
Nach tödlichem Brandanschlag
Ungeheuerlicher Verdacht zum Prozess-Finale: Wird ein „Solingen 2.0“ verhindert?
Dem geständigen Solinger Brandstifter droht wegen vierfachen Mordes die Höchststrafe – allerdings soll die Tat laut Staatsanwaltschaft nicht rassistisch motiviert gewesen sein. Die Opferberatung kritisiert die Ermittlungen scharf. Beobachter hegen zum Ende des Prozesses einen ungeheuerlichen Verdacht.
Dienstag, 29.07.2025, 15:02 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 29.07.2025, 16:33 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Nachbarn beschrieben ihn als freundlich und hilfsbereit. Doch der psychiatrische Gutachter hält ihn für hochgefährlich. Wer ist Daniel S. (40)? Er hat den vierfachen Feuermord von Solingen, weitere Brandstiftungen in Wohnhäusern und eine Macheten-Attacke auf einen langjährigen Freund gestanden.
Der Staatsanwalt hat am Montag die Höchststrafe für ihn beantragt: lebenslange Haft, die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und anschließende Sicherungsverwahrung. Mehrere Nebenkläger haben sich dem angeschlossen. An diesem Mittwoch (30. Juli) wird das Urteil erwartet.
„Wir rechnen damit, dass unser Mandant die volle Packung bekommt“, hatte Verteidiger Marc Françoise gesagt. Damit nähert sich ein spektakulärer Prozess dem Ende. Trotz des raschen Geständnisses kamen immer wieder neue Wendungen ans Licht. Die Polizei musste auf Druck der Nebenklage umfangreich ermitteln.
Zweifel am behaupteten Motiv
Vor allem die Zweifel am behaupteten Motiv des 40-Jährigen nahmen im Prozessverlauf zu. War es tatsächlich Stress mit der ehemaligen Vermieterin, obwohl er doch schon lange nicht mehr in dem Haus wohnte? Und welches Motiv war es dann bei einem weiteren Haus, in dem er Feuer legte?
Oder hat es sich um einen weiteren rassistisch motivierten Mordanschlag in Solingen gehandelt? Nebenklage-Vertreterin Seda Başay-Yıldız brachte in den vergangenen Monaten durch eigene Recherchen einiges zutage, dass auf eine rechte Gesinnung des Angeklagten deutete. Sogar ein später überarbeiteter Aktenvermerk kam ans Licht, wonach die Polizei zwischenzeitlich selbst diesen Verdacht hegte: Eine Polizei-Notiz, wonach die Tat „rechts“ eingeordnet wurde. Başay-Yıldız zeigte im Laufe der Ermittlungen den Wuppertaler Polizeipräsidenten und mehrere Polizisten an. Verdacht: Zurückhaltung von Beweismaterial, das auf ein rechtsradikales Motiv des Angeklagten deuten könnte.
Indizien für rechtsradikale Einstellung
Die Indizien: Ein Zettel mit einem rassistischen Gedicht in einer vom Angeklagten genutzten Garage, ein rassistischer Chat mit seiner Freundin und 166 rechtsextreme Dateien auf einer Festplatte, von denen nicht klar ist, wem sie zuzurechnen sind. In einer leerstehenden Wohnung des Hauses, in dem der Angeklagte wohnte, wurde Literatur über NS-Größen gefunden – darunter eine Ausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf“. Der Sohn hatte Zugang, aber wem gehören die Bücher? Brisant: In den Ermittlungsakten wurden diese Bücher zunächst mit keinem Wort erwähnt. Teilweise wurden die Funde in den Prozess sehr spät eingebracht – nicht mit Bekanntwerden, sondern erst nach Intervention. Das brachte zeitweilig sogar den Richter aus der Fassung.
Für die Staatsanwaltschaft sind die Indizien „Spekulationen ohne echten Beweiswert“, schließlich seien in der Garage auch Materialien der eher links zu verortenden Satirepartei „Die Partei“ entdeckt worden. Das digitale Leben des Angeklagten sei zehn Jahre rückwirkend durchleuchtet worden, ohne Kontakte zu rechten Gruppen oder Hinweise auf eine stille Radikalisierung zu entdecken.
