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Bank (Symbolfoto) © de.depositphotos.com

Ökonomische Erpressung

Schulden als Waffe in der Flüchtlingspolitik

Die EU nutzt das Staatsschuldensystem als Waffe gegen Bewegungsfreiheit. Eine Emanzipation des Globalen Südens aus den ökonomischen Fängen des Nordens könnte das verhindern und zeitgleich Bleibefreiheit ermöglichen.

Von , , und Donnerstag, 09.05.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 11.05.2024, 18:08 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Migrationsdeals wie den zwischen der Europäischen Union und Ägypten finden Faschos super. Sie seien „der beste Weg zum Umgang mit Migrationsströmen“ plärrt etwa die Mini-Führerin Italiens, Giorgia Meloni. Das sehen wir anders und sind damit nicht allein. Aber nur die von rechts getragene Politik abzulehnen und den Schutz menschlichen Lebens, auf den Europa schon immer gepfiffen hat, einzufordern, reicht nicht aus. Notwendig ist eine emanzipatorisch-materialistische Position in Migrationsfragen, eine Auseinandersetzung mit der globalen Ökonomie und ihren Machtverhältnissen.

Gegen Bewegungsfreiheit: Ökonomische Erpressung

Menschenverachtende Abkommen zwischen EU und zahlreichen Staaten Osteuropas, Westasiens sowie Nord-, West- und Ostafrika sind inzwischen erbärmlicher Standard europäischer Außenpolitik. Vierzehn neue Abkommen hat die EU allein seit 2021 angekündigt. Sie zielen auf die Beschränkung von Bewegungsfreiheit ab, adressieren keinen einzigen der Gründe für unfreiwillige Emigration und sind nur möglich, weil die EU auf das Instrumentarium ökonomischer Erpressung zu ihrer Umsetzung zugreifen kann.

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Es gibt zwei, oft verwobene, Möglichkeiten, wie Migrationsabkommen entstehen. Entweder, es liegt im intrinsischen Interesse der politischen Führung eines Staates, Emigration aus ihrem Gebiet zu verhindern, da sie die lokale Ökonomie im Verhältnis zu den kapitalistischen Zentren durch die Ausbeutung von Immigrant:innen stärken wollen, wie seit 2013 im Falle Marokkos. Hier braucht es wenig Überzeugungsarbeit. Oder aber, die Regierung möchte den Aufenthalt von Immigrant:innen aus machtpolitischen Gründen verhindern. Hier braucht es dann einer zusätzlichen Entscheidungshilfe zur Repression gegen Migration. Geld ist hier oft der zentrale Motivator, der umso attraktiver wird, je leerer die Staatskassen und höher die Staatsschulden sind.

In beiden Fällen spielt die materiell überlegene Situation der EU ihr in die Hände. Entweder braucht es nur eines kleinen Nachhelfens, wenn die Interessen der Verhinderung der Ausreise sich im EU-Grenzstaat und der EU überschneiden. Da aber so gut wie alle Staaten an den Außengrenzen Europas mit explodierenden Staatsschulden kämpfen und um Fremdwährung zur Rückzahlung ringen, schafft es die EU – bis auf Algerien – auch bei allen anderen Staaten durch großzügige Migrationsabkommen, diese auf Linie zu bringen, indem sie Geld im Gegenzug für die brutale Verhinderung von Migration nach Europa bietet. Geschätzte 13 Milliarden Euro ließ sich die EU derartige Abkommen zwischen 2014 und 2020 bereits kosten, Tendenz steigend.

In beiden Fällen können Maßnahmen gegen die Erpressbarkeit der Staaten das Maß an Bewegungsfreiheit erhöhen. Denn sowohl die Notwendigkeit, billige Arbeitskräfte auszubeuten wie auch sich auf die Zwänge der EU einzulassen würden drastisch zurückgehen, wenn die Staatsschulden der Staaten bedingungslos gestrichen würden.

