Eva-Maria Frank, MiGAZIN, Migration, Flüchtlinge, Flucht, Integration, Einwanderung
Eva-Maria Frank © privat, Zeichnung: MiG

Strukturelles Wegsehen

Wo ist unser Aufschrei?

Tausende sterben auf der Flucht, zuletzt zwei kleine Kinder, verdurstet auf einem Schlauchboot – und Europa schaut weg. Ein stilles Sterben, das politisch gemacht ist.

Von Montag, 12.05.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 12.05.2025, 9:08 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Todesursache: Flucht – Eine unvollständige Liste. So lautet der Titel eines Buches, das Kristina Milz und Anja Tuckermann 2018 veröffentlicht haben. Darin dokumentieren sie in tabellarischer Form das Unfassbare: den Tod von Menschen auf der Flucht.

Mehr als 35.000 Menschen sind die Hauptpersonen dieses Werks – laut Buchangabe. Warum? Weil sie alles hinter sich ließen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Oder schlicht: auf Leben. Dieser Wunsch liegt nun mit ihnen auf dem Meeresgrund, in einem osteuropäischen Grenzwald oder an einem der zahllosen Orte zwischen Heimat und Europa begraben.

___STEADY_PAYWALL___

Zurück bleibt oft nicht einmal ihr Name. Sie verschwinden in der Anonymität und im Vergessen. Die Welt nimmt kaum Notiz davon. Die meisten dieser Tode schaffen es nicht in die Nachrichten. Nur wenige Initiativen wie die Seenotrettung berichten darüber. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein.

„Menschen sterben an Europas Außengrenzen – auf dem Weg zu uns. Und das ist nicht nur eine Tragödie, sondern die Folge politischer Entscheidungen.“

Im Rahmen einer 14-tägigen Mahnwache in Bonn liest die Seebrücke aus diesem Buch vor – laut, öffentlich, ungeschönt. Es ist ein Akt des Gedenkens und zugleich ein politisches Zeichen. Denn diese Katastrophe geschieht in unserer Nähe, an unseren Grenzen – auch wenn sie nicht direkt vor unseren Augen stattfindet.

So bekommen die Namenlosen eine Stimme. Die Zuhörenden müssen hinhören – ob sie wollen oder nicht. Mich persönlich versetzt dieses Buch immer wieder in Angst und Schrecken. Die vorgelesenen Ereignisse sind emotional kaum auszuhalten.

Menschen sterben an Europas Außengrenzen – auf dem Weg zu uns. Und das ist nicht nur eine Tragödie, sondern die Folge politischer Entscheidungen: Abschottung, ausgelagerter Grenzschutz, fehlende sichere Fluchtwege. Damit tragen auch wir eine Verantwortung für dieses Leid.

Vor diesem Hintergrund ist die politische Verdrängung kaum auszuhalten. Während nach Anschlägen von Geflüchteten mit Recht Erschütterung geäußert wird, bleibt diese bei der alltäglichen humanitären Katastrophe oft aus. Selbstverständlich ist das Entsetzen über solche Taten nachvollziehbar. Doch ich empfinde es als bitter, wie schnell diese Einzelfälle instrumentalisiert werden – während das Sterben an den Grenzen kaum Beachtung findet.

Wo bleibt unser gemeinschaftlicher Aufschrei?

„Es gibt viele Begründungen für das Schweigen. Aber oft wirken sie wie Ausreden.“

Es gibt viele Begründungen für das Schweigen. Aber oft wirken sie wie Ausreden. Es wird mit dem Finger auf Schlepper, auf die Fliehenden selbst, auf Herkunftsstaaten gezeigt – auf alle, nur nicht auf uns.

Meine Wut und meine Trauer bleiben. Und mein Entsetzen über dieses strukturelle Wegsehen – auch. Meinung

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)