David Galanopoulos, David Galanopoulos, Kommunikationswissenschaft, interkulturelle Geschichte, Antirassismus, Migrationsgeschichte, Queerness
David Galanopoulos, Kommunikationswissenschaftler © MiG

Sprachlos in Nahost

Kommunikative Frontlinien

In einer Welt voller Katastrophen, ist das Sprechen über Leid die letzte Möglichkeit, die Menschlichkeit in Erinnerung zu behalten. Denn Worte haben Macht, das scheinen viele zu unterschätzen.

Von Sonntag, 19.11.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 19.11.2023, 14:42 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Seit dem 7. Oktober, dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel, gibt es neben der politischen, auch eine menschliche Dimension, über die gestritten wird. In Deutschland wird gerade viel vom Schweigen gesprochen, im Hinblick auf den Terrorangriff als auch auf den Anstieg von antisemitischen Taten im Land. Viele Menschen begegnen den pro-palästinensischen Demos mit völligem Unverständnis. Dort werde geredet, jedoch über das Falsche, zu wenig und gegebenenfalls auch noch hasserfüllt. Warum redet ihr nicht über die Geiseln? Warum sprecht ihr nur über den Gazastreifen? Wieso sagt ihr nichts zur Hamas?

Und solche Fragen werden auch umgedreht und an Pro-Israel-Demos gerichtet. Warum redet ihr nicht über die palästinensischen Zivilist:innen? Warum sprecht ihr nur über die Menschen in Israel? Wieso sagt ihr nichts zu den Politiker:innen, die Gaza den Erdboden gleichmachen wollen? Und so streiten sich beide Seiten darüber, wer mehr schweigt. Das gesprochene Wort als emotionale Währung.

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Für die Menschen in Israel und im Gazastreifen erscheint das bloße Sprechen über die Situation als völlig wertlos, sind doch immerhin tausende Menschen getötet worden, die Zahl weiter steigend. Was sollen leere Worte schon bringen? Es kann die israelische Frau aus dem Kibbuz oder dem palästinensischen Kind nicht wieder zu Leben verhelfen. Was es jedoch kann, ist, die Erinnerung aufrechtzuerhalten.

„Schweigen lässt Schicksale vergessen, während das Sprechen ein Lebenszeichen ist.“

Schweigen lässt Schicksale vergessen, während das Sprechen ein Lebenszeichen ist. Wirft man einer Seite Schweigen vor, wirft man ihr Entmenschlichung vor. Wann das Gesprochene jedoch genug ist, bleibt ein ewiges Geheimnis. Ein Wort? Ein Satz? Eine Rede? Muss sich überhaupt jede:r öffentlich positionieren? Als Außenstehender darüber zu sprechen, fällt mir schwer, immerhin bin ich weder Israeli noch Palästinenser. In Zeiten von Social Media und den gesellschaftlichen Mitteilungserwartungen, scheint ein Nicht-Sprechen keine Option mehr sein zu dürfen.

„Das Leid eines unschuldigen Menschen bleibt Leid, egal auf welcher Seite der Grenze die Person steht.“

Die letzten Wochen haben mehr als einmal gezeigt, dass Schweigen auch Gold sein kann. Relativierungen des Terrorangriffs oder den katastrophalen Zuständen der palästinensischen Bevölkerung durch israelische Angriffe, vergiften das Klima umso mehr. Die westliche Welt plustert sich erneut in arroganter Manier als Nahostexperte auf und erkennt Opfer des Krieges als bloßes Beweismaterial an. Die Trauer wird übersprungen und die Schuldzuweisungen starten. Menschlichkeit zeigt man aber nur, wenn man über das Leid aller spricht. Das Leid eines unschuldigen Menschen bleibt Leid, egal auf welcher Seite der Grenze die Person steht.

„Worte haben Macht, das scheinen viele zu unterschätzen. Was man sagt, hat Gewicht. Was nicht gesagt wird, aber auch.“

Worte haben Macht, das scheinen viele zu unterschätzen. Was man sagt, hat Gewicht. Was nicht gesagt wird, aber auch. Dabei geht es nicht um politische Abhandlungen, messerscharfe Analysen oder sonstigen Einlassungen, die eher von Expert:innen oder politischen Akteur:innen zu erwarten sind. Auch gruppenspezifische Erklärungen, wie man sie jetzt schamlos von Muslim:innen erwartet, sind mehr als fehl am Platz. Es geht in erster Linie um ein fast schon banales Eingeständnis, dass sich eine humanitäre Katastrophe offenbart, die jahrzehntelang herbeiprovoziert wurde.

Ob man es laut in die Welt hinausschreit oder einen inneren Monolog mit sich selbst führt, ist erst einmal egal. Ich halte diesen kleinen kommunikativen Akt aber für nötig, um in der Situation seine Menschlichkeit nicht zu verlieren. Israelis und weitere Betroffene weltweit betteln um die Freilassung ihrer Angehörigen. Ein Schweigen darüber kann gar keine Option sein. Die Weltgesundheitsorganisation berichtet, dass alle 10 Minuten ein Kind in Gaza stirbt. Ein Schweigen darüber kann gar keine Option sein. Sprecht so viel ihr darüber könnt oder möchtet. Aber sprecht. Meinung

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