El Hierro statt Lampedusa?
Routen von Bootsflüchtlingen ändern sich
Vergangenes Jahr gelangten mehr als 275.000 Menschen per Boot aus Afrika nach Europa. Noch weiß niemand, wie das Ende 2024 aussehen wird. Aber aktuell sind es weniger, und die Routen ändern sich. Ein Überblick:
Von Anne Pollmann, Emilio Rappold, Christoph Sator und Takis Tsafos Montag, 15.04.2024, 15:03 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 15.04.2024, 15:03 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Die lebensgefährliche Flucht mit oft kaum seetüchtigen Booten aus Afrika nach Europa gehört seit vielen Jahren zu den großen Problemen der internationalen Politik. 2023 machten sich nach Zahlen der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex mehr als 275.000 Menschen so auf den Weg in eine erhoffte bessere Zukunft. In diesen Wochen, wenn der Winter endgültig vorbei und die See in der Regel wieder ruhiger ist, steigt die Zahl der Boote erfahrungsgemäß an. Wie das Jahr 2024 letztlich verlaufen wird, weiß noch niemand. Aber nach den ersten Monaten lassen sich Trends erkennen: Bislang sind es eher weniger Bootsflüchtlinge. Und die Routen ändern sich.
Immer noch landen an manchen Tagen viele Hundert Menschen auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa, seit Langem einem der Brennpunkte der Flucht übers Mittelmeer. Aber noch mehr Menschen aus Afrika kommen aktuell auf El Hierro und anderen kanarischen Inseln an, über den Atlantik. Auch im östlichen Mittelmeer steigen die Zahlen. Dagegen lässt die Fluchtbewegung übers zentrale Mittelmeer nach Italien – mit 157.500 Grenzübertritten ohne Einreisedokumente nach Angaben der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex vergangenes Jahr die größte – offensichtlich gerade nach. Ein Überblick:
Spanien
In Spanien ist die Zahl der Ankünfte von Geflüchteten in den ersten drei Monaten des Jahres erheblich gestiegen. Von Januar bis März kamen nach Angaben des Innenministeriums mehr als 16.000 Menschen neu ins Land – fast vier Mal so viele wie zur gleichen Zeit vor einem Jahr. Betroffen war vor allem eine Region: die Kanaren. Auf der Inselgruppe vor der Nordwestküste Afrikas trafen im ersten Quartal nach lebensgefährlicher Fahrt viele Hundert Kilometer über den offenen Atlantik mehr als 13.000 Bootsflüchtlinge ein. Zum Vergleich: Im Frühjahr 2023 waren es nur etwas mehr als 2.000.
Vermutet wird, dass die Entwicklung unter anderem mit der politischen und sozialen Krise im westafrikanischen Küstenstaat Senegal zusammenhängt. Inzwischen nimmt auf den Kanaren – auch ein beliebtes Ziel für deutsche Urlauber – der Unmut zu. Der regionale Regierungschef Fernando Clavijo bezeichnete die Zustände als „unhaltbar“. Der Zentralregierung in Madrid warf er Tatenlosigkeit und Gleichgültigkeit vor. Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska versprach jüngst bei einem Besuch Hilfe – „Zauberlösungen“ gebe es beim Thema Flucht aber nicht.
Eine Zahl kennt niemand: wie viele Flüchtlinge in den ersten drei Monaten auf dem Weg aus Westafrika auf die Kanaren ertranken. Befürchtet wird, dass es Tausende waren. Vergangenes Jahr starben nach Angaben der Hilfsorganisation Caminando Fronteras mehr als 6.600 Menschen beim Versuch, Spanien auf dem Seeweg zu erreichen.
Zypern
Auf Zypern ist die Zahl der Neuankömmlinge noch drastischer gestiegen. Seit Jahresbeginn landeten auf der Insel im östlichen Mittelmeer etwa 4.000 Geflüchtete – im ersten Quartal des Vorjahres waren es lediglich 78. Aus deutscher Sicht mag die Zahl immer noch verhältnismäßig gering erscheinen – doch für die kleine Inselrepublik ist die Belastung enorm. Gemessen an seiner Einwohnerzahl gibt es nirgendwo in der EU so viele Asylanträge wie auf Zypern. Anders gesagt: 4.000 neue Anträge dort sind so viele wie 340.000 in Deutschland.
Für die plötzliche Entwicklung nennen Experten verschiedene Faktoren – allen voran die Unsicherheit, die der jetzt schon mehr als sechs Monate dauernde neue Krieg im Gazastreifen in der Region verursacht. Bei den Neuankömmlingen auf Zypern handelt es sich zum Großteil um syrische Flüchtlinge, die bislang im Libanon lebten. Dessen Botschafterin auf Zypern, Claude el Hajal, sprach jüngst von zwei Millionen überwiegend „illegal“ eingereisten Syrern in ihrem Land. Die Finanzhilfe der EU für den Libanon seien letztlich nur „Krümel“.
