
„Ethnische Wahl“
Von der Wahlurne zur Ausweisung
Das Narrativ der ‚ethnischen Wahl‘ inszeniert das Wahlverhalten von Menschen mit Migrationsgeschichte als Bedrohung – und bereitet ideologisch die Forderung nach Remigration vor.
Von Kiran Bowry Mittwoch, 04.06.2025, 10:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 05.06.2025, 7:56 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Das vom Recherchekollektiv Correctiv aufgedeckte Treffen führender AfD-Funktionäre, rechtsextremer Akteure und einflussreicher Unternehmer in Potsdam rückte Ende 2023 einen Begriff ins Zentrum der Aufmerksamkeit: „Remigration“. Gemeint ist damit die massenhafte staatliche Ausweisung von Menschen mit Migrationsgeschichte.
Weniger bekannt, aber ebenso brisant, ist ein zweiter Begriff, der dort fiel: „ethnische Wahl“. Neurechte Vordenker behaupten damit, Menschen mit Migrationsgeschichte würden aus ethnischer Loyalität statt politischer Überzeugung wählen – und so das Wahlergebnis verzerren. Diese Erzählung speist sich aus einem ideologischen Unterbau, der Migration nicht als politische und soziale Chance und Herausforderung, sondern als existenzielle Bedrohung deutet.
Ideologische Grundlage: Die Verschwörungserzählung vom Bevölkerungsaustausch
Im Zentrum dieses Weltbilds steht die Verschwörungserzählung vom „Bevölkerungsaustausch“, geprägt vom französischen Autor Renaud Camus. Sie behauptet, demokratische Mehrheiten würden gezielt durch Migration unterwandert – mit dem Ziel, die weiße europäische Bevölkerung schrittweise zu ersetzen. Ab 2013 griff die Identitäre Bewegung die Erzählung auf und verbreitete sie unter Slogans wie „Stoppt den Großen Austausch“. Über Netzwerke wie Ein Prozent, das Magazin Compact und US-amerikanische Alt-Right-Akteure gelangte es in den rechten Mainstream.
Deutlich wird dies in Martin Sellners Aufsatz „Die ethnische Wahl“ für das Magazin Sezession, ein zentrales Sprachrohr der Neuen Rechten. Hierin sieht Sellner, ehemaliger Sprecher der Identitären Bewegung Österreich, das Wahlverhalten von Menschen mit Migrationsgeschichte als Beweis für den Zerfall der nationalen Identität: „Genau dieses ‘Wir’ ist aber nun bedroht. Der Große Austausch, den die supranationalen Eliten den europäischen Völkern aufnötigen, tribalisiert und fragmentiert die Gesellschaft.“
Wie Sellner das Wahlverhalten ethnisiert
Dieses Wahlverhalten sieht Sellner nicht als einen Wesenszug einer pluralistischen Demokratie, sondern als einen Verlust eines imaginierten ethnisch-homogenen Volkswillen. In der Logik dieser Ideologie erscheinen Wähler mit Migrationsgeschichte nicht als demokratische Individuen, sondern als importierte, illoyale Kollektive: „Er [der Große Austausch] erzeugt in seinen Ghettos und Parallelgesellschaften erratische, ethnoreligiöse Blöcke […]. Das Gemeinwohl ist für sie unverständlich. Ihr politischer Bezugsrahmen ist der Clan.“
„Menschen mit Migrationsgeschichte – insbesondere Muslimen – wird unterstellt, nicht individuell, sondern als ethnische Blöcke zu wählen.“
Sellner bezeichnet die „ethnische Wahl“ in der Sezession als „eines der entscheidenden Themen des 21. Jahrhunderts in Europa“. Anhand von selektiven Beispielen des (kommunalen) Wahlverhaltens in Europa unterstellt Sellner pauschal Menschen mit Migrationsgeschichte – insbesondere Muslimen – nicht individuell, sondern als ethnische Blöcke zu wählen. Daraus konstruiert er ein Bedrohungsszenario kollektiver Wahlmacht, das demokratische Teilhabe als Machtmissbrauch umdeutet.
