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MiGAZIN Kolumnist Sven Bensmann © privat, Zeichnung MiG

Nebenan

Nur noch 5 Minuten, Mami

Friedrich Merz hat jahrelang Wahlkampf gegen die Realität gemacht, als ließe sich die Weltlage ignorieren – Klimakrise, Weltordnung, Migration – das böse Erwachen naht.

Von Montag, 21.04.2025, 14:15 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 21.04.2025, 14:15 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Wahrscheinlich kennen die meisten dieses Gefühl. Man wird aus süßen Träumen gerissen – nicht, weil der Wecker geklingelt hätte, oder weil er überhaupt hätte klingeln sollen, nein, etwas anderes stimmt nicht. Ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigt, dass es längst noch nicht Zeit ist, aufzustehen. Langsam dämmert es. Jedoch nicht vor dem Fenster, vielmehr setzt die Erkenntnis ein, warum man so plötzlich erwacht ist: drückender Harndrang. Aber statt sich aus dem gemütlich-warmen Bett durch den kalten Flur in Richtung der noch kälteren Kloschüssel zu begeben, dreht man sich lieber noch einmal um, schlummert vor sich hin, ganz so, als würde sich der Drang schon von allein erledigen. Tut er natürlich nicht. Und so quält man sich durch endlose ungemütlich gemütliche Minuten, bis irgendwann das Hirn so weit auf Betriebstemperatur ist, dass es rationale Entscheidungen treffen kann und dem Körper befiehlt: Aufstehen.

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …? Nun, schaut man in den Koalitionsvertrag, so befinden sich die beteiligten Parteien – und wohl auch eine Mehrheit der Wähler – in genau jener gerade beschriebenen Phase der Verleugnung. Vielleicht dämmert dem ein oder anderen bereits, welcher Gang zum Klo uns demnächst bevorsteht, aber ob nun die Transformation der Wirtschaft, die Klimakrise, der Zerfall der US-amerikanischen Weltordnung oder die Entwicklungshilfe: Die Politik der bevorstehenden Koalition atmet aus allen Poren ein entschlossenes: Arschbacken zusammenkneifen und nochmal umdrehen – nur noch 5 Minuten, Mami.

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Nun kann ich schlecht beurteilen, ob Friedrich Merz und seine zukünftige Regierung wirklich glauben, dass sie einfach liegenbleiben können, ob sie hoffen, heimlich ins Bett pissen zu können, ohne dass es auffällt, oder ob Friedrich Merz eher jenem armen Wicht ähnelt, der aus dem 60sten Stock eines Wolkenkratzers gefallen ist und zunächst gar nicht weiß, wie ihm geschieht, der sich aber auf Höhe des achten Stocks schließlich entspannt zurücklehnt, weil bis hierhin ja doch alles gut gegangen ist.

„Die Bestechung von Diktatoren, um Flüchtlinge diskret verschwinden zu lassen …, werden dann keine tragfähigen Modelle mehr sein.“

Fakt ist, dass diese Koalition sehr bald etwas wird unternehmen müssen, das über „Wir lassen Milliarden in der Rüstungsindustrie versumpfen“ hinausgeht. In der sich neu ordnenden Welt wird Europa sich Afrika und Asien zuwenden müssen. Die Bestechung von Diktatoren, um Flüchtlinge diskret verschwinden zu lassen, die sonst womöglich bald dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen könnten (the horror!) und eine Entwicklungspolitik, die vor allem darauf setzt, Schlachtabfälle in der Dritten Welt zu verklappen, sowie deren Meere leer zu fischen, um Bauern und Fischern die Lebensgrundlage zu entziehen, werden dann keine tragfähigen Modelle mehr sein.

Hinzu kommt, dass selbst mit den geplanten Eingriffen in das Verbandsklagerecht, mit denen verhindert werden soll, dass Umweltgruppen zukünftig noch die Einhaltung der Gesetze und internationalen Vereinbarungen zum Klimaschutz einklagen können, der Druck auf die Bundesregierung nicht abnehmen wird.

Vielleicht ist dies aber auch nur der verzweifelte Versuch Merz’, nach dem Sondervermögen nicht direkt die nächste 180°-Wende hinlegen zu müssen, nur weil er monate-, ja jahrelang einen Wahlkampf gegen die Realität geführt hatte. Vielleicht weiß Merz, dass er damit nur noch ein paar Monate durchkommen wird, bis legale Sachzwänge ihm abnötigen, sich den politischen Sachzwängen zu ergeben.

Und vielleicht setzt er sogar genau darauf: Wenn Gerichte, Gesetze ihn dazu zwingen, sich den Realitäten zu beugen, dann glauben ihm seine Wähler vielleicht, dass ihm die grüne Verbotsrepublik im Nacken sitzt, dass er alles Merzenmögliche getan hat – und dass er keine Wahl mehr hat. So wie die Grenzschließungen leider an europäischen Recht und dem Druck der Nachbarn gescheitert sein werden: So gemütlich es bisher unter der Bettdecke war, irgendwer wird ihm dann ganz unerwartet ins Bett gepisst haben und plötzlich führt kein Weg mehr dran vorbei: Aufstehen. (mig) Meinung

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