Streit um „luftleeren Raum“

Israels schwieriges Verhältnis zu den UN

Hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen im Nahost-Konflikt Schlagseite? Im Streit um die Worte von António Guterres spiegeln sich die aufgeladenen Emotionen des komplexen Konflikts.

Von und Donnerstag, 26.10.2023, 19:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 26.10.2023, 15:17 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Es waren Worte mit Sprengkraft, die im zurückhaltenden Ton von UN-Generalsekretär António Guterres aber fast schon nüchtern klangen. Der oberste Diplomat der Vereinten Nationen verurteilte das Blutbad der Hamas in Israel bei einer Sitzung des Weltsicherheitsrats am Dienstag scharf. Doch er stellte auch eine Verbindung her zum Jahrzehnte andauernden Nahost-Konflikt: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattfanden“, sagte Guterres und sprach von einer 56 Jahre währenden „erdrückenden Besatzung“ der Palästinenser durch Israel.

Die Reaktion dürfte die heftigste sein, die der 74-jährige Portugiese seit dem Amtsantritt 2017 erlebt hat. Der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan sprach von „reiner Blutverleumdung“ und forderte Guterres‘ Rücktritt. Der israelische Außenminister Eli Cohen sagte ein geplantes Treffen mit dem UN-Chef in New York ab.

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Streit über Empathie und Verhältnismäßigkeit

Aus dem Außenministerium Israels hieß es, Guterres habe eine rote Linie überschritten. Er habe „eine Minute und mit leeren Worten“ über das Massaker in Israel gesprochen und dann in längeren Ausführungen „im Grunde die Hamas-Gräuel gerechtfertigt“, sagte Sprecher Lior Haiat. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem teilte mit, es gehe nach dem Hamas-Massaker auch um die Ernsthaftigkeit jener, die „Nie wieder“ geschworen hätten. Guterres habe „den Test nicht bestanden“.

Guterres selbst trat am Mittwoch in New York erneut vor die Kameras und verteidigte sich regelrecht leidenschaftlich: „Ich bin schockiert über die Fehlinterpretation einiger meiner Erklärungen gestern im Sicherheitsrat – als würde ich Terrorakte der Hamas rechtfertigen.“

Auf der Bühne des Sicherheitsrates ist ein Streit über Empathie und Verhältnismäßigkeit entbrannt, in dem sich die aufgeladenen Emotionen des hochkomplexen Konflikts spiegeln. Dabei kam auch diese Debatte nicht im luftleeren Raum – also ohne Vorgeschichte – ins Rollen: Schon lange sehen sich die Israelis von den UN unfair behandelt. Es gebe eine „automatische Mehrheit gegen Israel“, sagt Sprecher Haiat.

Schwieriges Verhältnis zwischen Israel und den UN

Zahlen belegen das: Die Organisation „UN Watch“ hat zwischen 2015 und 2022 in der UN-Vollversammlung 140 verabschiedete Resolutionen gezählt, die sich direkt oder indirekt kritisch mit Israel auseinandersetzen – zum Beispiel zum Siedlungsbau oder der Besetzung der Golanhöhen. Alle anderen Länder und Konflikte wurden in derselben Zeit gerade mal 68 Resolutionen zuteil. Die stabile Mehrheit gegen Israel besteht aus arabischen Staaten und Ländern des sogenannten Globalen Südens. Deutschland stimmt zusammen mit den anderen EU-Staaten teils mit ihnen, teils enthält Berlin sich. Die USA votiert dabei stets mit Israel.

Auch im UN-Menschenrechtsrat steht Israels Vorgehen in den Palästinensergebieten bei jeder Sitzung automatisch auf dem Prüfstand. UN-Mitgliedsländer hatten einen eigenen Tagesordnungspunkt durchgedrückt, der sich mit der Lage in den von Israel besetzten Gebieten befasst (Item 7). Die USA und andere westliche Länder verlangen seit langem vergeblich die Streichung.

Das Verhältnis zwischen Israel und den UN ist schwierig, dabei gelten die Vereinten Nationen vielen als „Hebamme Israels“. 1947 entschied sich die UN-Vollversammlung die Aufteilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Ein halbes Jahr später wurde der Staat Israel gegründet.

Angst vor Ausweitung des Krieges

Die Wende kam 1967 mit der Besetzung der Palästinensergebiete, Ost-Jerusalems, der Golanhöhen und der Sinai-Halbinsel, aus der Israel sich im Rahmen der Friedensregelung mit Ägypten später wieder zurückzog. Das Grenzgebiet zwischen Israel und dem Libanon überwachen die UN seit 1978. Heute sind rund 10.000 UN-Soldaten im Einsatz. Einen absoluten Tiefpunkt erreichten die Beziehungen 1975, als die Vollversammlung Zionismus als eine Form von Rassismus bezeichnete. Die Resolution wurde später wieder aufgehoben.