Der Mythos ethnischer Wahlblöcke
Studien widerlegen die Behauptung homogener ethnischer Wahlblöcke. Menschen mit Migrationsgeschichte wählen – je nach Einkommen, Bildung, Alter oder Wohnort – ähnlich vielfältig wie die Gesamtbevölkerung. Zwar zeigen sich bei einzelnen Gruppen überdurchschnittliche Neigungen zu bestimmten Parteien (etwa bei türkischstämmigen Wählern zur SPD), doch insgesamt ist kein ethnisch geschlossenes Wahlverhalten erkennbar. Eine repräsentative Befragung des Deutschen Zentrums für Migrations- und Integrationsforschung (DeZIM) aus dem Januar 2025 zeigt: SPD und CDU/CSU gelten bei Wahlberechtigten mit Einwanderungsgeschichte als nahezu gleich wählbar, auch Grüne und FDP finden Zuspruch. Die Vorstellung, Migranten wählten geschlossen „links“, ist empirisch nicht haltbar – selbst die konservative Union wird von vielen als Option gesehen. Der Begriff der „ethnischen Wahl“ ist folglich kein Befund, sondern ein ideologisches Konstrukt – geschaffen, um demokratische Gleichheit zu delegitimieren. In dieser Logik erscheint Remigration als vermeintlich logische Konsequenz – ein Motiv, das in der Ideologie neurechter Akteure längst angelegt ist.
Von der Wahl zur Ausweisung: Die Logik der Remigration
Die „ethnische Wahl“ ist ein von neurechten und rechtsextremen Akteuren verbreitetes Narrativ, das Migration und Demografie als Bedrohung für faire Wahlen darstellt. Wenn sie als Beleg für den Verlust politischer Kontrolle durch das ‚eigene Volk‘ gilt, wird ‚Remigration‘ in dieser Logik zunehmend als politische Option ins Spiel gebracht. Was als Wahlverhalten beginnt, endet in der Forderung nach Ausschluss: Wer „falsch wählt“, darf laut dieser Denkweise nicht dazugehören.
Im „Masterplan zur Remigration“, vorgestellt beim berüchtigten Potsdam-Treffen, formulierte Martin Sellner diese Konsequenz offen. Remigration bedeute für ihn nicht nur die Rückführung von Geflüchteten, sondern auch die Ausweisung von „nicht-assimilierten Staatsbürgern“. Den Begriffen der ethnischen Wahl und der Remigration liegt also nicht der rechtliche Status zugrunde, sondern die Zugehörigkeit zur „ethnokulturellen Gemeinschaft“.
„Remigration ist damit kein abstraktes Konzept. Sie ist ein Angriff auf Staatsbürgerschaft.“
Remigration ist damit kein abstraktes Konzept. Sie ist ein Angriff auf Staatsbürgerschaft als rechtliche Zugehörigkeit und auf politische Teilhabe als unveräußerliches Grundrecht. Die Aussage, es gebe „richtige“ und „falsche“ Deutsche – definiert nach Herkunft oder Abstammung – widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3 GG) und dem in Art. 20 GG verankerten Demokratieprinzip fundamental. Sie erinnert zugleich an vergangene autoritäre und völkisch-rassistische Ideologien.
Strategien der Verbreitung: Wie neurechte Netzwerke Anschluss schaffen
Auch wenn der Begriff „ethnische Wahl“ bislang nicht im AfD-Parteiprogramm auftaucht, kursiert das dahinterstehende Narrativ in parteinahen völkischen Netzwerken. Dort wird es strategisch mit dem Konzept des sogenannten „Wahlvolk-Austauschs“ verknüpft – der Behauptung, das Wahlvolk werde durch Migration gezielt verändert. Laut Verfassungsschutz-Gutachten übernimmt insbesondere der völkische Flügel der AfD rechtsextreme Begriffe wie „Bevölkerungsaustausch“.
„Der Begriff fungiert als semantisches Einfallstor für Forderungen nach Einschränkungen beim Wahlrecht.“
Dabei fungiert der Begriff zugleich als semantisches Einfallstor für Forderungen nach Einschränkungen beim Wahlrecht – etwa für Menschen mit Migrationsgeschichte, insbesondere mit doppelter Staatsbürgerschaft. Bereits 2017 kritisierte AfD-Landespolitiker Dennis Augustin eine „vorsätzliche kulturelle und ethnische Veränderung Europas“ durch muslimische Einwanderung: „Die Bundesregierung und Altparteien […] haben sich ihrerseits den Austausch der Bevölkerung zum Ziel gesetzt.“ Der baden-württembergische AfD-Landeschef Emil Sänze warf der Regierung vor, sich „neue Wähler mittels Masseneinbürgerungen“ zu beschaffen. In dieselbe Kerbe schlug Björn Höcke, der als AfD-Spitzenkandidat 2024 im Thüringer Landtagswahlkampf erklärte: „Die Kartellparteien schaffen sich gerade ein neues Volk.“ Schon im Vorfeld der Hamburger Bürgerschaftswahl 2020 sprach er von einer „ethnischen Wahl“, die das Wahlergebnis verfälsche. Damit wurde ein völkisch aufgeladener Begriff öffentlich anschlussfähig gemacht – mit dem Ziel, Wähler mit Migrationsgeschichte unter Generalverdacht zu stellen.
