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Historisch, unmenschlich

Schärfere Regeln: EU-Parlament beschließt Asylreform

Seit Jahren streitet die EU über die gemeinsame Asylpolitik. Am Mittwoch hat das EU-Parlament die EU-Asylreform final gebilligt. Die Entscheidung gilt als „historisch“ beziehungsweise „unmenschlich“ – je nach Betrachtungswinkel.

Donnerstag, 11.04.2024, 11:03 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 11.04.2024, 13:41 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Nach jahrelangen Verhandlungen hat das EU-Parlament die umstrittene EU-Asylreform final gebilligt. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte am Mittwoch in Brüssel für alle zehn Gesetzesvorschläge der Reform. Die neuen Regeln soll die Zahl von Geflüchteten und Migranten in die EU begrenzen und steuern.

Im Kern geht es um einheitliche Verfahren, schnellere Abschiebungen und mehr Solidarität unter den EU-Staaten. Über viele der Vorschläge streitet die EU bereits seit 2016, ausgelöst durch die große Fluchtbewegung im Jahr 2015.

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Proteste bei Abstimmung im EU-Parlament

Die Abstimmung im EU-Parlament wurde von Protestrufen unterbrochen. Demonstrierende auf den Zuschauerrängen riefen auf Englisch „Der Pakt tötet. Stimmt dagegen!“ und warfen Papierflugzeuge in das Plenum. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola musste die Abstimmung unterbrechen. Die unerwartete Aktion sorgte für gemischte Reaktionen unter den Abgeordneten: Einige standen auf und applaudierten, während andere den Protest kritisierten.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichnete die Asylreform als historischen und unverzichtbaren Schritt. Im Internetdienst X, vormals Twitter, schrieb Scholz am Mittwoch, die Reform stehe für die Solidarität unter den europäischen Staaten. „Sie begrenzt die irreguläre Migration und entlastet endlich die Länder, die besonders stark betroffen sind“, fügte er hinzu. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schrieb bei X, mit dem Ja zur Reform beweise die EU in schwierigen Zeiten Handlungsfähigkeit. Europa bekomme verbindliche Regeln mit „Humanität und Ordnung“.

Faeser: Überlassen Thema nicht Rechtspopulisten

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) begrüßte die Zustimmung des EU-Parlaments ebenfalls. Die Reform werde die irreguläre Migration wirksam begrenzen und zu einer Entlastung der Kommunen führen, erklärte sie in Berlin. Mit der Einigung habe Europa „eine tiefe Spaltung“ überwunden. Die Ministerin kündigte an, sich dafür einsetzen zu wollen, dass die Reform möglichst schnell Wirkung entfaltet. Deutschland werde jetzt gemeinsam mit der EU-Kommission und der belgischen Ratspräsidentschaft „sehr intensiv daran arbeiten, das Gemeinsame Europäische Asylsystem schnellstmöglich umzusetzen“.

Die Entscheidung zeige auch: „Wir überlassen dieses zentrale Thema nicht den Rechtspopulisten, die Menschen in Not für ihre Stimmungsmache missbrauchen“, sagte Faeser. Kritiker bestätigten hämisch: die beschlossene Asylreform sei rechtspopulistisch, mithin werde den Rechtspopulisten tatsächlich nichts überlassen.

Unterschiedliche Reaktionen, SPD mit gemischten Gefühlen

Innerhalb des EU-Parlaments fällt die Bewertung der EU-Asylreform sehr unterschiedlich aus. „Das heutige Votum ist ein historischer Moment für Europa und ein Meilenstein für ein gemeinsames europäisches Asylsystem“, erklärte die CDU-Europaabgeordnete Lena Düpont. Ähnlich sieht es die FDP. „Endlich schaffen wir klare Regeln für die ankommenden Menschen und schnellere Verfahren an den Außengrenzen. Damit bringen wir mehr Ordnung in das europäische Migrationssystem“, erklärte der FDP-Parlamentarier Jan-Christoph Oetjen.

Die Sozialdemokraten betrachten die Reform mit gemischten Gefühlen. Die Europaabgeordnete Birgit Sippel (SPD) erklärte, um einen Kompromiss zu erzielen, habe ihre Fraktion „hohe Zugeständnisse“ machen müssen. Sie wolle Kritik nicht verschweigen. So seien etwa verpflichtende Grenzverfahren für Familien eines der „hochproblematischen Elemente“.