Prozessbeobachter kritisieren Staatsanwaltschaft
Die Opferberatung Rheinland indes widerspricht – mit Verweis auf Verbindungen des Tatverdächtigen zu Identitären. Die Staatsanwaltschaft habe am Dienstag gut die Hälfte seines Plädoyers darauf verwendet, auch nur den Verdacht eines rassistischen Tatmotivs als „vorurteilsgeleitet“ zu kritisieren, sowie Nebenklagevertreter:innen, Presse und kritische Zivilgesellschaft für „unverschämte Unterstellung“ zurechtzuweisen.
Bei dem tödlichen Feuer am 25. März 2024 starb in Solingen eine türkeistämmige Familie aus Bulgarien im Dachgeschoss – die 28 und 29 Jahre alten Eltern und ihre beiden Töchter im Alter von drei Jahren sowie wenigen Monaten. Der geständige S. wohnte selbst früher im Hinterhaus des Brandhauses. Nach einem Streit mit seiner Vermieterin musste er ausziehen.
Erschütternde Szenen
Feuerwehrleute, Anwohner und Überlebende hatten erschütternde Szenen aus der Brandnacht geschildert. Das Feuer habe sich rasant über das hölzerne Treppenhaus durch die Etagen in die Höhe gefressen: „Mein Fenster war genau gegenüber. Ich habe gesehen, wie die gebrannt haben“, berichtete ein Nachbar.
Eine 21-Jährige sagte, sie habe mit ansehen müssen, wie ihr Bruder aus dem dritten Stock in die Tiefe sprang. Ihre Cousine sei auch gesprungen und auf einem Auto aufgeprallt.
Zu diesen traumatischen Erlebnissen kamen nur wenige Tage nach dem Brand psychische Wunden hinzu: Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren und obwohl Indizien für eine rechtsextreme Motivation der Tat gefunden wurden, schloss die Polizei frühzeitig eine rassistische Tatmotivation aus.
Der Mann mit dem Rucksack
Aufnahmen aus Überwachungskameras hatten die Ermittler auf die Spur des 40-Jährigen gebracht: Sie hatten den früheren Mieter in der Brandnacht gleich mehrmals in der Nähe des Brandhauses mit Rucksack aufgezeichnet – als einzigen in der fraglichen Zeit.
Die Ermittler hatten bereits einen Durchsuchungsbeschluss für seine Wohnung beantragt, als sich in Solingen am 8. April 2024 ein weiteres unheimliches Verbrechen ereignete: Mit einer Machete und zwei wuchtigen Hieben hatte der Deutsche auf den Kopf eines Freundes eingehackt. Das Opfer überlebte lebensgefährlich verletzt.
Im Keller des Arbeitslosen fanden die Ermittler dann ein Arsenal aus Brandbeschleunigern und Utensilien für Zünder. Die Anklage legt Daniel S. auch noch zwei ältere Brandstiftungen zur Last – im November 2022 und im Februar 2024. In beiden Gebäuden hielten sich zur jeweiligen Tatzeit Menschen auf. Deswegen könnte er für Mordversuche an insgesamt 20 Menschen verurteilt werden.
Zwei weitere Taten?
Während des Prozesses geriet Daniel S. sogar noch für zwei weitere Brandstiftungen in Verdacht, die nicht Teil der Anklage sind. So soll er nach einem Streit mit einem marokkanischen Nachbarn im Wohnhaus seiner Freundin in Wuppertal Feuer gelegt haben, kurz nachdem diese ausgezogen war. Auch das Auto einer Ex-Freundin wurde Ziel eines Brandanschlags.
Die Ermittlungen zum Feuer im Wuppertaler Wohnhaus waren mit der vermeintlichen Brandursache „technischer Defekt“ schnell eingestellt worden, obwohl an zwei Stellen im Haus gleichzeitig Feuer ausgebrochen war.
Inzwischen geht ein Gutachter von einem Brandanschlag aus. Gegen Daniel S. wird deswegen inzwischen gesondert ermittelt. Wäre damals richtig ermittelt worden, hätte dies vielen Menschen viel Leid ersparen können, sagte ein Anwalt der Nebenkläger am Montag.
Angehörige wollen Gerechtigkeit
Der psychiatrische Gutachter hatte ein drittes Motiv ins Spiel gebracht: Die Brandstiftungen von Daniel S. hätten weniger den betroffenen Menschen gegolten, sondern seien sein destruktiver Umgang mit Druck und Stress. „Es geht um ihn selbst, um seine Selbststabilisierung“, erläuterte der Psychiater vor Gericht. Er werte andere Menschen ab, um sich aufzuwerten. Dies sei „in hohem Maße gefährlich“.
