
Constantin Hruschka im Gespräch
Grenzkontrollen: Experte warnt vor politischer Erosion des EU-Rechts
Der Rechtswissenschaftler Constantin Hruschka bezeichnet die deutschen Zurückweisungen an den Binnengrenzen als klar rechtswidrig. Im Interview erklärt der Asylexperte und Professor der Evangelischen Hochschule Freiburg, warum Überlastung keine Ausrede ist und wie die deutsche Praxis das Vertrauen in die europäische Rechtsordnung erschüttert.
Von Marlene Brey Sonntag, 25.05.2025, 14:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 25.05.2025, 14:25 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Herr Professor Hruschka, Sie bezeichnen die Weisung von Innenminister Dobrindt zur Zurückweisung Schutzsuchender an den Binnengrenzen als „evident rechtswidrig“. Warum?
Constantin Hruschka: Weil sie gegen geltendes EU-Recht verstößt. Nach der Dublin-Verordnung hat jede schutzsuchende Person Anspruch auf ein Verfahren, das klärt, welcher EU-Mitgliedstaat für den Asylantrag zuständig ist. Diese Prüfung wird an den deutschen Binnengrenzen faktisch verweigert – ein klarer Bruch des Rechts.
Das Innenministerium beruft sich auf eine Notlage und Artikel 72 des EU-Vertrags. Ist das nicht zulässig?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mehrfach betont: Eine Notlage kann nicht einseitig erklärt werden. Nur auf EU-Ebene und unter Kontrolle der EU-Organe kann so etwas legitim sein. Ein nationaler Alleingang, wie die Zurückweisung an der Grenze, ist daher rechtswidrig.
Der EuGH hat 2017 klargestellt: Auch bei hohen Zugangszahlen bleibt die Dublin-Verordnung bindend. Eine Überforderung rechtfertigt keine einseitige Abweichung. Das wurde im Dezember 2024 nochmals bestätigt. Noch dazu sinkt die Zahl Schutzsuchender.
Aber die Behörden sind doch faktisch überlastet. Gilt das nicht als Rechtfertigung?
Nein. Eine strukturelle Überlastung kann keine rechtliche Ausnahme begründen. Der Schengener Grenzkodex erlaubt Grenzkontrollen nur bei plötzlichen, außergewöhnlichen Migrationsbewegungen, nicht bei andauerndem Ressourcenmangel. Im Mai hat der EuGH zudem entschieden, dass Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ihre Behörden ausreichend auszustatten – fehlendes Personal ist kein rechtlicher Freifahrtschein.
Die Bundespolizei sagt, sie darf Schutzsuchende wegen bilateraler Rücknahmeabkommen zurückweisen. Stimmt das?
Nur eingeschränkt. Rückübernahmen müssen in einem rechtlich geregelten Verfahren erfolgen – unilateral geht das nicht.
Was bedeutet das alles konkret für Asylsuchende?
Wer an der Grenze Asyl beantragt, darf nicht einfach abgewiesen werden. Mit dem Asylgesuch haben sie automatisch einen vorübergehenden legalen Aufenthalt – selbst wenn sie vorher irregulär eingereist sind. Eine Rückführung ist dann nur nach einem Dublin-Verfahren möglich. Und der EuGH hat unmissverständlich klargemacht: Dieses Verfahren darf nicht umgangen oder durch nationale Sonderregelungen ersetzt werden.
Sind die aktuellen Grenzkontrollen an EU-Binnengrenzen denn rechtlich zulässig?
Auch das ist zweifelhaft. Laut Schengener Grenzkodex dürfen Binnengrenzkontrollen nur bei konkreter Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit eingeführt und verlängert werden. Die Begründungen wiederholen sich seit Jahren, obwohl die Zahlen der Schutzsuchenden zurückgehen. Die EU-Kommission hat bereits eine begründete Stellungnahme angekündigt – ein Zeichen für rechtliche Bedenken.
Oft heißt es bei diesen juristischen Fragen, am Ende müssen die Gerichte entscheiden. Auf welchem Weg könnte das passieren – und wann?
Es gibt drei Wege. Erstens: Eine betroffene Person – etwa ein abgewiesener Schutzsuchender – klagt. Zweitens: Auch jemand wie ich, ein Grenzpendler, könnte sich gegen eine Kontrolle wehren, ein Bußgeld kassieren und dann klagen. So kam ein ähnlicher Fall zwischen Österreich und Slowenien vor den EuGH. Drittens: Die EU-Kommission kann ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten.
Ich rechne damit, dass die Kommission zuerst handelt – möglicherweise noch dieses Jahr. Sie dürfte zunächst eine sogenannte begründete Stellungnahme abgeben. Ich vermute, man versucht aktuell, Deutschland auf diplomatischem Weg zum Einlenken zu bewegen – auch, um parteiinternen Konflikt für Kommissionspräsidentin von der Leyen, die ja auch CDU-Mitglied ist, zu vermeiden.
Gerichte haben zuletzt öfter politische Vorstöße gestoppt, etwa den Migrationsdeal der italienischen Ministerpräsidentin. Wird das so bleiben oder erwarten Sie in der Justiz einen ähnlichen Kurswechsel wie in der Politik?
Nein, ich erwarte keinen Kurswechsel am EuGH. Wer da eine Tendenz vermutet, schaut nur auf die Diskussionen zur irregulären Migration. Der EuGH denkt aber in erster Linie an die Freizügigkeit von EU-Bürgerinnen und Bürgern und an wirtschaftliche Stabilität. Beides wird durch Grenzkontrollen beeinträchtigt. Der EuGH hat ein klares Interesse daran, das Europarecht gegenüber nationalem Recht zu verteidigen.
Was ist Ihrer Meinung nach der tiefere Schaden, wenn ein EU-Staat wie Deutschland offen gegen europäisches Recht verstößt?
Es geht hier um mehr als Rechtsfragen – es geht um das Vertrauen in die europäische Rechtsordnung. Wenn Deutschland, das lange als Garant für Rechtsstaatlichkeit galt, offen gegen europäisches Recht verstößt, ist das eine neue Qualität. Es schwächt die Glaubwürdigkeit der EU insgesamt. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- „Kopftuchgeschwader“ Rassistische Durchsage in Regionalexpress
- Gewaltexzess Vermummte Neonazis greifen mit Fackeln Wohnprojekt…
- „Völlig akzeptable Inhalte“ Studie widerlegt Mär von der Hasspredigt in…
- „Schwarze müssen aussterben“ Sachsen: Rechtsextremismus ist Alltag an Schulen
- „NSDABI – Verbrennt den Duden“ Ermittlungen nach Eklat um Abi-Motto an Gießener Schule
- Experte kritisiert Debatte Nur wenige Geflüchtete mit Gewaltdelikten auffällig