Prof. Thränhardt im Gespräch
„Ukrainer sollten mit EU-Bürgern gleichgestellt werden.“
Deutschland hat viele gut ausgebildete Ukrainer aufgenommen. Dennoch kommt ihre Arbeitsmarktintegration vergleichsweise schleppend voran. Warum das so ist, was Polen anders macht, was noch zu tun ist und was man aus der Situation lernen kann, erklärt Prof. Dietrich Thränhardt im MiGAZIN-Interview.
Dienstag, 05.11.2024, 13:01 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 05.11.2024, 13:01 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
MiGAZIN: Sie haben in einer jüngst bei der Bertelsmann-Stiftung erschienenen Studie die Arbeitsintegration der Schutzsuchenden aus der Ukraine untersucht. Welche Erkenntnisse wurden gewonnen?
Dietrich Thränhardt: Wir haben gut ausgebildete Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen, viele privat und mit großem Engagement der Zivilgesellschaft. Die hohen Erwartungen auf eine rasche Arbeitsintegration sind enttäuscht worden, hauptsächlich wegen der schleppenden Anerkennung der Berufsqualifikationen. Behindernd war auch die überkomplexe Organisation der Registrierung und der Integrationskurse. Beispielsweise waren im Juni 2024 nur 187 von 1674 Anträgen ukrainischer Ärztinnen und Ärzte bearbeiten worden, alle anderen warteten und konnten nicht in ihrem Beruf oder überhaupt im Gesundheitssektor arbeiten.
Welche Branchen und Regionen profitieren laut Ihrer Studie am stärksten von der Arbeitsmigration? Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?
„Zurzeit arbeiten die meisten Ukrainerinnen in niedrigqualifizierten Jobs, ein wichtiger Arbeitgeber ist DHL.“
Zurzeit arbeiten die meisten Ukrainerinnen in niedrigqualifizierten Jobs, ein wichtiger Arbeitgeber ist DHL. Der Anteil der niedrig qualifizierten Jobs ist in den letzten zwei Jahren angestiegen, weil es bei den Anerkennungsverfahren hakt. In den wirtschaftlich starken Regionen Süddeutschlands ist die Arbeitsbeteiligung höher als schwächeren Regionen.
Welche politischen und administrativen Barrieren erschweren die Arbeitsmigration? Gibt es Vorschläge, wie diese Hindernisse überwunden werden könnten?
Die EU-Kommission hat 2022 vorgeschlagen, einen Rahmen zur Anerkennung der Berufsqualifikationen zu schaffen, der die Ausübung der Berufe in der Praxis ermöglicht, weitestgehend ohne bürokratische Hindernisse auskommt und Betroffenen im Bedarfsfall Beratung bietet. Diesem Vorschlag sollte Deutschland folgen.
In Deutschland mehren sich Stimmen aus der Politik, die Geflüchteten aus der Ukraine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geben wollen statt des Bürgergeldes. Begründung: Das Bürgergeld sei ein Anreiz für Nichtarbeiten. Stimmt das?
Die Höhe der Unterstützung ist nicht entscheidend. Deutschland würde profitieren, wenn hoch qualifizierte Fachkräfte in ihrem Berufen arbeiten und den Fachkräftemangel mildern könnten. Würde man die Unterstützung unter das Existenzminimum senken, dann würde wohl einige Ärztinnen mehr in niedrig bezahlten Jobs arbeiten.
Wie beeinflusst die Arbeitsmigration die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen in Deutschland?
Deutschland braucht wegen seines Geburtendefizits Migration. Die Gestaltung des Asylwesens und der Aufnahme der ukrainischen Schutzsuchenden behindert die Arbeitsaufnahme. Das führt zu hohen Sozialausgaben und niedrigeren Steuereinnahmen.
Gab es internationale Beispiele oder Best Practices, die Sie in Ihrer Studie als besonders erfolgreich hervorgehoben haben?
Polen hat in einem Sondergesetz die Anerkennung ukrainischer Ärzte, Zahnärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Psychologen, Hochschullehrenden, Schulassistenten, Bergleuten, Staatsbediensteten und Pflegekräfte geregelt. Das hat zu hoher Arbeitsaufnahme beigetragen, so dass Polen 2023 mehr Steuern von ukrainischen Schutzsuchenden eingenommen hat als es entsprechende Ausgaben hatte.
Bei der Aufnahme und Versorgung von ukrainischen Geflüchteten wurde erstmals ein Sonderweg eingeschlagen: kein Asylverfahren, Bürgergeld statt Asylbewerberleistungen, keine sonstigen Asyl-Beschränkungen. Was lässt sich daraus für das Asylsystem lernen?
„Die freie Wahl des Aufenthaltslandes und -Ortes führte nicht ins Chaos, sondern brachte Entspannung.“
Es gab keine mehrmonatige Lagerunterbringung wie beim Asyl, mit allen ihren Folgen für die Menschen. Die europäische Bevölkerung konnte sich an der Aufnahme beteiligen, Millionen ukrainische Schutzsuchende wurden privat aufgenommen. Das geschah rasch und war effektiv, weil sofort direkter Kontakt bestand. Im Gegensatz zu den toxischen Verhältnissen bei Asyl gab es keine Konflikte zwischen den europäischen Staaten. Die freie Wahl des Aufenthaltslandes und -Ortes führte nicht ins Chaos, sondern brachte Entspannung.
Was schlagen Sie vor?
Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollten mit EU-Bürgern gleichgestellt werden, sodass sie sich auch nach Ende des Krieges Arbeit suchen können. Auch Südosteuropäern sollte die Arbeitsaufnahme gestattet werden, unnötige Genehmigungsverfahren könnten so entfallen und das Asylsystem würde entlastet. (mig) Aktuell Interview Panorama
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