
Angeschwemmt
Vor zehn Jahren ging das Foto des toten Alan Kurdi um die Welt
Das Foto des ertrunkenen Alan Kurdi an der türkischen Küste löste vor zehn Jahren Bestürzung und Hilfsbereitschaft mit Geflüchteten aus. Dennoch sterben weiter Menschen im Mittelmeer – im Schnitt fast ein Kind täglich.
Von Natalia Matter Montag, 01.09.2025, 11:42 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03.09.2025, 16:23 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Ein Kleinkind in blauer Hose und rotem T-Shirt bäuchlings im Sand, der Kopf im flachen Wasser auslaufender Wellen – vor zehn Jahren wurde der zweijährige syrische Flüchtlingsjunge Alan Kurdi tot an der türkischen Ägäis-Küste angeschwemmt. Die Aufnahmen der Fotografin Nilüfer Demir des kleinen Leichnams liefen laut dem Forschungsverbund Visual Social Media Lab innerhalb von zwölf Stunden über die Bildschirme von fast 20 Millionen Menschen.
Alan Kurdi ertrank zusammen mit seinem vierjährigen Bruder Ghalib und seiner Mutter Rehanna am 2. September 2015 beim Versuch, mit einem Schlepperboot von der türkischen Küste zur rund vier Kilometer entfernten griechischen Insel Kos zu gelangen. „Das Einzige, was ich für ihn tun konnte, war den verstummten Schrei seines leblosen Körpers hörbar zu machen“, sagte Fotografin Demir, die Alans Leichnam am Strand nahe Bodrum fand, danach in Interviews. „Und das konnte ich nur durch ein Bild von ihm.“
„Man kann klar sagen, das Foto hat etwas bewegt“, sagt der Migrationsforscher Bastian Vollmer. Es habe zu einer Verschiebung im gesellschaftlichen Diskurs über Flucht und Migration beigetragen, sei ein „Wachrüttler“ gewesen. Was zunächst als friedlich schlafendes Kind wahrgenommen werde, stelle sich nach der automatischen Frage, was da passiert sei, als ertrunkenes Kind heraus. „Weil man sich diese Frage stellt, ist das Bild so wirkungsmächtig“, erläutert der Sozialwissenschaftler von der Katholischen Hochschule Mainz.
Erweckungsmoment
Das Foto habe Menschen mobilisiert und dazu beigetragen, dass Geflüchtete als Leidtragende wahrgenommen wurden, die Hilfe verdienen, erläutert Vollmer. Die Veränderung des Diskurses habe zu Protesten geführt, zu großer Hilfsbereitschaft und letztlich auch zu der Einreiseerlaubnis für Tausende vor allem syrische Geflüchtete, die in Ungarn festsaßen.
Auch für Gorden Isler, den Vorsitzenden der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye, war das Foto eine Art „Erweckungsmoment“. Er habe nicht nur das Bild gesehen, sondern auch die „moralisch verkommenen Kommentare dazu“, mit denen Menschen unter Klarnamen direkt unter dem Foto ihrem Hass auf Geflüchtete freien Lauf gelassen hätten. „Das hat mich tief getroffen und sehr bestürzt.“ Auch anderen Sea-Eye-Kollegen sei es so ergangen. Das sei klar geworden, als die Entscheidung fiel, das dritte Schiff der Organisation auf den Namen „Alan Kurdi“ zu taufen. „Uns allen hat der Name etwas bedeutet.“
Diskursverschiebung
Von 2018 bis zu ihrem Verkauf nach der zweimaligen Festsetzung durch die italienischen Behörden im Jahr 2021 wurden mit der „Alan Kurdi“ laut Isler in zwölf Einsätzen über 900 Menschen gerettet. Das vierte Sea-Eye-Schiff sollte eigentlich nach Alans Bruder Ghalib benannt werden. Doch die Hasskommentare in den sozialen Netzwerken in Zusammenhang mit der „Alan Kurdi“ hätten die Familie des Jungen schwer belastet. „Wir haben uns dagegen entschieden, damit dieser Schmerz nicht immer wieder erneuert wird.“
Dass der Name des Jungen im Laufe der Zeit instrumentalisiert wurde, hat auch Sozialwissenschaftler Vollmer beobachtet. Inzwischen passiere zudem genau das Gegenteil von dem, was 2015 und in den Jahren danach geschah: „Es gibt eine ganz heftige Diskursverschiebung in die andere Richtung“, gegen Geflüchtete und Migranten. Es habe eine Verrohung in der Sprache stattgefunden. „Und das ist höchstgradig besorgniserregend.“
Enttäuschung
Der Sea-Eye-Vorsitzende Isler ist enttäuscht von den Medien und der Politik. Trotz des Eindrucks durch das Foto des toten Alan Kurdi und der Solidarität 2015 habe sich nichts verbessert für Menschen auf der Flucht. „Seitdem ist nicht in einem EU-Mitgliedsstaat ein Gesetz verabschiedet worden, in dem es darum geht, den Schutz von Schutzsuchenden zu erhöhen.“ Im Gegenteil, das Grenzregime werde immer brutaler. „Da ist es auch nicht verwunderlich, dass so viele Kinder an den Grenzen sterben.“
Unicef-Schätzungen zufolge sind allein im zentralen Mittelmeer in den vergangenen zehn Jahren etwa 3.500 Kinder gestorben – andere Routen und EU-Außengrenzen nicht mitgerechnet. „Das ist seit dem Tod von Alan Kurdi etwa jeden Tag ein Kind“, betont Isler. „Wieso ist das keine Geschichte mehr, wieso wird darüber nicht mehr berichtet?“ (epd/mig) Aktuell Panorama
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