücksspiel trifft überproportional jene, die ohnehin wenig Chancen haben – oft auch Menschen mit Migrationserfahrung. Europas Regulierung zeigt Wege, wie gefährdete Gruppen besser geschützt werden können. Deutschland muss den Blick über den Tellerrand wagen.
Dienstag, 02.09.2025, 0:49 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.09.2025, 8:54 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Deutschland liebt Regeln – das gilt auch fürs Glücksspiel. Seit 2021 regelt der neue Glücksspielstaatsvertrag die Branche neu: Lizenzen für Online-Angebote, Einsatzlimits und eine zentrale Aufsichtsbehörde sollen für Ordnung sorgen. Auf den ersten Blick wirkt das System streng. Doch wer genauer hinschaut, erkennt Lücken – vor allem dort, wo es um soziale Gerechtigkeit geht. Denn Glücksspiel ist keine harmlose Freizeitbeschäftigung: Es betrifft besonders stark jene, die von Armut, Diskriminierung oder unsicheren Lebenslagen geprägt sind. Menschen mit Migrationserfahrung gehören oft dazu. Für sie kann Glücksspiel zum vermeintlichen Ausweg werden – mit dramatischen Folgen.
Glücksspiel als soziales Risiko
Studien zeigen, dass Menschen aus sozial benachteiligten Schichten häufiger spielsüchtig werden. Die Gründe sind vielfältig: ökonomische Unsicherheit, fehlende Teilhabechancen, die Suche nach Ablenkung und Hoffnung. Gerade Geflüchtete und Migrant:innen sind überdurchschnittlich oft von solchen Faktoren betroffen – weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert wird, weil Bildungswege blockiert sind oder weil Diskriminierung Aufstieg verhindert. In diesem Kontext wirkt Glücksspiel wie ein Versprechen auf schnellen Gewinn – und entpuppt sich allzu oft als Schuldenfalle.
Das Problem ist kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Auch in anderen europäischen Ländern sehen Politik und Behörden, dass gerade vulnerable Gruppen besonderen Schutz brauchen. Die Frage ist: Welche Maßnahmen funktionieren – und was kann Deutschland davon lernen?
Dänemark: Ein Klick stoppt alles
Dänemark hat mit ROFUS ein Selbstausschluss-System etabliert, das als Vorbild gelten kann. Wer sich einträgt, ist nicht nur online, sondern auch in Wettbüros automatisch gesperrt. Seit 2023 gilt das System sogar für Einzelhandelswetten – eine Lücke, die in Deutschland noch klafft. Mehr als 60.000 Menschen nutzen ROFUS bereits. Für Migrant:innen, die oft verschiedene Kanäle parallel nutzen, schafft dieser zentrale Schutz eine klare Barriere gegen Rückfälle.
Spanien: Gerichtsstreit um Werbung
Spanien setzte 2020 strenge Werbebeschränkungen durch: Nachtfenster im Fernsehen, Einschränkungen bei Boni, Verbot von Social-Media-Targeting. Doch die Gerichte hoben Teile der Regeln wieder auf. Trotzdem bleibt das Ziel: weniger aggressive Anwerbung, besonders bei jungen Menschen. Werbung trifft nämlich oft migrantische Communities über Fußball und Influencer-Kanäle – genau dort, wo Zugehörigkeit und Identität eine Rolle spielen. Spanien zeigt, wie hart es ist, zwischen Konsumfreiheit und Schutz abzuwägen – und wie wichtig eine solide rechtliche Grundlage ist.
Italien: Werbeverbot mit Nebenwirkungen
Italien ging noch weiter: Ein nahezu vollständiges Werbeverbot kappte Sponsoring im Fußball. Trikots ohne Wettlogos, Stadien ohne Jingles – ein radikaler Schnitt. Für die Clubs war das schmerzhaft, doch für Jugendliche, darunter viele mit Migrationsgeschichte, verschwand eine ständige Versuchung. Heute diskutiert Italien über eine Lockerung, aber der Grundgedanke bleibt: Schutz vor schädlicher Normalisierung. Die Erfahrung zeigt: Auch harte Maßnahmen können Wirkung entfalten – wenn sie klar kommuniziert und flankiert werden.
Belgien: Härte gegen Kreditkarten
Belgien verschärfte zuletzt die Regeln massiv: höheres Mindestalter, weitgehendes Werbeverbot und vor allem Einschränkungen beim Einsatz von Kreditkarten, ohne Pause spielen ist kompliziert geworden. Gerade für Menschen in prekären Lebenslagen – etwa mit unsicherem Aufenthaltsstatus oder niedrigen Einkommen – sind Kreditlimits ein entscheidender Schutz. Ohne einfache Verfügbarkeit von Schulden sinkt das Risiko, sich ins Verderben zu spielen. Belgien zeigt, wie Regulierung soziale Verantwortung übernehmen kann.
Deutschland: Limits ohne soziale Brille
Deutschland hat ebenfalls Limits eingeführt: maximal 1.000 Euro Einzahlung pro Monat, fünf Sekunden Pause pro Dreh am Automaten. Die zentrale Aufsichtsbehörde GGL überwacht Online-Angebote und geht gegen illegale Plattformen vor. Doch die Maßnahmen sind technokratisch gedacht, nicht sozial. Sie richten sich an alle gleichermaßen – ohne zu berücksichtigen, dass bestimmte Gruppen stärker gefährdet sind. Migrant:innen, Geflüchtete, prekär Beschäftigte: Für sie braucht es gezieltere Schutzinstrumente.
Ein Beispiel: Während die Einzahlungsgrenze formal für alle gilt, ist ihre Wirkung auf Menschen mit sehr unterschiedlichem Einkommen völlig verschieden. Wer gut verdient, spürt das Limit kaum. Wer aber ohnehin wenig hat, kann mit wenigen hundert Euro schon in existenzielle Not geraten. Deutschland denkt Glücksspielpolitik bislang nicht aus einer Gerechtigkeitsperspektive – sondern aus einer Verwaltungslogik.
Was Deutschland lernen kann
Die europäischen Beispiele machen deutlich: Es geht nicht nur um Regulierung, sondern um Schutz vor sozialem Abstieg. Für Deutschland bedeutet das:
- Zentraler Selbstausschluss: Ein Klick, der alle Kanäle sperrt – wie in Dänemark. Das schützt besonders Menschen, die mehrere Zugänge nutzen.
- Gezielte Werberegeln: Vorbilder wie Spanien und Italien zeigen, wie wichtig klare Grenzen sind – gerade bei Sport und Social Media, die migrantische Communities stark prägen.
- Soziale Schutzmechanismen: Einschränkungen von Kreditkarten oder sofortige „Realitätschecks“ beim Bezahlen können verhindern, dass Schuldenfalle und Spielsucht Karrieren und Integration zerstören.
- Transparenz: Öffentliche Daten, Sanktionen und Rankings machen klar, welche Anbieter Verantwortung übernehmen – und welche nicht.
Fazit: Teilhabe statt Risiko
Glücksspielregulierung ist keine Randfrage. Sie entscheidet mit darüber, ob Menschen mit Migrationserfahrung und in prekären Lebenslagen eine faire Chance auf Teilhabe haben – oder ob sie in Schulden und Abhängigkeit geraten. Europas Beispiele zeigen: Strenge Regeln schützen nicht nur die Allgemeinheit, sondern gerade jene, die am stärksten gefährdet sind.
Deutschland sollte daraus lernen. Denn wer über Integration spricht, darf Glücksspiel nicht ignorieren. Es ist mehr als ein Freizeitvergnügen – es ist eine soziale Frage. (eb) Panorama
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