Ein Bruch in seiner Biografie sei die Trennung seiner Eltern gewesen, die ihn als Grundschüler aus seiner vertrauten Umgebung in Solingen nach Mecklenburg-Vorpommern katapultiert habe, berichtete Psychiater Pedro Faustmann. Dort sei er in die Drogenszene geraten und inzwischen langjähriger Drogenkonsument von Amphetaminen.
Tränen im Gerichtssaal
Beim Prozessbeginn trugen die Angehörigen im Gerichtssaal schwarze T-Shirts mit dem Foto der ermordeten Familie und dem Schriftzug „Adalet“, türkisch für „Gerechtigkeit“. Es flossen immer wieder Tränen.
Die Nebenkläger sind in der Frage eines rassistischen Motivs gespalten: „Es gibt eine ganze Reihe von Indizien, die für eine rechte Gesinnung des Angeklagten sprechen“, sagt einer ihrer Anwälte. „Aber das reicht nicht aus.“ Ein anderer sieht einen rassistischen Mord naheliegend: „Er wollte die Menschen in diesem Haus töten und das tat er auch. Sie wurden Opfer, weil sie Ausländer waren.“
Opferberatung fordert Aufklärung
Die Opferberatung kritisiert lückenhafte sowie tendenziöse Ermittlungen. „Hinweise auf rechtsextreme Inhalte wurden teilweise gar nicht dem zugeordnet oder als nicht relevant eingestuft“, kritisiert Jan-Robert Hildebrandt, Berater der Opferberatung. Er fragt: „Wie kann unter diesen Umständen sicher ausgeschlossen werden, dass Rassismus eine Rolle gespielt hat?“
Der Fall Solingen reihe sich ein in eine lange Reihe von Gewalttaten gegen Menschen mit Migrationsgeschichte, bei denen mögliche rassistische Motive von Ermittlungsbehörden nicht systematisch geprüft wurden. „Dabei wäre es nach den Erkenntnissen aus dem NSU-Komplex längst geboten, genau diese Perspektive proaktiv mitzudenken“, ergänzt Sabrina Hosono, Bildungsreferentin bei der Opferberatung. Der Staat habe sein Schutzversprechen nicht eingelöst.
Ungeheuerlicher Verdacht
Hinter vorgehaltener Hand munkeln Beobachter in Solingen, Staat, Stadt und die Justiz täten alles, um ein „zweites Solingen“, ein „Solingen 2.0“ zu verhindern. Bereits im Jahr 1993 wurden bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag auf ein Wohnhaus in der Stadt fünf Personen der türkischen Familie Genç ermordet.
Der Fall schlug damals national und international hohe Wellen und gilt als eines der schwersten rassistischen Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Stadtgesellschaft erinnert jedes Jahr am 29. Mai an dieses Verbrechen. Nun wird weiter gemunkelt, die Stadt wolle keinen zweiten Gedenktag am 25. März. (dpa/mig)
Aktuell PanoramaBrandanschlag von 1993 in Solingen: Das Verbrechen war einer der folgenschwersten rassistisch motivierten Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte: Zwei Frauen und drei Mädchen wurden getötet, als vier junge Neonazis in der Nacht zum Pfingstsamstag 1993 das Haus der türkischstämmigen Familie Genç in der Unteren Wernerstraße in Solingen anzündeten. Auch damals wurde Brandbeschleuniger benutzt, und eine Flucht durchs Treppenhaus war durch die sich rasch ausbreitenden Flammen versperrt. Der Anschlag von 1993, der vor dem Hintergrund einer aggressiven Asyldebatte in einem fremdenfeindlichen gesellschaftlichen Klima verübt wurde, rief weltweit Entsetzen hervor. Das Bild vom Haus mit dem ausgebrannten Dachstuhl ging um die Welt. In den Flammen verbrannten und erstickten Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). Die 27 Jahre alte Gürsün Ince starb beim Sprung aus dem brennenden Haus. Weitere Familienmitglieder wurden schwer verletzt, drei von ihnen lebensgefährlich. Die vier Brandstifter aus der Neonazi-Szene wurden 1995 zu Haftstrafen verurteilt: Ein 23-jähriger erhielt 15 Jahre Gefängnis, seine drei Komplizen im Alter von 16 bis 20 Jahren die im Jugendstrafrecht vorgesehene Höchststrafe von zehn Jahren. Alle vier kamen bis 2005 wieder auf freien Fuß, drei von ihnen vorzeitig.
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