In den Organen der Vereinten Nationen spiegelt sich die Haltung der Länder der Welt. Ihre Mehrheit ist Israel gegenüber kritisch oder sogar feindlich. Guterres hat auf das Wahlverhalten der UN-Mitglieder keinen Einfluss – seine diplomatischen Positionen müssen aber im Einklang mit den Beschlüssen der UN-Organe stehen. Er selbst gilt als Israel zugewandt. 2020 verlieh der Jüdische Weltkongress ihm für seine Arbeit den Theodor-Herzl-Preis. Der Generalsekretär sagte in seiner Dankesrede: „Ich werde Ihnen weiterhin im Kampf gegen Antisemitismus und Diskriminierung jeglicher Art zur Seite stehen.“

Nun will Guteres vor allem eine Ausweitung des Krieges durch eine große israelische Bodenoffensive verhindern und dazu beitragen, dass der Konflikt nicht vollends außer Kontrolle gerät. Er sagt: „Die Beschwernisse des palästinensischen Volkes können die schrecklichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen – diese schrecklichen Angriffe können keine kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes rechtfertigen.“ Ein möglicher Kriegseintritt der libanesischen Hisbollah könnte eine echte Gefahr für Israel bedeuten.

Auffälligkeiten an dem Streit

Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und ehemaliger deutscher UN-Botschafter, Christoph Heusgen, gab Guterres im Interview mit dem ZDF recht. Hinter verschlossenen Türen in New York sagen westliche Vertreter aber, Guterres hätte schon mehr Empathie für die Israelis zeigen können. Das Land befinde sich in einem historischen Ausnahmezustand und so müsse man es auch behandeln. Entlang dieser Linie agiert allen voran US-Präsident Joe Biden. Sein Vorgänger Barack Obama verglich den Hamas-Terror zuletzt mit den Anschlägen vom 11. September. Gerade deswegen jedoch sei es für Israel nun wichtig, Maß zu halten. Eine Überreaktion könne nach hinten losgehen.

UN-Experte Richard Gowan von der Denkfabrik Crisis Group sagt, Guterres sei eigentlich dafür bekannt, Gesprächskanäle nicht durch zu starke öffentliche Auftritte zu beschädigen – gerade mit Israel. „Er hätte diese Rede nicht gehalten, wenn er sie nicht für absolut notwendig gehalten hätte“. Die Reaktion der Israelis sei nachvollziehbar. „Aber ich denke, dass sie ihre allgemeine Wut wegen der internationalen Kritik an ihrem Vorgehen am Generalsekretär auslassen“, so Gowan. Guterres sei in diesem Sinne ein leichtes Ziel.

Auffällig an dem Streit zwischen UN-Führung und Israel ist, dass Außenminister Cohen seinen UN-Botschafter für die Rücktrittsforderung vorschickte, statt die höchsten Regierungskreise einzuschalten. Derweil hält sich der wichtigste Verbündete öffentlich raus. US-Außenminister Antony Blinken dankte Guterres im Sicherheitsrat sogar demonstrativ für seine Bemühungen, insbesondere im Einsatz für humanitäre Hilfe im Gazastreifen. Da hatte der Generalsekretär neben ihm seine folgenschweren Worte schon längst gesprochen.

Biden verurteilt Angriffe „extremistischer Siedler“

Fast zeitgleich hat sich US-Präsident Joe Biden besorgt über „extremistische“ Siedler im Westjordanland gezeigt und Gewalt gegen Palästinenser verurteilt. „Ich bin weiterhin beunruhigt über die Angriffe extremistischer Siedler auf Palästinenser im Westjordanland“, sagte Biden am Mittwoch bei einer Pressekonferenz. „Das muss jetzt aufhören.“ Derartige Angriffe seien, als würde man Benzin ins Feuer gießen, sagte Biden weiter. Dem UN-Menschenrechtsbüro zufolge steigt die Gewalt bewaffneter israelischer Siedler gegen Palästinenser.

Biden betonte erneut, dass Israel das Recht und die Verantwortung habe, auf die Angriffe der Hamas-Terroristen zu reagieren. „Aber das mindert nicht die Notwendigkeit, im Einklang mit den Gesetzen des Krieges zu handeln. Israel muss alles in seiner Macht Stehende tun, um unschuldige Zivilisten zu schützen, so schwierig das auch sein mag“, mahnte der US-Präsident. (dpa/mig) Aktuell Politik

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