Linke: Krokodilstränen von SPD und Grüne nicht glauben

Die Grünen im Europaparlament sehen das Paket als eine „Verschlechterung der aktuellen Situation“ und stimmten gegen eine Mehrheit der Gesetzesentwürfe, wie die Europaabgeordnete Katrin Langensiepen (Grüne) erklärte.

Die Linke äußerte deutliche Kritik. Der Beschluss „ebnet den Weg für einen beispiellosen Rechtsruck in der EU-Asylpolitik“, sagte die Abgeordnete Cornelia Ernst. Der Vorsitzende der Linksfraktion im EU-Parlament, Martin Schirdewan, kritisierte SPD und Grüne: „Niemand sollte den scheinheiligen Krokodilstränen Glauben schenken, mit denen Vertreter von SPD und Grünen dieses Ergebnis bedauern werden.“ Er warf ihnen ein „durchsichtiges Spiel“ vor, denn sie würden der unmenschlichen Reform erst zustimmen und dann erfolglos versuchen, sie abzumildern.

Kinderrechtler warnen vor EU-Asylreform

Das Gesetzespaket sieht unter anderem vor, dass Asylsuchende mit geringer Bleibechance schneller und direkt von den EU-Außengrenzen abgeschoben werden. Für die Schnellverfahren sollen die Menschen bis zu zwölf Wochen unter haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden. Während der Verfahren gelten die Menschen juristisch als nicht eingereist („Fiktion der Nicht-Einreise“). Das bedeutet, sie haben nicht dieselben Rechte wie Asylbewerber. Deutschland wollte, dass Kinder von diesen sogenannten Grenzverfahren ausgenommen werden, setzte sich mit dieser Forderung aber nicht durch.

Das internationale Kinderhilfswerk Terre des Hommes hatte bereits im Vorfeld der Abstimmung appelliert, gegen die EU-Asylreform zu stimmen. Das Migrations- und Asylpaket sei mit Kinderrechten nicht vereinbar, teilte das in Osnabrück ansässige Werk mit. Die Asyl-Reform bedeute für zahlreiche Kinder auf der Flucht die „Inhaftierung hinter Stacheldraht und Lagermauern und die Gefahr von Rückführungen in Länder, in denen sie nicht sicher sind“, sagte Joshua Hofert, Vorstandssprecher von Terre des Hommes. Insbesondere die Inhaftierung zur Migrationskontrolle widerspreche der UN-Kinderrechtskonvention.

Sonderregeln für EU-Staaten

Die sogenannte Krisenverordnung ist ein weiterer Baustein des Reformpaketes. Sie sieht Sonderregeln für EU-Staaten vor, die aufgrund ihrer geografischen Lage vergleichsweise viele Geflüchtete aufnehmen. Zum Beispiel können sie Schutzsuchende dann noch länger an der Außengrenze festhalten. Deutschland hatte auch diese Regelung zunächst wegen humanitärer Bedenken abgelehnt.

Gemäß den neuen Regeln ist grundsätzlich weiterhin das EU-Land für einen Asylbewerber zuständig, in dem dieser zuerst europäischen Boden betreten hat. Zusätzlich ist ein EU-Solidaritätsmechanismus geplant. Dieser soll hauptsächlich die EU-Staaten an der Außengrenze entlasten und Schutzsuchende innerhalb der EU umverteilen. Länder, die keine Personen aufnehmen wollen, sollen aber auch Ausgleichszahlung leisten können.

Expertin: Auswirkungen der Reform „begrenzt“

Nach dem EU-Parlament muss noch der Rat der EU-Mitgliedstaaten der Reform zustimmen. Dies gilt als Formsache. Anschließend haben die EU-Staaten zwei Jahre Zeit für die Umsetzung. Das soll den Staaten an den Außengrenzen genügend Zeit geben, entsprechende Einrichtungen zur Unterbringung von Menschen aus Staaten mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent zu schaffen.

Kurzfristig wird sich also an der Situation in Deutschland nichts ändern. Migrationsforscherin Zeynep Yanaşmayan vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung mahnte an, dass sich Veränderungen in Fluchtbewegungen vor allem nach Konflikt- und Verfolgungslagen in Herkunfts- und Transitländern richteten. „Wie die Aufnahmestaaten agieren, wirkt sich auf Migration, vor allem auf Flucht, nur sehr begrenzt aus“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. (epd/dpa/mig) Leitartikel Politik

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