Ann-Kristin Hentschel, Migration, Israel, Palästina, Rassismus, Forschung
Ann-Kristin Hentschel © MiG

Nahost

Ein Diskurs der Entmenschlichung

Der deutsche Diskurs um den andauernden israelisch-palästinensischen Krieg ist auf vielen Ebenen enttäuschend. Für Betroffene macht ihn das umso schmerzhafter.

Von Dienstag, 14.11.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 14.11.2023, 9:20 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Auch vor dem 7. Oktober war die Debatte um Israel und Palästina polarisierend und wurde heftig geführt. Die Gründe dafür sind durchaus nachvollziehbar, die deutsche Diskursposition mit einer besonderen Verantwortung belegt. Dass die historische Schuld Deutschlands an der genozidalen Vernichtung jüdischen Lebens in Europa im Diskurs mitgedacht werden muss, kann nicht in Frage gestellt werden. „Nie wieder“ muss die Devise sein. Was das für den Diskurs bedeutet, ist allerdings die große Frage. Aktuell scheint es weder zu bedeuten, Menschenrechtsverletzungen jeglicher Art zu benennen und anzuklagen, noch den Opfern dieser Verbrechen mit besonders viel Menschlichkeit zu begegnen.

Das ist nicht neu. Die israelische Journalistin Amira Hass schreibt in der israelischen Tageszeitung Haaretz „Deutschland, du hast deine Verantwortung schon lange vernachlässigt“. Sie ist mit dieser Meinung nicht alleine. Viele Israelis und Palästinenser:innen kritisieren schon lange, wie in Deutschland über die Situation vor Ort gesprochen wird, was gesagt und was nicht gesagt wird. Es wird kritisch gesehen, wann deutsche Politiker:innen handeln und wann sie sich lediglich „besorgt“ äußern oder wegschauen.

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Nur selten geht es um konkrete Ansätze, wie Sicherheit für alle Menschen im geografischen Raum Israel und Palästina gewährleistet werden kann. Stattdessen wird auf Floskeln zurückgegriffen. Auch im Angesicht von Menschenrechtsverletzungen hält sich Deutschland schon seit Jahren zurück. Und das, obwohl diese in den letzten zwei Jahren in den besetzten palästinensischen Gebieten stark zugenommen haben. Dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson ist, scheint auf politischer Ebene vor allem Solidarisierung mit der israelischen Regierung zu bedeuten. Um die Menschen, die in der Region leben, scheint es nur nebensächlich zu gehen.

„Jüdinnen und Juden werden gerne mit dem Staat Israel und Palästinenserinnen und Palästinenser mit terroristischen Gruppen wie Hamas gleichgesetzt.“

Und dann wäre da noch die polarisierte gesellschaftliche Debatte. Vor allem in der deutschen Linken ist diese schon immer das Spaltungsthema. Auch hier macht man es sich allzu oft zu leicht: Kontextualisiert wird punktuell und auch nur, wenn es in die eigene Ideologie passt. Jüdinnen und Juden werden gerne mit dem Staat Israel und Palästinenserinnen und Palästinenser mit terroristischen Gruppen wie Hamas gleichgesetzt. Dass sowohl Palästinenser:innen, als auch Jüd:innen durchaus heterogene Gruppen mit pluralen Meinungen sind, wird nicht selten einfach ignoriert. Oft zur eigenen moralischen Überhöhung und immer vor allem zum Leid von Betroffenen.

Diese Positionierungsschlacht, wird nicht erst seit dem 7. Oktober der Lage nicht gerecht, ist aber seitdem umso enttäuschender und schmerzlicher.

Selten waren die Bilder so unaushaltbar, selten war das Leid vor Ort so unvorstellbar groß. Gerade jetzt bräuchten Jüd:innen, ebenso wie Palästinenser:innen in Deutschland Mitgefühl und Solidarität. Es gibt auch hier gerade viele Menschen, die Angst um ihre Freund:innen und ihre Familie haben oder bereits Angehörige und Freund:innen verloren haben. Diese Menschen bräuchten einen Raum für ihre Trauer und Wut. Stattdessen müssen sie Angst haben: Rassistische, antimuslimische und antisemitische Straftaten nehmen gerade drastisch zu und es scheint, als würden viele den Diskurs nutzen, um endlich öffentlich Hass und Hetze äußern zu können.

„Unter dem Vorwand, gegen Antisemitismus zu kämpfen, werden mehr Abschiebungen und eine härtere Migrationspolitik gefordert.“

Unter dem Vorwand, gegen Antisemitismus zu kämpfen, werden mehr Abschiebungen und eine härtere Migrationspolitik gefordert. So soll dem sogenannten importierten Antisemitismus Einhalt geboten werden. Es wirkt völlig absurd, dass wir, die Almans, Kinder und Enkel:innen unserer Nazi-Vorfahren, langjährige globale Top-Exporteure von Antisemitismus und bekannt für unsere strukturellen Rechtsextremismus-Probleme, es grade ernsthaft so darstellen, als wäre unser Antisemitismus importiert. Und das nach dem Anschlag in Halle, und das, obwohl ein Großteil aller antisemitischer Anschläge von Rechtsextremen begangen werden.

Doch während sich Nazis in Deutschland seit Jahren sicher fühlen können, werden pro-palästinensische Stimmen aktuell massiv kriminalisiert. Vor allem in Berlin werden Demos in Solidarität mit Palästina verboten oder nur mit starken Auflagen erlaubt. Auch jüdische Gruppen, wie die jüdische Stimme, sind davon nicht ausgenommen.

