Joel Schülin, Architekt, Urbanist, Visual Researcher, MiGAZIN, Kolumne
Joel Schülin, Architekt und Visual Researcher © MiG

Brandmuster

Trügerische Sicherheit

Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gibt es nicht nur in Deutschland. Auch im Geflüchtetenlager Al-Mawasi im Südwesten Gazas sterben immer wieder Dutzende palästinensische Zivilist:innen – und es gibt kaum Diskurs darüber.

Von Dienstag, 29.04.2025, 11:06 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 29.04.2025, 11:06 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Nach Angriffen der Israeli Defense Forces (IDF), dem israelischen Militär, am 17. April 2025 verschlingen Flammen Teile des Geflüchtetenlagers Al-Mawasi in Gaza. Mindestens zehn palästinensische Zivilist:innen sterben. Es ist jedoch bei weitem nicht der erste Angriff auf das Lager nördlich der Stadt Rafah. Eine Untersuchung des englischen Nachrichtensenders BBC zählt zwischen Mai 2024 und Januar 2025 allein knapp unter hundert IDF-Angriffe auf die „humanitäre“ Zone.

Darunter fallen Vorfälle wie die Militäraktion zur Tötung des Hamas-Funktionärs Mohammed Deifs im Juli 2024, bei dem 90 Personen sterben (der Tod von Deif wird von der Hamas nicht bestätigt).

___STEADY_PAYWALL___

Die Angriffe auf Al-Mawasi unterscheiden sich insofern von den anderen tausenden Vorfällen „kollateraler“ Schäden, dass es sich bei dem Küstenabschnitt bis zum Bruch der Waffenruhe im März 2025 um eine durch die IDF definierte „sichere Zone“ handelte. Bis heute fordert die IDF Zivilist:innen auf, nach Al-Mawasi zu evakuieren.

Humanitäre bzw. sichere Zonen dienen nach dem Völkerrecht einerseits als Schutzraum – Kriegshandlungen sind in solchen Zonen verboten –, andererseits sollen sie Zugang zu humanitärer Versorgung gewährleisten.

Wie die IDF in Infografiken immer wieder auf Social Media erklärt, sind Hamas-Infrastrukturen das Ziel der „präzisen“ Angriffe im Camp. Dass sich tatsächlich Hamas-Kämpfer in dem Geflüchtetenlager befinden, ist wahr. Die in Al-Mawasi lebenden Geflüchteten werden jedoch nicht immer vor Angriffen durch das Militär gewarnt, wie Bewohnende des Camps der Agence France-Presse mitteilten.

Dass das von der IDF-konstruierte Narrativ der Präzisionsschläge gegen militante Positionen nicht haltbar ist, zeigt unter anderem eine Recherche des palästinensisch-israelischen Nachrichtenmagazins +972.

„Die exorbitanten Kollateralschäden verdeutlichen die Folgen einer Kriegsführung, in der Menschen zu Zahlen reduziert werden.“

Im Beitrag beschreiben israelische Militärs, dass für die Tötung eines hochrangigen Hamas-Offiziellen kollaterale Schäden von über 100 Zivilpersonen autorisiert wurden. Wie kann hier noch von Proportionalität gesprochen werden? Die exorbitanten Kollateralschäden verdeutlichen die Folgen einer Kriegsführung, in der Menschen zu Zahlen reduziert werden.

Viele der aktuellen Angriffe in Al-Mawasi werden durch sogenannte SkyStriker Drohnen durchgeführt, die zu einem Teil in Deutschland produziert werden. Sie sind kleinere Geschütze, unbemannt und vollkommen autonom, „passend“ für dünnere Strukturen wie Zelte, der Zerstörungsradius ist „relativ“ gering, die hohe Zahl der zivilen Opfer tangiert das jedoch nicht.

„Während mit der einen Hand die Zerstörung vorangetrieben wird, erhebt die andere den moralischen Zeigefinger.“

Weiterhin ist Deutschland immer noch ein zentraler Waffenlieferant für Israel, auch in Zeiten der Waffenruhe in Gaza. Kritische Kommentare von Seiten Baerbocks gegenüber der Missachtung humanitärer Hilfeleistungen durch Israel lassen sich in diesem Kontext nur mit bitterem Beigeschmack betrachten. Während mit der einen Hand die Zerstörung vorangetrieben wird, erhebt die andere den moralischen Zeigefinger.

Derweil stoßen Versuche, in Deutschland einen konstruktiven Diskurs über Palästina zu führen, häufig an Grenzen – nicht selten wird mit Verweis auf die deutsche Staatsräson interveniert. Offiziell zur Sicherheit und zum Schutz jüdischen Lebens.