Von der Strategie zur politischen Forderung
Im Vorfeld der AfD wird die These der ethnischen Wahl systematisch und strategisch gestützt. Die Bewegung „Ein Prozent“ bezeichnete sie in einer Wahlanalyse der Landtagswahl 2022 in Nordrhein-Westfalen als „Zeitenwende gegenüber dem Volk als entscheidendes Subjekt der Demokratie“. Die ethnische Wahl sei eine „politische Folgeerscheinung“ verfehlter Migrationspolitik – durch wachsenden Migrantenanteil verschöben sich die politischen Mehrheiten.
Auch Medien der Neuen Rechten griffen das Narrativ auf. In einem vom Bundesinnenministerium dokumentierten Compact-Spezialheft „Volksaustausch – Geburtenabsturz und Überfremdung“ (2018) hieß es: „Sie importieren sich ein neues Volk und neue Wähler! […] Die ethnische Wahl war immer schon ein beliebtes Werkzeug von Diktatoren.“ Migration wird hier unverhohlen als geplanter Staatsstreich per Stimmrecht dargestellt.
Während die Erzählung vom „Bevölkerungsaustausch“ die Bedrohung inszeniert, liefert die „ethnische Wahl“ das scheinbare Beweismaterial. „Remigration“ erscheint dann als Lösung für ein Problem, das durch rassistische Logik zuvor selbst konstruiert wurde.
Angriff auf den demokratischen Grundkonsens
„Die ‚ethnische Wahl‘ ist kein bloßer Begriff, sondern ein strategisches Werkzeug der neuen Rechten.“
Die „ethnische Wahl“ ist kein bloßer Begriff, sondern ein strategisches Werkzeug der neuen Rechten. Sie dient dazu, demokratische Teilhabe in ethnische Loyalitäten umzudeuten – und letztlich in Frage zu stellen. Wer wählt, wird in dieser Logik nicht als mündiger Bürger gesehen, sondern als Teil eines vermeintlich bedrohlichen Kollektivs. So wird aus einem demokratischen Grundrecht ein Verdachtsmoment.
Indem Akteure wie Martin Sellner und Teile der AfD diesen Begriff systematisch etablieren, bereiten sie eine Normalisierung vor, die schleichend die Grundlagen der Demokratie aushöhlt. Denn wenn das Wahlverhalten als Indiz für kulturelle Unvereinbarkeit gedeutet wird, steht am Ende die Forderung nach politischem Ausschluss – bis hin zur physischen Vertreibung unter dem Label „Remigration“.
Beispiel USA: Wie rechte Narrative Wahlen umdeuten
Was heute wie ein Randnarrativ wirkt, kann morgen politische Realität sein. Begriffe wie ‚ethnische Wahl‘ sind keine harmlosen Metaphern. Wie anschlussfähig dieses Denken ist, zeigt ein Blick in die USA – dort ist der Weg von strategischer Rhetorik am rechten Rand bis ins Zentrum der Macht längst beschritten. Auf einer Wahlkampfveranstaltung in Iowa im Februar 2024 warf Donald Trump den Demokraten vor, Migration als strategisches Instrument zur Machtfestigung zu nutzen: „Deshalb lassen sie diese Leute ins Land – Leute, die unsere Sprache nicht sprechen – sie melden sie zum Wählen an.“ In einem TV-Werbespot 2022 behauptete der damalige republikanische Senator von Ohio, J.D. Vance, dass aufgrund der demokratischen Grenzpolitik der Biden-Administration immer „mehr demokratische Wähler in dieses Land strömen.“
Normalisierung rechter Sprache als demokratiepolitischer Kipppunkt
Diese Aussagen sowie der Begriff der ‚ethnischen Wahl‘ zeigen, wie Sprache gezielt eingesetzt wird, um demokratische Teilhabe zu delegitimieren. Die „ethnische Wahl“ könnte dem Vorbild des Begriffs der Remigration folgen, der den Schritt vom obskuren politischen Vorfeld in die AfD-Parteiprogrammatik und in den Raum des Sagbaren vollzogen hat:
„Drei Schritte vor, zwei Schritte zurück, bis diese Begriffe von undenkbar radikal […] bis populär und Realpolitik geworden sind“, sagt Sellner – und zielt damit auf den Raum des politisch Machbaren. (mig) Meinung
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