Interview mit Bernd Kasparek
„Migrationspolitik ist essentiell undemokratisch“
Der Anwerbestopp vor 50 Jahren hat gezeigt, dass die Kontrolle von Migrationsbewegungen nicht funktioniert, sagt Bernd Kasparek vom „Rat für Migration“. Im MiGAZIN-Gespräch erklärt er, was er von Grenzkontrollen, Drittstaaten-Deals und vom Kontrollanspruch der Politik hält.
Sonntag, 03.12.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 03.12.2023, 15:29 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der Rat für Migration hat am Wochenende sein 25. Jubiläum gefeiert. Warum ist dieser Zusammenschluss von Migrationsforscher:innen wichtig?
Migration ist immer ein heiß umkämpftes Thema in der Politik und ich habe den Eindruck, dass sehr oft Wissen dazu fehlt, was Migration ist und wie sie mit der Gesellschaft zusammenhängt. Es gibt sehr viele Mythen darüber, was der Staat machen kann in Anbetracht der Migration. Deswegen ist es wichtig, dass es ein Gremium gibt, in dem Migrationsforscherinnen und -forscher sich austauschen und aus dem heraus ihr Sachverstand in die gesellschaftlichen Debatten eingespeist werden kann.
Bernd Kasparek ist Kulturanthropologe und Mitglied im Vorstand des Rats für Migration. Seine Forschungsschwerpunkte sind das europäische Migrations- und Grenzregime, Europäisierung und (digitale) Infrastrukturen.
Welche Fakten über Migration kommen in der aktuellen Debatte zu kurz?
Nehmen wir zum Beispiel die Diskussion über die Einführung von Binnengrenzkontrollen. Unions-Politiker stellten Grenzkontrollen an deutschen Grenzen als ein wirksames Mittel dar, um die Zahl an Flüchtlingen in Deutschland zu reduzieren. Doch das ist falsch. Das Zurückweisungsverbot in der Genfer Flüchtlingskonvention verbietet es, Menschen, die einen Asylantrag stellen wollen, an der Grenze abzuweisen. Daran ist auch die Bundespolizei gebunden.
Der EU-Rat will einführen, dass Schutzsuchende aus bestimmten Staaten künftig in angeblich sichere Transit- und Drittstaaten abgeschoben werden können, ohne dass ihr Asylantrag inhaltlich geprüft wird. Die Bundesregierung will jetzt sogar Asylverfahren in Drittstaaten prüfen.
„Wenn man sich die letzten 30 Jahre europäischer Migrationspolitik anschaut, gab es immer dieses Ziel, den Asylprozess auszulagern. Das hat aber nie geklappt.“
Ich weiß, dass es immer wieder selbsternannte Migrationsforscher gibt, die sagen, dass sich mithilfe von Drittstaaten-Deals alles ganz leicht lösen ließe. Das Interessante ist, dass es von diesen Forschern eigentlich nie eine Empirie dazu gibt. Wenn man sich die letzten 30 Jahre europäischer Migrationspolitik anschaut, gab es immer dieses Ziel, den Asylprozess auszulagern. Das hat aber nie geklappt, sondern nur dazu geführt, dass sich die Europäische Union oder ihre Mitgliedsstaaten erpressbar gemacht haben.
Was wäre aus Ihrer Sicht die Lösung?
Also ich sehe erstmal gar kein Problem. Europa ist ein Kontinent mit einer Bevölkerung von 450 Millionen Menschen nach dem Brexit. Die Wirtschaftskraft ist eine der größten in der Welt. Und eine Aufnahme von einer halben Million Menschen pro Jahr sollte dieser Kontinent eigentlich stemmen können. Zudem kommt hinzu, dass Demograph:innen und Ökonom:innen zufolge allein Deutschland eine Zuwanderung von mindestens 300.000 Zugewanderten pro Jahr für den Arbeitsmarkt bräuchte. Angesichts dessen ist diese Debatte um die Fluchtmigration total absurd – losgelöst von den Fakten und von der Realität.