Viele, die ihre Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung äußern, müssen aktuell mit Konsequenzen zum Beispiel am Arbeitsplatz rechnen oder haben mindestens mit Antisemitismus-Vorwürfen zu kämpfen. Und ja, es gibt Antisemitismus in der Debatte. Es gibt Menschen, die sich auf die Straße stellen, judenfeindliche Parolen rufen und Synagogen angreifen. Ebenso gibt es Menschen, die Muslimfeindlichkeit verbreiten, rassistische Parolen rufen und Moscheen attackieren. Es ist wichtig, diesen Rassismus und Antisemitismus klar zu benennen und dagegen zu kämpfen. Solche Vorwürfe allerdings, vor allem als Nicht-Betroffene unreflektiert als Kampfbegriffe zu nutzen, wenn einem die Meinung der:des Anderen nicht passt, ist gefährlich. Es birgt die Gefahr zu bagatellisieren und so den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus zu erschweren.

„Es ist diese linke Selbstzerlegung, die die Träume der deutschen Rechten wahr werden lässt.“

Es sind vor allem migrantisch gelesene Menschen, die grade immer wieder dazu aufgefordert werden, sich von den Hamas zu distanzieren. Sie sind es, die auf der Sonnenallee in Neukölln nach ihren Ausweisen gefragt werden, sie sind es, die die Polizeigewalt auf Palästina-Soli-Demos zum größten Teil abbekommen. Menschen ohne deutschen Pass, die sich für Palästina engagieren, müssen sich in Deutschland akut Sorgen um Abschiebungen machen. Von der deutschen weißen Linken bekommen sie, genauso wie jüdische Aktivist:innen die sich Israel-kritisch äußern, nur wenig Solidarität. Zu sehr ist diese damit beschäftigt, sich in hoch akademisierten und völlig realitätsfernen Diskussionen wahlweise in Hausprojekten oder Telegram-Gruppen selbst zu zerlegen und zu wichtig zu nehmen. Das ist schade und verdeutlicht eine Selbstbezogenheit und Probleme, auf die migrantische und jüdische Aktivisti:innen schon lange aufmerksam machen. Gleichzeitig ist es diese linke Selbstzerlegung, die die Träume der deutschen Rechten wahr werden lässt.

Und dann wäre da noch die Sache mit dem Kontext: Es gibt nicht wenige Reportagen, in denen der Eindruck entstehen könnte, es hätte vor dem 7. Oktober keine Gewalt gegeben. Diese Darstellung ist nicht nur falsch, sondern geschichtsverzerrend. Sie blendet aus, dass Palästinenser:innen seit über 75 Jahren von systematischer Gewalt und Unterdrückung betroffen sind. Auch wenn grade in Deutschland immer wieder von der Zwei-Staaten-Lösung gesprochen wird, erscheint sie vor Ort in weiter Ferne. Hier kann eher von einer Ein-Staaten-Realität gesprochen werden. Die Kontrolle darüber liegt zum Großteil bei Israel.

Für Palästinenser:innen bedeutet diese Realität die Beschneidung von elementaren Grundrechten. Auch für Israelis ist sie geprägt durch ein ständiges Bedrohungsgefühl. Für beide bedeutet sie nicht wirklich Sicherheit und der Elefant im Raum ist hierbei die Besatzung.

Es sind Aussagen wie diese, die im deutschen Diskurs stark polarisieren. Die Hintergründe sind allerdings grundlegend, um die aktuellen Entwicklungen zu verstehen. Der Versuch zu verstehen, wie es zur aktuellen Situation kommen konnte, ist nicht dasselbe wie einverstanden mit allem zu sein. Kontextualisieren bedeutet dabei nicht Gewalt legitimieren.

„Mehr Kontext könnte, ganz im Gegenteil, einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, der Entmenschlichung im deutschen Diskurs entgegenzuwirken.“

Mehr Kontext könnte, ganz im Gegenteil, einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, der Entmenschlichung im deutschen Diskurs entgegenzuwirken. Denn eben dieser Kontext zeigt, dass hinter der anonymen Zahl von mehr als 12.000 Opfern Menschen stecken, von denen ein Großteil Zivilpersonen sind. Die Geschichten dieser Menschen handeln von Besatzung und Verlust, von Angst und kollektiven Traumata. Sie handeln aber gleichzeitig auch von Träumen von Frieden, Freiheit und einer Zukunft. Es sind genau diese Träume, die bei dem Krieg auf dem Spiel stehen und diese Menschen, die, um es sich selbst leichter zu machen, entmenschlicht werden.

Aktuell dauert die Bombardierung von Gaza weiterhin an und die Lage spitzt sich weiter zu. Man kann das Leid in Echtzeit in den sozialen Medien mitverfolgen.

Trotz der tagtäglichen Horror-Nachrichten können sich viele Menschen in Deutschland immer noch nicht dazu durchringen, sich für eine humanitäre Waffenruhe auszusprechen.

Man liest die steigende Zahl der Ermordeten, sieht nicht die Menschen, die dahinterstecken. Jan Fleischhauer schreibt währenddessen in seiner Kolumne für den FOCUS: „Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen“.

Wem bei den schrecklichen Bildern von toten Körpern, die aus Trümmern gezogen werden, noch nicht schlecht genug wird, dem geben Entmenschlichungen wie diese im deutschen Diskurs den Rest. Meinung

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