Gegen Scheinlösungen
Für Bleibe- und Bewegungsfreiheit
Fluchtursachenbekämpfung: Parteiübergreifender Konsens und sinnvolle Reaktion auf Hetze gegen Migration – oder doch bloß eine Scheinlösung?
Von Nico Graack, Robin Jaspert und Lara Wörner Dienstag, 12.12.2023, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.12.2023, 14:38 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
„Fluchtursachen“ und ihre Bekämpfung sind seit 2015 fester Bestandteil des Polit-Vokabulars von Linke, SPD und Parteigrünen. Fluchtursachenbekämpfung scheint unkontrovers und fast schon Staatsraison in Sachen Migration zu sein. Gemeint sind mit Fluchtursachen zumeist ökonomische Perspektivlosigkeit und Krieg.
Die ehemalige Beauftragte für Flucht und Migration im Auswärtigen Amt, Beate Grzeski, wies aber bereits 2015 im Zusammenhang mit Fluchtursachen auf eine Kampagne in Afghanistan hin, in dessen Rahmen Großplakate mit der Aufschrift „Leaving Afghanistan – are you sure? Thought it through?“ aufgestellt wurden. Spätestens an dem kurz darauf geknüpften Deal mit Erdoğan und der Verlagerung der Außengrenze auch nach Nordafrika zeigt sich: Es geht hier nicht darum, Menschen ein würdiges Leben zu verschaffen – sondern darum, dass sie sich nicht auf den Weg nach Europa machen.
Die zugrundeliegende Vorstellung feiert aktuell in Europa und Deutschland Hochkonjunktur: Ankommende Menschen stellen eine Belastung dar und gefährden das Funktionieren unseres Sozialstaates – wird behauptet. Die Bilderwelt dieses Narratives besteht aus verarmten, weißen Rentner:innen auf der einen Seite sowie in Hülle und Fülle lebenden, mehrheitlich schwarzen Geflüchteten auf der anderen. Dieses Bild überdeckt die Frage danach, warum gleichzeitig Rentner:innen in Deutschland verarmt und Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte 2,4-mal häufiger von Armut betroffen sind. Die Krise des Neoliberalismus, in dessen Rahmen nicht erst seit 2008 Sozialsysteme systematisch geplündert werden, entlädt sich auf einen Sündenbock.
„Unter dem Deckmantel des „vor Ort Helfens“-Chors, der bereits 2015 auch aus rechtsextremen Kreisen angestimmt wurde, wird die Erzählung von Migration als einer Gefahr gestützt.“
Das Neue an dieser Sündenbock-Rhetorik ist das, was die Migrationsforschung, unter anderem Hein de Haas, „Versicherheitlichung“ (securitiziation) nennt. In diesem Rahmen wird Migration nicht als ein ökonomisches, sondern sicherheitspolitisches Problem dargestellt. In seiner heftigsten und verschwörungstheoretischen Form wird das Bild einer gesteuerten Invasion, die einen Bevölkerungsaustausch im Abendland zum Ziel hat, gezeichnet. Diese Perspektive versteht die „Flut“ an Einwandernden, als ein Risiko, gegen das es sich abzusichern und zu verbarrikadieren gilt. Bestehende Migration wird nur zum Sicherheitsproblem deklariert, um lokale Probleme zu kaschieren. Unter dem Deckmantel des „vor Ort Helfens“-Chors, der bereits 2015 auch aus rechtsextremen Kreisen angestimmt wurde, wird die Erzählung von Migration als einer Gefahr gestützt.