Versuche der Instrumentalisierung

Ägypten befindet sich aktuell in einer schweren Schulden- und Wirtschaftskrise, die durch die Auswirkungen des Kriegs im Gazastreifen verschlimmert wird. Diese Situation wird von den Herrschenden im Globalen Norden systematisch ausgenutzt. So hat die EU unter der Führung von Giorgia Meloni vor kurzem ein neues Migrationsabkommen mit Ägypten abgeschlossen, um Migration nach Europa zu stoppen, indem unter anderem die Grenze nach Libyen befestigt wird. Dafür werden Ägypten über einen Zeitraum von drei Jahren 7,4 Millarden Euro in Form von Krediten, Darlehen und Investitionen zur Verfügung gestellt, 200 Millionen davon für „Migrationsmanagement“. Einerseits sollen damit schon bestehende Fluchtbewegungen aus z.B. dem seit 2023 von Krieg und Kriegsverbrechen geplagten Sudan kontrolliert werden. Andererseits ist es eine präventive Maßnahme, damit die potenziell aus dem Gazastreifen fliehenden Menschen nicht nach Europa migrieren.

Das internationale Schuldensystem verhindert im Fall Gazas aber nicht nur Bewegungsfreiheit, indem der Migrationsdeal mit der EU den Palästinenser:innen die Flucht erschwert, sondern auch das Recht auf Bleibefreiheit und Rückkehr: Bereits Ende 2023 wurde ein Dokument vom israelischen Geheimdienstminister Gila Gamaliel geleakt, in dem eine Schuldenerleichterung für Ägypten in Aussicht gestellt wurde, wenn das Land die Bevölkerung Gazas aufnimmt – nicht das erste Mal, dass Ägypten mit seinen Schulden erpresst wird. Im Dokument des israelischen Geheimdiensts wird die Zwangsumsiedlung palästinensischer Menschen als „langfristig positives strategisches Ergebnis“ für Israel benannt. Das verdeutlicht wie die ökonomische Erpressbarkeit Ägyptens die Instrumentalisierung von Migration für rassistische Segregationspolitik ermöglicht. Zusätzlich plagen Rezession und Inflation die Menschen in Ägypten, was seit 2022 mehr als 35.000 Ägypter:innen zur Flucht in die EU genötigt hat. Dagegen helfen weder weitere Kredite, noch die damit verbundenen Auflagen von IWF, Weltbank und EU.

Gegen Bleibefreiheit: Armut, Fragilität und Krieg

Wie der Fall Ägyptens zeigt, wird das Schuldensystem auch eingesetzt, um Bleibefreiheit zu verunmöglichen und Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben. Dabei werden Schulden aber nicht nur direkt als Druckmittel eingesetzt. Ebenso vertreiben die Struktur der globalen Ökonomie und das Schuldensystem Menschen aus ihrer Heimat, indem sie erstens Armut und ökonomische Instabilität produzieren, zweitens Staaten zunehmend fragil und handlungsunfähig gegenüber sozialen Krisen machen, und drittens bewaffnete Konflikte schüren.

Das heutige Schuldensystem war eine politisch motivierte Großoffensive der mächtigen Industrienationen gegen die neuen unabhängigen Staaten im Globalen Süden und ihre Bestrebungen, den Welthandel gerechter zu gestalten. Zwischen 1981 und 1999 erhöhte sich die Anzahl von Menschen, die preisbereinigt von unter 6,85 US-$ am Tag und damit in Armut leben müssen, um 1,1 Milliarden. Dies war die Zeit der „Strukturanpassungsprogramme“, heute heißen diese „Poverty Reduction Strategy Papers“ aber fordern dasselbe wie bereits in den 80er- und 90er Jahren: Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung. Diese führen zu erodierender öffentlicher Daseinsvorsorge und steigender Armut. Durch die Programme verschlechterte sich der Zugang zu Gesundheitsversorgung seit den 1980er Jahren drastisch und es verschärfte sich auch die Einkommensunterschiede

