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MiGAZIN Kolumnist Sven Bensmann © privat, Zeichnung MiG

Nebenan

Vergifteter Diskurs

Diskussionen ersticken, Diplomatie verweigern, Recht brechen – die Bundesregierung setzt immer mehr auf Realitätsverweigerung. So gedeiht nicht Frieden, sondern Faschismus.

Von Montag, 16.06.2025, 10:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 16.06.2025, 13:08 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Wir haben verlernt, miteinander zu diskutieren. Statt einander zuzuhören, wird Widerspruch schon allein dadurch desavouiert, dass er unserer Meinung widerspricht. Fruchtbareren Boden kann Faschismus nicht finden.

Der Krieg gegen Russland ist durch Europa, zumal ohne US-amerikanische Schützenhilfe, nicht zu gewinnen. So viel kann unter Experten als Konsens betrachtet werden. Dafür spricht, dass trotz des Coups, dass die Ukraine einen signifikanten Teil der russischen Luftstreitkräfte zerstört hat, derzeit fast täglich von Luftangriffen berichtet wird, die zu „den schwersten seit Kriegsbeginn“ zählten. Glaubt man den Angstmachern, hat Russland sogar derart große zusätzliche Kapazitäten, dass es parallel zum laufenden Krieg auch noch einen Großangriff auf die NATO innerhalb dieses Jahrzehnts vorbereiten kann. Es sei denn natürlich, es wird gerade wieder einmal von einem x-ten Sanktionspaket gegen Russland gesprochen, denn dann sind wir stets kurz davor, das Land vollends in die Knie zu zwingen.

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Trotzdem hält die deutsche Regierung eisern daran fest, jeden diplomatischen Dialog zu verweigern; nur ein totaler Sieg der Ukraine über Russland ist vielen ein akzeptables Ergebnis. Als Grund für die Weigerung wird gern angeführt, Russland sei ja nicht dazu bereit, die eigene Maximalposition aufzugeben. Eigentlich wäre es zwar gerade die Aufgabe von Diplomatie, sich an einen Tisch zu setzen und eine Lösung zu verhandeln, in Folge derer dann gegebenenfalls auch Maximalpositionen aufgegeben würden, aber nu. Und warum sollte Russland als Militärmacht in der Oberhand eigentlich Verhandlungen mit der EU aufnehmen, wenn die ihrerseits nicht bereit ist, ihre Maximalpositionen zu räumen?

„Über 160 Asylbewerber sollen deutschlandweit mittlerweile wohl schon zurückgewiesen worden sein. Eine echte Notlage.“

Entsprechend vorhersehbar war daher auch die Reaktion auf das „Manifest“ aus den Reihen der SPD, das einen Anlass hätte bieten können, sich ehrlich zu machen, von illusorischen Luftschlössern zu befreien und in der Außenpolitik mehr an Machbarkeit und Diplomatie zu orientieren – um einen Krieg zu beenden, unter dem tagtäglich Millionen leiden – als an totalitärer Rhetorik. Ob jenes Manifest nun in seinen Analysen, seinen Diagnosen und seinen Propositionen im einzelnen Recht hatte, können wir dabei getrost dahingestellt lassen, denn die derzeitige Mehrheitsposition bietet ja keine wirklichkeitsnähere Alternative – außer einem permanenten Krieg, der uns Milliarden Euro und die Ukraine Millionen Menschen kosten würde. Das allein nötigte uns eigentlich ein Überdenken unserer Position ab.

Leider gehört es aber schon jetzt zum Charakter dieser Regierung, der Wirklichkeit den Kampf angesagt zu haben. Auch an den deutschen Außengrenzen will man sich, 40 Jahre nach der Einigung von Schengen, schließlich mit der Realität nicht mehr so recht abfinden. Viel Geld wird derzeit eingesetzt, um womöglich ebenso hohen wirtschaftlichen Schaden zu verursachen, um Nachbarn zu verprellen, Wahlen zugunsten von rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten zu verschieben und – last but not least – ein paar Dutzend Menschen abzuweisen. Über 160 Asylbewerber sollen es deutschlandweit mittlerweile wohl schon sein. Eine echte Notlage.

Die CDU-geführte Regierung folgt so einer Methode, für die sie extra eine Bildungsreise nach Florida unternommen hatte, nämlich geltendes Recht einfach nicht mehr anzuerkennen und die (Achtung!) normative Kraft des Faktischen einfach über solches Recht zu setzen. Noch ist der Ton hierzulande zwar nicht der der USA, noch rollen keine Panzer durch die Hauptstadt oder marschieren Elitesoldaten gegen Protestierende. Aber das ist zuerst einmal nur eine Stilfrage. Rechtsbruch ist Rechtsbruch.

Andererseits: So ein bisschen Realitätsverweigerung ist ja vielleicht auch ganz gesund.

Also:

  • Trump ließ nicht, wie ein Diktator, zu seinem Geburtstag eine Militärparade veranstalten.
  • In Polen ist die Entpisisierung nicht gescheitert.
  • Wir befinden uns nicht auf bestem Wege zu einer globalen Temperaturerhöhung von im weltweiten Durchschnitt über 4 °C.
  • Es gibt kein Massenaussterben.
  • Giftiges Mikroplastik ist nicht längst in jede Zelle unseres Körpers gewandert.
  • Deutschland und Europa achten die Menschenrechte aller, nun ja, Menschen
  • Die israelische Regierung hat auch in den letzten Monaten nicht mehr für den weltweiten Antisemitismus getan, als Martin Luther und Adolf Hitler in über 500 Jahren Zeitgeschichte.
  • Die Welt steht nicht in Flammen.

Da fühlt man sich gleich besser, oder?

Vielleicht machen die Rechten es also genau richtig: Einfach ignorieren, nichts tun und auf den Weltuntergang freuen. Und wenn sich durch einen blöden Zufall doch noch eine weltrettende Technologie ergeben sollte, dann is auch nicht schlimm. Muss aber nicht. Sicher, für unsere Kinder is‘ schade. Aber wir sind ja nicht unsere Kinder. Sucks for them.

Ich gehe sogar noch weiter: Gebt die harten Drogen frei. Dann tut’s nicht so weh. Meinung

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