Dabei bleibt der Anteil migrierender Menschen an der Weltbevölkerung recht konstant: 2,8 Prozent im Jahr 2000 und 3,6 Prozent im Jahr 2020. Europa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg von einer Emigrationsregion zu einer Immigrationsregion entwickelt. Zu den wichtigsten Herkunftsländern gehören Marokko, Russland und die Türkei, von einer „Flut“ kann aber keine Rede sein. Gerade im Rahmen unfreiwilliger Migration finden die meisten Bewegungen innerhalb des Herkunftslandes oder in Nachbarländer statt. Die Staaten, die gemessen an ihrer Bevölkerung am meisten flüchtende Menschen aufgenommen haben, sind der Libanon, die Türkei und Jordanien. Die Vorüberlegungen, aus denen geschlossen wird, „Fluchtursachen bekämpfen“ zu müssen, um Migration nach Europa zu bremsen, sind also grundfalsch. Und doch berührt diese Erzählung etwas, das humanistisch geprägten Debatten und die Forderung nach offenen Grenzen und Bewegungsfreiheit zu selten behandeln: Die sozio-ökonomischen Gründe für unfreiwillige Emigration.
Dabei braucht es gerade jetzt eine klar linke, humanistische und materialistische Position in diesen Fragen. Statt dem Narrativ über Fluchtursachenbekämpfung nur extern mit einem humanistischen Standard und einer moralischen Kritik zu begegnen, können wir auch ein anderes Diskursspiel spielen: Das Fluchtursachen-Narrativ ernster als seine Akteure nehmen und uns fragen: Was würde es für internationale Wirtschaftsbeziehungen bedeuten, wenn Menschen überall selbstbestimmt über ihr Leben und ihren Aufenthaltsort entscheiden können sollen? Wie müsste eine globale ökonomische Organisierung aussehen, die das ermöglicht? Und welche politischen Bestrebungen weisen einen Weg in diese Richtung?
Entwicklung oder Flucht?
Seit einiger Zeit kursiert der Slogan „Fluchtursachen bekämpfen, nicht Geflüchtete“ in der Politlandschaft. Deutschland und die EU bewegen sich, neben der weiteren Militarisierung und Auslagerung der Außengrenzen auch entlang dieser Linien. Doch was genau wird unter dem Schlagwort „Fluchtursachen bekämpfen“ politisch veranstaltet?
Seit 2015 werden auf europäischer und deutscher Ebene verstärkt Programme zur Bekämpfung von Fluchtursachen, vor allem im Feld der Entwicklungspolitik angesiedelt, verabschiedet. Auf EU-Ebene ist zuerst der 2015 beschlossene und über 5 Milliarden Euro schwere Nothilfe-Treuhandfond „für Afrika“ zu nennen. Über den Fonds werden sogenannte Entwicklungsprojekte in Herkunfts- und Transitländern finanziert, doch über 50 Prozent des Volumens sind zur Bekämpfung von Fluchtursachen vorgesehen. In Deutschlands sind beispielhaft der unter Entwicklungsminister Müller (CSU) verabschiedete „Marshallplan mit Afrika“ und die ebenfalls vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ins Leben gerufene „Beschäftigungsoffensive Nahost“ zu nennen.
„Das Interesse der Bundesregierung ist hier eindeutig: Migration verhindern – aber nicht Migration per sé, sondern Migration nach Europa.“
Abdullahi Mohamed Hersi von NAPAD (Nomadic Assistance for Peace and Development) kommentiert den Marshallplan folgendermaßen: „Die europäische Politik erklärt den afrikanischen Kontinent zur leichten Beute“. Daran anschließend kritisiert Anne Jung von Medico International den Plan als „Versuch, die interessengeleitete Politik Europas in Afrika abzusichern“. Das Interesse der Bundesregierung ist hier eindeutig: Migration verhindern – aber nicht Migration per sé, sondern Migration nach Europa. Dass dafür ausgerechnet das als neokolonial kritisierte Instrument der Entwicklungszusammenarbeit eingesetzt wird, spricht Bände über die Natur der angeblichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
Die Verengung von Fluchtursachenbekämpfung auf Entwicklungszusammenarbeit wirft die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Entwicklungspolitik und Migration auf. Betrachtet man die Auswirkungen von Entwicklungspolitik wird klar: Sie wirkt sich nur unwesentlich und höchstens indirekt auf die häufigsten Ursachen für unfreiwillige Migration, wie bewaffnete Konflikte, aus. Insbesondere Formen der Entwicklungspolitik, die auf Beschäftigungs- und Privatsektorförderung abzielen, sind der falsche Weg. In der Migrationsforschung besteht seit den 1990er Jahren sogar weitestgehende Einigkeit, dass sozioökonomische „Entwicklung“ kurzfristig zu mehr Emigration führt. Höhere Einkommen und bessere Bildung ermöglichen zunächst die Bewegungsfreiheit von Menschen, die sich diese zuvor nicht leisten konnten. Mittelfristig spielen demografischer- und wirtschaftlicher Strukturwandel sowie steigende Ungleichheit eine wichtige Rolle. Entwicklungspolitik führt oft zunächst zu wachsender Ungleichheit. Wachsende Ungleichheit und damit einhergehende Erfahrungen, wiederum, erhöhen die Bereitschaft zur Migration.
