Portrait
Zwei Jahre nach der Bundestagswahl: Ein Seenotretter im Parlament
Zwei Jahre liegt die Wahl zurück. Damals kamen viele Neue in den Bundestag. Der Grüne Julian Pahlke hat sein Herzensthema mit ins Parlament genommen: die Rettung Geflüchteter aus Seenot. Wie geht es einem Aktivisten, der plötzlich politische Verantwortung trägt?
Von Anne-Béatrice Clasmann Dienstag, 10.10.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 02.10.2023, 16:44 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Bald ist Halbzeit. Am 26. September 2021 haben die Deutschen einen neuen Bundestag gewählt. Zwei Jahre später ist die Stimmung in der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP längst nicht mehr so aufgeräumt wie zu Beginn, als die Koalitionäre ihrer Vereinbarung für das gemeinsame Regierung einen schwungvollen Titel gaben: „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Das die Leichtigkeit und der Optimismus ein wenig abhandengekommen sind, liegt nicht nur an dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch wenn der natürlich viele Pläne über den Haufen warf, weil es plötzlich darum ging, eine mögliche Gasmangellage zu verhindern, hohe Energiepreise abzufedern und mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aufzunehmen.
Einer von denen, für die damals alles neu war, ist Julian Pahlke. Der 31-Jährige hat keine klassische Parteijugend-Karriere hinter sich. Er fand über seine Erfahrungen als Crew-Mitglied bei der Seenotrettung von Geflüchteten im Mittelmeer in die Politik. Erst 2019 wurde er Mitglied der Grünen. Als Elternzeitvertretung bekam Pahlke im Büro von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die damals Bundestagsvizepräsidentin war, eine Vorstellung davon, wie das Leben von Abgeordneten in Berlin aussieht.
Heute, zwei Jahre nach seinem eigenen Start als Mandatsträger unter der Reichstagskuppel, hat Pahlke zwar das Gefühl, etwas bewirken zu können. Der prallvolle Terminkalender und einige der Kompromisse, die seine Partei mit den Koalitionspartnern SPD und FDP vereinbart hat, machen ihm aber dennoch zu schaffen. Vor allem wenn es um sein Herzensthema geht, die Migrationspolitik und insbesondere die Seenotrettung. Zumal ihn die Bilder von der italienischen Insel Lampedusa, die vor einigen Tagen um die Welt gingen, an die schwierigen Stunden auf See erinnern, die er als Mittzwanziger vor seinem Einstieg in die Politik erlebt hat.
Italiener haben recht
„Die Bilder von Lampedusa beweisen ja eigentlich nur wieder, dass das europäische Asylsystem dysfunktional ist“, sagt Pahlke. Die Italiener hätten recht, wenn sie kritisierten, dass eine europäische Verteilung von Geflüchteten bis heute nicht funktioniere und das jetzige System einige Staaten besonders stark belaste.
Der Abgeordnete mit der schwarz gerahmten Brille und dem federnden Schritt scheint ständig unter Strom zu sehen. Über dem niedrigen Sofa in Pahlkes Bundestagsbüro hängt ein vom Flugzeug aufgenommenes Foto. Darauf sind ein kleines Schiff und mehrere Schlauchboote zu sehen. „Hier war ich“, sagt Pahlke und zeigt auf eines der Boote.
Nicht mehr losgelassen
Pahlke arbeitete nach dem Studium in einer Werbeagentur. Seine Leidenschaft seit der Kindheit sei das Segeln, so wie überhaupt jede Form von Wassersport. „Ich wollte eigentlich für drei Wochen auf See gehen und auf dem Schiff einfach nur drei Wochen mithelfen“, erzählt er über seinen ersten Rettungseinsatz. Doch dann habe ihn die Sache mit den Rettungsschiffen nicht mehr losgelassen. Er kündigte seinen Job, wurde Vorstand bei „Jugend Rettet“.
Zu seinen Erlebnisse im Mittelmeer, vor allem an dem einen Tag, wo sie nicht alle Menschen an Bord nehmen konnten, sagt er: “Das wird mich auch noch lange begleiten.“ Vier Jahre habe er danach Pause machen müssen, sei nicht mehr auf dem Wasser gewesen. Er zeigt auf das Bild über dem Sofa und sagt: „Allein, dass dieses Bild hier heute hängt, ist schon irgendwie auch ein bisschen der Sieg über mich selbst und gleichzeitig Antrieb, das hier weiterzumachen mit aller Härte.“
Viele Hasskommentare
Wie viele Politiker, die sich mit Migrationsfragen befassen, so erreichten auch ihn viele Hasskommentar, bestätigt Pahlke. So schlimm wie bei prominenten Parteikolleginnen, wie etwa der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang oder der bayerischen Spitzenkandidatin Katharina Schulze, sei es aber nicht. Zu den kleinen Erfolgserlebnissen im Abgeordneten-Alltag zählt Pahlke, dass er gemeinsam mit anderen in den Haushaltsverhandlungen dafür gesorgt habe, „dass wir tatsächlich auch eine Finanzierung für die Seenotrettung mit auf die Beine gestellt haben“. Das sei einerseits ein Beitrag zum Schutz von Menschenrechten, „aber natürlich auch ein großes Symbol“.
Gemeinsam mit anderen Parlamentariern habe er außerdem einen überfraktionellen Brief an das italienische Parlament geschrieben und darin kundgetan, „dass wir die Gesetzgebung dort, nämlich zivile Rettungsschiffe zu bestrafen, wenn sie mehr als eine Rettung durchführen, als hochgradig problematisch ansehen“. Auch die Details der Verlängerung des Mandats für die Beteiligung der Bundeswehr an der EU-geführten Operation „Irini“ im Mittelmeer hätten ihn beschäftigt.
Termindichte unterschätzt
Was er vor seiner Kandidatur wohl unterschätzt habe, sei die Termindichte und die Menge an Arbeit, räumt er ein. Er glaube, dass die wenigsten Abgeordneten in den Sitzungswochen weniger als 80 oder 90 Stunden arbeiten, sagt Pahlke. „Das ist ja die Lebensrealität.“ Für Privates bleibe da sehr wenig Zeit. Er zahle diesen Preis gerne, denn die Kandidatur sei eine bewusste Entscheidung gewesen, auch wenn ihm der Verzicht auf Treffen mit Freunden oder Familie nicht immer leicht falle.
Auf die Frage, ob er sich vor der nächsten Bundestagswahl, die – wenn die Ampel-Koalition nicht zerbricht – im Herbst 2025 sein wird, wieder um einen Platz auf der niedersächsischen Landesliste bewerben werde, antwortet er schon so unverbindlich, wie es für langjährige Abgeordnete typisch ist: „Ich sehe gerade keine Notwendigkeit, das zu entscheiden. Wir sind gerade bei der Hälfte.“ Aber vielleicht weiß er auch wirklich noch nicht, ob das Hamsterrad Bundestag, in dem Aufmerksamkeit die stärkste Währung ist, auf Dauer seine Heimat bleiben wird. (dpa/mig) Aktuell Politik
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