
Rechte Gewalt auf Rekordhoch
Beratungsstellen in NRW zählen 526 rassistische Angriffe
In Nordrhein-Westfalen hat rechte Gewalt 2024 einen Höchststand erreicht: 526 Angriffe, 728 direkt betroffene Menschen – darunter acht Todesopfer. Beratungsstellen monieren hohe Diskrepanz mit offiziellen Zahlen.
Mittwoch, 07.05.2025, 16:41 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 07.05.2025, 16:41 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Mindestens alle 17 Stunden wird in Nordrhein-Westfalen ein Mensch Opfer rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt. Die spezialisierten Beratungsstellen Opferberatung Rheinland (OBR) und BackUp haben für das Jahr 2024 insgesamt 526 rechte Gewalttaten dokumentiert – ein alarmierender Anstieg um rund 48 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Insgesamt waren 728 Menschen direkt betroffen, 40 weitere indirekt. Die Bilanz ist erschütternd: 265 Körperverletzungen, 12 Brandstiftungen, acht Todesopfer. „Für das Jahr 2024 haben wir mit 526 Angriffen einen erschreckenden Höchststand rechter Gewalttaten in NRW dokumentiert. Dieser Anstieg ist für uns eine äußerst besorgniserregende Entwicklung, die sich auch in gestiegenen Beratungsintensitäten und vermehrten Fallanfragen widerspiegelt“, erklärt Fabian Reeker, OBR-Projektleiter.
Besonders häufig richtete sich die Gewalt gegen Menschen, die als nicht-zugehörig markiert werden: Muslime, Schwarze Menschen, Juden sowie politische Gegner. „In keinem Jahr seit Beginn unseres Monitorings gab es in NRW so viele Tote durch rechte Gewalt wie 2024“, sagt Sabrina Hosono (OBR). Rechte Gewalt sei gezielt gegen die pluralistische Gesellschaft gerichtet, ergänzt Beraterin Lara Çelikel.
Mehr Übergriffe im öffentlichen Raum – keine Hilfe
Ein Großteil der Angriffe ereignete sich im Rheinland – insbesondere in städtischen Gebieten. Zugleich haben Übergriffe im öffentlichen Raum stark zugenommen: auf der Straße, in Bussen und Bahnen, bei Demonstrationen. „Gerade in urbanen Räumen, in denen marginalisierte Gruppen sichtbarer sind, richtet sich rechte Gewalt gezielt gegen gelebte Vielfalt und Selbstbestimmung. Täter*innen wollen nicht nur verletzen – sie wollen auch, dass Räume nicht mehr sicher sind“, warnt Hannah Richardy von der OBR.
Dabei berichten viele Betroffene, dass sie bei Übergriffen keine Hilfe von Passanten erhielten. „Das verstärkt das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit“, sagt Eileen Beyer (BackUp). Die Folge: Rückzug aus dem öffentlichen Leben, ein ständiges Unsicherheitsgefühl. „Die ausbleibende Zivilcourage hat weitreichende Folgen: Sie erschüttert das Vertrauen in gesellschaftliche Solidarität und normalisiert rassistische, antisemitische und extrem rechte Gewalt als Teil des öffentlichen Lebens.“
Beratungsstellen monieren Erfassungsdefizit
Auffällig ist erneut die große Diskrepanz zu den offiziellen Zahlen. Während das NRW-Innenministerium im Verfassungsschutzbericht nur 154 rechte Gewalttaten sowie 83 Bedrohungen aufführt, kommen OBR und BackUp auf insgesamt 526 Angriffe. „Wenn immer wieder selbst angezeigte Gewalttaten, in denen eindeutige Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv vorliegen, keinen Eingang in die PMK-rechts Statistik finden, dann ist das nicht nur ein Erfassungsdefizit, sondern eine systematische Verschleierung des tatsächlichen Ausmaßes rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“, kritisiert Reeker.
Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend. „Ratsuchende, die von Rassismus betroffen sind, berichteten uns vermehrt, dass sie ernsthaft darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen“, sagt Nils J. von BackUp. Entscheidender Auslöser sei dabei nicht nur die offen rassistische Rhetorik der AfD, sondern vor allem deren Übernahme durch andere Parteien. „Auch in NRW mehren sich Zustimmungswerte für extrem rechte Positionen, verschärfen rassistische Botschaften die politische Stimmung und schlagen in reale Gewalt um“, sagt Hosono.
Experten fordern Schutz und Solidarität mit Betroffenen
Die Beratungsstellen fordern deshalb ein klares politisches Signal: eine aktive Abgrenzung nach rechts, Schutz und Solidarität mit den Betroffenen – und eine Politik, die sich konsequent an deren Perspektiven orientiert. Die Finanzierung müsse dauerhaft und strukturell gesichert sein.
„NRW muss spezialisierte Opferberatungsstellen verlässlich finanzieren sowie zivilgesellschaftliche Anlaufstellen strukturell stärken – nicht im Rahmen von Projektfinanzierung, sondern als staatliche Verpflichtung“, fordert Reeker. Rechte Gewalt sei in Nordrhein-Westfalen kein Randphänomen mehr – sie sei längst Teil des Alltags vieler Menschen. Die Beratungsstellen appellieren eindringlich an Gesellschaft und Politik, dem nicht länger tatenlos zuzusehen. (mig) Leitartikel Panorama
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