Der Kampf gegen Antisemitismus und der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland ist essenziell, da besteht kein Zweifel. Ebenso wie der Kampf gegen jede andere Form der Diskriminierung.

Aber was bedeutet Antisemitismus, wenn selbst jüdische Stimmen in Deutschland aufgrund ihrer Kritik am Staat Israel in das antisemitische Spektrum fallen? Wenn eine kritische Auseinandersetzung mit Gaza durch politische Entscheidungen, wie bspw. die Antisemitismusresolution der Bundesregierung, im Keim erstickt wird?

„Kritische Auseinandersetzung“ bedeutet keineswegs, die Gewalttaten der Hamas am 7. Oktober 2023 und danach zu relativieren. Sie sind ein Akt der Unmenschlichkeit und müssen als solcher benannt werden. Der Krieg wird sowohl von der Hamas als auch der israelischen Regierung immer wieder provoziert.

Eine kritische Auseinandersetzung beinhaltet vielmehr, Stimmen aus gegensätzlichen Lagern einen Gesprächsraum zu geben und miteinander in Resonanz zu treten, um sich zu verstehen, aber auch sich zu widersprechen. Denn auch Dissonanzen sind Teil einer demokratischen Gesprächskultur.

Anstatt jedoch einen konstruktiven Dissens auszuhalten, in dem jüdische, israelische und palästinensische Positionen und Perspektiven Raum finden, führen die deutsche Regierung und Polizei im Namen der Sicherheit eine unerbittliche staatliche und polizeilich orchestrierte Repressions- und Zensurkampagne gegen palästinensische und nicht-palästinensische Individuen und Organisationen, die sich kritisch zur israelischen Rolle in Gaza und dem Westjordanland äußern.

Mit dem „Tunnelblick der Staatsräson“ kommentiert Kristin Helberg passend die Vermischung des Schutzes jüdischen Lebens mit der Unterstützung des Staates und der Politik Israels.

Anti-anti-semitisch sein in Deutschland heißt demnach auch, sich dem internationalen Haftbefehl von Netanjahu und Gallant zu widersetzen. So plant der künftige Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) Ersteren nach Deutschland einzuladen. Es gäbe „Mittel und Wege“, die Festnahme des Premiers zu umschiffen, so Merz. Internationales Völkerrecht adé!

Und was tut eigentlich Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, in seinem Amt? In einem Interview äußerte er sich über die Situation im Gazastreifen und sprach davon, dass es ein radikales Neudenken brauche. Dabei zog er einen Vergleich, der in sozialen Medien kontrovers diskutiert wurde: „Während Sie Ihr Haus renovieren, schlafen Sie schließlich auch nicht darin“. Kritiker:innen werten diese Aussage als implizite Zustimmung zu einer vorübergehenden Umsiedlung von Palästinenser:innen – eine Interpretation, die für Empörung sorgte.

„Deutsche Medien greifen die Perspektive von Palästinenser:innen in Gaza und der Diaspora, wenn überhaupt, nur beschränkt auf.“

Während in Gaza tagtäglich dutzende Zivilist:innen durch israelische Bomben und Munition sterben, hören wir hier in Deutschland nur sporadisch darüber. Auch viele Deutsche und Menschen mit palästinensischer Migrationsbiografie haben Freund:innen und Angehörige in Gaza verloren, ihre Stimmen finden in Deutschland jedoch nur wenig Beachtung. Deutsche Medien greifen die Perspektive von Palästinenser:innen in Gaza und der Diaspora, wenn überhaupt, nur beschränkt auf.

Zurück zur Staatsräson: In einer Pressemitteilung der Bundesregierung wird einmal mehr betont, dass Israel das Recht hat, sich gegen die barbarischen Angriffe zu verteidigen. Deutschland steht an der Seite Israels.

Dass sich die IDF nicht gerade durch moralische Integrität auszeichnet, ja immer wieder Barbarismus an den Tag legt – wie das Flower Massacre, der Angriff auf die Al-Tabaeen Schule in Gaza City, in der Geflüchtete Schutz suchten, oder zuletzt das Massaker an 15 humanitären Helfern im März 2025 –, wird in der Pressemitteilung einfach unter den Teppich gekehrt.

Es scheint schlussendlich nicht um eine humanere und differenzierte Betrachtungsweise des Israel-Gaza-Konflikts zu gehen, nicht um die Reduzierung menschlichen Leids, um die persönliche Perspektive von Menschen im Gazastreifen, nicht um mehr Menschlichkeit. Es geht darum zu proklamieren, dass Deutschland aus der eigenen Geschichte gelernt hat.

Ob in Gaza oder Deutschland: die Frage bleibt offen, um welche Sicherheit es hier geht und wer oder was eigentlich geschützt wird. Meinung

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)