Entwicklungspolitische Maßnahmen können mindestens kurzfristig das Ziel der Verhinderung von Migration nicht einlösen. Benjamin Schraven weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Notwendigkeit eines realistischen Erwartungsmanagements hin. Doch stellt sich grundsätzlich die Frage, ob der aktuelle Diskurs um „Fluchtursachenbekämpfung“ nicht etwas suggeriert, was weder funktionieren noch im Sinne humanistischer Prinzipien sein kann. Sollte nicht, aus moralisch-humanistischer Perspektive, jeder Mensch selbstbestimmt entscheiden können, ob er bleibt oder lieber vorübergehend oder auch dauerhaft in ein anderes Land migriert? Wenn Selbstbestimmung das deklarierte politische Ziel ist, ist der Fokus auf Fluchtursachenbekämpfung falsch und muss durch die Forderung nach umfassender Bleibe- und Bewegungsfreiheit ersetzt werden. Um Bleibe- und Bewegungsfreiheit herzustellen, müssen dringend Gründe für unfreiwillige Migration adressiert werden. Entwicklungspolitik, allerdings, ist der falsche Weg.
Befreiung statt „Entwicklung“
Was aber dann? Wesentlich unbürokratischer – und damit vermeintlich auch im Sinne der Liberalen – wäre eine bedingungslose Streichung der finanziellen Schulden des Globalen Südens. Diese wäre ein Schritt zur Schaffung politischer Souveränität und Autonomie in jenen Staaten, aus denen die meisten Menschen unfreiwillig emigrieren. Eine erhöhte Fiskal- und Staatskapazität – die durch Schuldenstreichung erreicht wird – führt zur massiven Reduzierung bewaffneter Konflikte, der Hauptursache für unfreiwillige Migration. Staatliche Fragilität und aus ihr resultierende marode Sozial- und Gesundheitssysteme, ein weiterer zentraler Grund für unfreiwillige Emigration, wird ebenso durch verbesserte Re-Finanzierungsbedingungen von Staaten adressiert.
„Migration ist kein Sicherheitsproblem und ihre Ursachen müssen nicht bekämpft werden.“
Die verbesserte Finanzierungssituation, die aus einer Staatsschuldenstreichung resultiert, führt nicht automatisch in eine politische Utopie. Sie schafft aber mindestens die notwendigen Voraussetzungen, unter denen öffentliche Mittel so bereitgestellt werden können, dass sich weniger Menschen zur Flucht gezwungen sehen. Darüber hinaus hat sie das Potenzial, die Klimakrise nachhaltig zu bekämpfen und sowohl Mittel für die Bekämpfung der Klimakrise – die zukünftig häufigste Ursache für unfreiwillige Migration – wie auch zur Anpassung an ihre Folgen zu schaffen.
Migration ist kein Sicherheitsproblem und ihre Ursachen müssen nicht bekämpft werden. Das Problem ist der Zwang zur Migration, dem Menschen sich ausgesetzt sehen. Dieser wird durch Entwicklungspolitik nicht nachhaltig verringert – vielmehr braucht es erhöhten politischen Handlungsspielraum in den Staaten des Globalen Südens. Eine humanistische und materialistische Position für Bleibe- und Bewegungsfreiheit muss deswegen genau hier ansetzen. Aktuell Panorama
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