Auf der Tagung ging es unter dem Untertitel „Der Eigensinn der Migration“ um den Anwerbestopp von Gastarbeiter:innen vor 50 Jahren. Was ist damit gemeint?
„Diese Menschen haben ein Ziel und das versuchen sie, zu erreichen. Man kann ihnen Hindernisse in den Weg legen, aber das heißt nicht, dass die Menschen aufhören, ihr Ziel zu verfolgen.“
Für mich bedeutet das, dass die meisten Versuche, auf die Migration einzuwirken, so nicht funktionieren. Die Politik plant nicht ein, dass es eine Reaktion von Seiten der Migrierenden geben wird. Diese Menschen haben ein Ziel und das versuchen sie, zu erreichen. Man kann ihnen Hindernisse in den Weg legen, aber das heißt nicht, dass die Menschen aufhören, ihr Ziel zu verfolgen. Dafür ist der Anwerbestopp von 1973 ein gutes Beispiel: Damals gab es eine Million „ausländische Arbeitnehmer:innen“. Und man ging davon aus, dass diese Zahl gegen Null sinken würde, sobald die Arbeitserlaubnisse auslaufen und keine neuen vergeben werden würden. Der Punkt war aber, dass man damit ganz viele Menschen gezwungen hat, eine Wahl zu treffen: Wollen sie in Deutschland bleiben oder nicht? Und viele haben sich dafür entschieden, in Deutschland zu bleiben – und ihre Familien nachzuholen. Daraufhin gingen die Zahlen auf 4 Millionen hoch. Das ist der Eigensinn. Der Anwerbestopp hat genau das Gegenteil dessen bewirkt, was die Regierung erreichen wollte – und das ist häufig so in der Migrationspolitik.
Woran liegt das?
„Das liegt daran, dass Migrationspolitik essentiell undemokratisch ist. Man versucht nie, eine Politik zu finden, die die Menschen mitnimmt, die davon am meisten betroffen sind.“
Das liegt daran, dass Migrationspolitik – das ist meine Überzeugung – essentiell undemokratisch ist. Man versucht nie, eine Politik zu finden, die die Menschen mitnimmt, die davon am meisten betroffen sind. Weil man sie ja loswerden will oder als Arbeitskräfte über sie verfügen. Das ist natürlich liberal-demokratisch alles legitimiert, da man sagt, Demokratie bezieht nur die Bürgerinnen und Bürger ein. Aber die Migration zeigt uns, dass dieses Modell spätestens im 21. Jahrhundert an seine Grenzen gerät.
Das hat etwas mit dem Kontrollanspruch zu tun. Rein rechtlich ist es natürlich so, dass man bei der Arbeitsmigration die ganzen Parameter so bestimmen kann, wie man sie will. Wir wollen Leute, die schon Deutsch können oder die schnell Deutsch lernen werden, die bestimmte Qualifikationen haben, die vielleicht noch eher jünger sind, die gesund sind. Der Staat hat Regelungsmöglichkeiten, um die Migration so zuzulassen, wie man sich das vorstellt. In Bezug auf die Fluchtmigration greift das nicht, weil wir internationales Recht haben, das den Staat zur Aufnahme schutzsuchender Personen verpflichtet und ihm verbietet, schutzbedürftige Menschen in Staaten zurückzuschieben, wo ihnen Gefahr für Leib und Leben droht.
Warum denken sie, warum Flucht- und Arbeitsmigration so völlig unterschiedlich behandelt werden von der Bundesregierung?
„Das ist eine zentrale Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust gewesen.“
Das heißt, wir haben da zu Recht die Kompetenzen des Staates beschnitten, um ein internationales System des Flüchtlingsschutzes aufzubauen. Das ist eine zentrale Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust gewesen. Und deswegen ist diese Frage der „irregulären“ Migration, die ja gegenwärtig vor allem eine Fluchtmigration ist, für die Politikerinnen und Politiker so kompliziert, weil da dieser Kontrollanspruch nicht existiert. Deswegen muss der Staat dort zeigen, dass er – vermeintlich – immer noch handlungsfähig ist. Interview Leitartikel
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