Für Zypern bringt das alles erhebliche Probleme mit sich: Weil die beiden Flüchtlingslager im Südteil der Insel nur rund 2.000 Plätze haben, werden neu ankommende Geflüchtete lediglich registriert. Anschließend sind sie auf sich selbst gestellt. In der Hauptstadt Nikosia und auch in anderen Städten herrschen mancherorts Zustände wie in Slums, weil die allermeisten weder Unterkunft noch Arbeit haben. Im vergangenen Jahr wüteten hunderte vermummte Rechtsextreme in der Stadt Limassol gegen Geflüchtete. Beobachter sprachen von „pogromartigen Zuständen“.
Italien
In Italien hingegen sind es aktuell deutlich weniger Bootsflüchtlinge als vor einem Jahr. Bis Ende der ersten Aprilwoche wurden annähernd 13.000 Neuankömmlinge auf dem Seeweg aus Afrika registriert – nicht einmal halb so viel wie zur gleichen Zeit des Vorjahres. Die rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni führt dies auf ein eigenes härteres Vorgehen zurück und auf die EU-Abkommen mit Ländern auf der anderen Seite des Mittelmeers wie Tunesien, Libyen und Ägypten. Die Transitstaaten sollen die Flucht eindämmen, dafür erhalten sie Milliarden Euro. Vom nächsten Monat an will Rom zudem Bootsflüchtlinge direkt in Lager nach Albanien schicken, das nicht der EU angehört – bis zu 36.000 Menschen.
Meloni sieht sich in ihrem Kurs bestätigt – auch wenn sie von ihrem Versprechen im Wahlkampf, die Zahl der Flüchtlinge deutlich zu senken, noch weit entfernt ist: Im Vergleich zur Zeit vor ihrem Amtsantritt im Oktober 2022 ist die Zahl immer noch deutlich höher. Kritik kommt auch von privaten Hilfsorganisationen, die im Mittelmeer mit eigenen Schiffen unterwegs sind. Sie werfen der Regierung vor, die Rettung von Menschen in Seenot massiv zu behindern. Mehrere Schiffe liegen derzeit auf Anweisung der Behörden im Hafen.
Türkei
Die Türkei galt bisher vor allem als Transitland für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. In einem Abkommen mit der EU verpflichtete sich die Regierung in Ankara gegen milliardenschwere Geldzusagen schon vor Jahren, die Grenzen nach Europa zu Wasser und zu Land besser zu schützen. In diesem Frühjahr griff die türkische Küstenwache im östlichen Mittelmeer und der Ägäis deutlich mehr Menschen auf als Anfang 2023. Im ersten Quartal wurden annähernd 13.000 Menschen gestoppt. Vor einem Jahr waren es etwa 7.500. Zahlen zu illegalen Grenzübertritten auf dem Landweg gibt es nicht.
Oft sind es aber auch Türken selbst, die nach Europa flüchten. In der Länder-Rangliste des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) lag das Land im ersten Quartal mit etwa 10.000 Asylanträgen hinter Syrien und Afghanistan auf Rang drei. Als mögliche Gründe gelten die Wirtschaftslage und ein zunehmend autoritärer Kurs der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die meisten Antragsteller aus der Türkei sind nach Angaben der Organisation Pro Asyl Kurden.
Griechenland
Auf den griechischen Inseln hat sich die Lage in den Flüchtlingslagern im Vergleich zu früheren Jahren deutlich entschärft. Insgesamt leben in den Camps in der östlichen Ägäis zurzeit etwa 10.000 Geflüchtete. Platz wäre für 13.600 Menschen. Allerdings bereitet eine neue Fluchtroute der Regierung in Athen Kopfschmerzen – und auch der EU insgesamt: Schlepper versuchen zunehmend, Griechenland zu umgehen und Geflüchtete aus der Türkei, dem Libanon und Ägypten südlich an Kreta vorbei direkt nach Italien zu bringen.
So werden in der Region immer wieder Menschen aus überfüllten, meist seeuntüchtigen Booten gerettet – allein seit Jahresbeginn etwa 1.000. Manche Boote kommen auf der kleinen Insel Gavdos 20 Seemeilen südlich von Kreta an, wo nur 150 Bewohnern zuhause sind. Auf Gavdos gibt es für die Geflüchteten keinerlei Unterkünfte und auch die Versorgungslage ist schlecht. Deshalb werden sie baldmöglichst in Auffanglager nach Kreta und aufs griechische Festland gebracht. (dpa/mig) Leitartikel Panorama
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