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Samy Charchira © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Dänemark

Teilhabechancen erhöhen statt „Ghetto-Gesetz“

Dänemark will mit einem Gesetz Parallelgesellschaften entgegenwirken. Das ist richtig und wichtig. Das „Ghetto-Gesetz“ schießt aber zum Teil weit über das Ziel hinaus.

Von Mittwoch, 14.04.2021, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 13.04.2021, 19:21 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Der seit Jahren andauernde Streit in Dänemark wird mit dem historisch belasteten Begriff „Ghettoisierung“ betitelt. Dabei handelt sich im Wesentlichen um eine Form von urbaner Segregation. Mehr als 30 Stadtviertel sind als „Ghetto-Gebiet“ ausgewiesen und gelten daher als „gefährdet“. Unter diesen Bezeichnungen leiden an erster Stelle die betroffenen Einwohner:innen selbst. Denn urbane Segregation bedeutet eingeschränkte Lebensqualität, Ungleichverteilung von kommunalen Ressourcen und Förderung von Vorurteilen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren sowie die soziale Infrastruktur schwächen. Also Effekte und Folgen, die niemandem helfen und die es abzustellen gilt. Insofern ist die Zielsetzung der dänischen Regierung richtig, das gewählte Instrument jedoch falsch.

Das umstrittene „Ghetto-Gesetz“ ist an nicht wenigen Stellen diskriminierend und veranlasste gar das UNO-Komitee für ökonomische, kulturelle und soziale Rechte dazu, Dänemark zur Korrektur ihrer Integrationspolitik aufzufordern. Denn für die Klassifizierung von Stadtteilen als „Ghettos“ oder „gefährdete“ Räume wird der Anteil von „nicht-westlichen“-Einwohner:innen herangezogen. Insofern lässt sich das Gesetz auch kaum mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz in Einklang bringen, da es örtlich begründete und exklusive Repressalien vorsieht, die primär auf die migrantische Bevölkerung in Dänemark abzielen:

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„Einwohner:innen in ‚Ghettos‘ sollen Sozialleistungen gekürzt werden, wenn sie ihre Kinder nicht in eine Vorschuleinrichtung schicken. Ihnen soll das Kindergeld gestrichen werden, wenn ihre Kinder an mehr als 15 Prozent der Unterrichtszeit fehlen – für Bevölkerungsgruppen in anderen Stadtteilen sollen diese Regelungen nicht gelten.“

So sollen Einwohner:innen in den identifizierten Stadtteilen Sozialleistungen gekürzt werden, wenn sie ihre Kinder nicht in eine Vorschuleinrichtung schicken; ihnen soll das Kindergeld gestrichen werden, wenn ihre Kinder an mehr als 15 Prozent der Unterrichtszeit fehlen – für Bevölkerungsgruppen in anderen Stadtteilen sollen diese Regelungen nicht gelten. Vandalismus und Diebstahl sollen in den erklärten „Ghettos“ doppelt so hart bestraft werden als in anderen Wohngegenden, was defacto der Einführung von doppelten Standards in staatlicher Rechtsprechung gleichkäme.

Teilhabechancen erhöhen

Benachteiligte Stadtteile und Wohnviertel zu identifizieren ist sehr wichtig, aber nicht um diese Orte zu stigmatisieren oder ihre Einwohner:innen mit Repressalien zu überziehen, sondern um konkrete sozial- und integrationspolitische Maßnahmen zu ergreifen und gesellschaftliche Teilhabechancen zu erhöhen. Ziel dabei muss immer sein, den betroffenen Menschen dabei zu helfen, prekäre Lebenssituationen zu überwinden. Das ist Ausdruck verantwortungsvoller und zielgerichteter kommunaler Politik, die den Menschen hilft und Lebensräume lebens- und liebenswert macht.

„Ghettoisierung hat mit Benachteiligung und mangelnder Wahlfreiheit zu tun. Wo sich Menschen Mieten nicht leisten können und an die Stadtränder verdrängt werden, da wo Menschen wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe bei der Wohnungssuche diskriminiert werden und deshalb ihren Wohnort nicht frei wählen können, dort entstehen segregierte Räume.“

Ghettoisierung hat mit reduzierten Partizipationsmöglichkeiten, Benachteiligungen und mangelnder Wahlfreiheit zu tun. Wo sich Menschen aufgrund von Gentrifizierung Mieten nicht mehr leisten können und an die Stadtränder verdrängt werden, da wo Menschen wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert werden und deshalb ihren Wohnort nicht frei wählen können, dort entstehen segregierte Räume. Wer das verhindern möchte, benötigt die richtigen sozialpolitischen Instrumente.

Integrationspolitik ganzheitlich denken

Moderne Integrationspolitik braucht auch kluge Wohnungspolitik, die eine soziale Durchmischung von Einwohner:innen fördert und soziale Infrastruktur stärkt. Sie braucht Konzepte zur Erhöhung der gesellschaftlichen Partizipation von Migrant:innen. Ein schlagkräftiges Antidiskriminierungsgesetz etwa kann Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt verhindern und dafür sorgen, dass die Menschen echte Wahlmöglichkeit bei der Wohnungssuche haben. Sie braucht wirkungsvolle Maßnahmen gegen eine Gentrifizierung, um zu verhindern, dass Einwohner:innen aus ihren Quartieren in belastete soziale Räume gedrängt werden. Und sie braucht eine familienstützende und Kinder- und Jugendliche fördernde Sozialpolitik. Was sie jedoch nicht braucht, ist eine stigmatisierende und diskriminierende Integrationspolitik. Meinung

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