Das Problem ist die Struktur des Systems, innerhalb dessen Staaten Schulden aufnehmen. Mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank als zentralen Akteur:innen, die einer klaren politischen Agenda folgen, dient dieses nicht der lokalen Bevölkerung. Es sichert dem Globalen Norden zweierlei: einen beständigen Machthebel und einen stetigen Strom an Ressourcen und Geld aus dem Globalen Süden. 2023 waren 55 Prozent der Staaten des Globalen Südens von einer akuten Schuldenkrise bedroht. Das sind keine bloßen Zahlenspiele. Denn infolge von Haushaltskrisen bröckelt jedes einst noch so stabile soziale Sicherungssystem. Zwischen 2020 und 2023 gerieten 165 Millionen weitere Menschen unter die Schwelle eines Einkommens von 3,65 US-Dollar pro Tag. All das sind Menschen, die in ihrer Heimat kaum eine Perspektive haben.

Das Problem: Solange Staaten gezwungen sind, einen Großteil ihres Budgets für den Schuldendienst aufzuwenden, ist die öffentliche Handlungsfähigkeit zur Ermöglichung von Bleibeperspektiven stark eingeschränkt: Im Jahr 2023 zahlten mindestens 43 Staaten mehr als 15 Prozent ihrer Einnahmen für den Schuldendienst. Niedriglohnländer geben im Schnitt doppelt so viel für Schuldendienst wie Sozialsysteme aus. Das betrifft Schätzungen zufolge mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung.

Und auch bei bewaffneten Konflikten spielt das internationale Schuldensystem eine wichtige Rolle. Die von IWF und Weltbank unter anderem im Zuge der Bereitstellung von Notfallkrediten erzwungenen Maßnahmen erhöhen nachweislich die Wahrscheinlichkeit für Bürgerkriege, indem sie die Ungleichheit massiv verschärfen, was das Potenzial für bewaffnete Konflikte massiv erhöht.

Die Aufnahme von Schulden erhöht zwar zunächst die staatliche Handlungsfähigkeit, langfristig gilt dies allerdings nur bei guten Konditionen. Ehemalige Kolonien mit hohen Schulden gelten Gläubiger:innen gegenüber als nicht oder eingeschränkt kreditwürdig, was die Bedingungen der Schuldenaufnahme strukturell verschlechtert. Eine Kreditaufnahme beim IWF bleibt dann oft die einzige Möglichkeit – und gute Konditionen sind hier in der Regeln nicht zu erwarten, aber innenpolitische Spannungen sind dafür garantiert.

Im Gegensatz dazu können Schuldenstreichungen die notwendigen Ressourcen um interne Konflikte zu adressieren potenziell verfügbar machen ohne innenpolitische Spannungen zu verstärken. Sie können natürlich auch dazu führen, dass autoritäre Regierungen sich die Taschen füllen, was kaum zur Lösung bewaffneter Konflikte beiträgt. Aber auch hier lohnt sich ein zweiter Blick, denn wie der Schulden-Deal mit Tunesien zeigt, ist Geld, das in Form von Krediten daherkommt, ebenso wenig davor bewahrt, von korrupten Staatsoberhäuptern eingesackt zu werden.

Wenn ökonomische Unsicherheit, bewaffnete Konflikte und staatliche Fragilität Hauptgründe für unfreiwillige Emigration sind, dann zeigen die hier dargelegten Punkte, dass die aktuelle Struktur des internationalen Schuldensystems als ein Element verstanden werde muss, dass die Freiheit in einem Staat mit sozialem Sicherungssystem, einer ökonomischen Perspektive und vor allem ohne bewaffnete Konflikte zu leben strukturell behindert. Wenn die Ermöglichung sowohl von Bleibe- wie auch Bewegungsfreiheit unser politisches Ziel ist, kommt man also nicht darum umher, auf struktureller Ebene für eine Befreiung der Staaten des Globalen Südens aus den ökonomischen Fängen des Globalen Nordens einzutreten.

Die Rückzahlung der Staatsschulden des Globalen Südens kollektiv auszusetzen, war bereits zentrales politischen Ziel des ermordeten Thomas Sankaras. Diese Vision einer bedingungslosen Annullierung der Schulden ist heute, im Angesicht durch die Klimakrise schwindender Bleibefreiheit und durch den Globalen Norden verhinderten Bewegungsfreiheit drängender denn je.

Meinung

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