Pull-Faktoren
Migrationsforscher Fuchs: „Merz‘ Unterstellung ist infam“
Pull-Faktoren spielen Migrationsforscher Lukas Fuchs zufolge kaum eine Rolle in der Flucht- und Armutsmigration. Im Gespräch kritisiert er Äußerungen von CDU-Chef Friedrich Merz. Doch Push- und Pull-Faktoren taugen laut Fuchs nicht als Erklärmodelle.
Von Nils Sandrisser Sonntag, 01.10.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 02.10.2023, 10:49 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Sogenannte Pull-Faktoren spielen laut Lukas Fuchs vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin kaum eine Rolle in der Flucht- und Armutsmigration. Zuvor hatte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz in einer Fernsehsendung behauptet, das deutsche Sozial- und Gesundheitssystem sei ein wesentlicher Grund für Asylbewerber, nach Deutschland zu kommen. „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine“, hatte Merz gesagt. Doch Push- und Pull-Faktoren taugen laut Fuchs nicht als Erklärmodelle.
Herr Fuchs, Friedrich Merz hat in einer Fernsehdebatte gesagt, man müsse „endlich mal“ über Pull-Faktoren in der Migration sprechen. Wie ist der Stand der Forschung dazu?
Lukas Fuchs: Ganz allgemein gesagt, sind Merz‘ Äußerungen überhaupt nicht in der wissenschaftlichen Erkenntnislandschaft verortet und haben auch mit den derzeitigen politischen Realitäten nichts zu tun. Migrationsmodelle, die auf Push-und-Pull-Faktoren fußen, kommen ursprünglich aus der Wirtschaftsforschung und sollen beschreiben, warum Menschen sich bessere Chancen in bestimmten Ländern als in anderen Ländern versprechen. Die Idee der Profitoptimierung dahinter ist sehr neo-klassisch. Gemeinhin gehen wir heute davon aus, dass das deutlich zu platonisch ist, um die Komplexität der Migrationsbewegungen zu verstehen. Das ist kein Modell, um wirklich etwas zu verstehen oder vorherzusagen.
Und welche Rolle spielen die verschiedenen Faktoren in Migrationsbewegungen?
Wir wissen, dass Migrationsbestrebungen sich vornehmlich in Herkunftsländern formieren. Dabei spielen Sicherheit, politisches Klima und wirtschaftliche Perspektiven eine Rolle, zunehmend auch der Einfluss der Erderwärmung – also Push-Faktoren, wenn man so will. Der Begriff „Push-Faktor“ unterstellt aber eine zu große Passivität von Menschen, genau wie der des „Pull-Faktors“. Was machen wir beispielsweise mit dem unumstößlichen Fakt, dass die allermeisten Migranten aus den wohlhabenderen Ländern und Gesellschaften kommen? Das zu betonen ist mir sehr wichtig, weil oft unterstellt wird, dass alle Armen dieser Welt danach streben, nach Europa zu kommen – dem ist aber nicht so. Man kann dieses binäre Push-Pull-Modell also nicht so ohne Weiteres verwenden.
Und warum sind es eher nicht die Armen?
Nicht jeder will, nicht jeder kann. Die gleichen wirtschaftlichen Probleme, die eine Migration erstrebenswert erscheinen lassen können, verhindern häufig eine Migration de facto. Die allermeisten haben nicht das Geld, nicht die Erfahrung und nicht die Netzwerke, um ihre Länder zu verlassen. Bei der Realisierung von Migrationsbestrebungen spielen Möglichkeiten und Zwänge eine Rolle, und zwar eine Balance zwischen Möglichkeiten und Zwängen. Je größer der Zwang, die Heimat zu verlassen – durch Krieg, Vertreibung oder Katastrophen -, desto geringer ist die Rolle der erhofften Perspektiven. Gerade Geflüchtete kommen, um Sicherheit und Stabilität zu finden, nicht Luxus.
Gibt es Beispiele, die dieses wissenschaftliche Konzept verdeutlichen?
Die meisten geflohenen Ukrainer leben in Polen, die meisten geflohenen Syrer in Syriens Nachbarländern, obwohl die Bedingungen woanders besser wären. Das sind Fakten, an denen nicht zu rütteln ist. Das kann verschiedene Gründe haben: Geflüchtete bleiben beispielsweise häufig näher an ihren Familien, die nicht geflohen sind, es kann der Wunsch nach kultureller Nähe sein oder die Abwesenheit von Möglichkeiten, es sicher woandershin zu schaffen. Da verbietet es sich zu sagen, dass die Seenotrettung oder unser Sozialsystem ein entscheidender Pull-Faktor sei. Für beides haben wir Studien, die das widerlegen.
Aber warum werden diese Pull-Faktoren immer wieder in der Migrationsdebatte vorgebracht, wenn die wissenschaftliche Debatte darum eindeutig abgeräumt ist?
Im Kontext von Fluchtmigration sind Unterstellungen, dass Menschen ihre Heimat verlassen, um sich in Deutschland die Zähne machen zu lassen, geradezu infam. Das kommt von jemandem, der entweder selbst so denken würde oder einfach Stimmung machen möchte. Herrn Merz scheint es weniger um ein Verständnis von Migration zu gehen, sondern um die Untergrabung des universellen individuellen Rechts auf Asyl und um eine Einschränkung des Sozialsystems. Es ginge somit nicht um Pull-Faktoren, sondern darum, Systemfaktoren unseres liberalen Systems anzugreifen.
Könnte es nicht auch um eine schlichte Selbstüberhöhung gehen? Wenn man behauptet, dass alle Welt nach Deutschland kommen will, dann preist man damit implizit doch dieses Deutschland als ein Land, in dem alles zum Besten steht.
Es ist natürlich auch so, dass es sehr komplex ist, Migrationsmodelle zu verstehen. Wenn man sich nur auf Pull-Faktoren zurückzieht und behauptet, das seien die entscheidenden Gründe und die wir einfach steuern und beeinflussen könnten, dann ist das attraktiv für eine populistisch simple Lösung für eine komplexe Situation.
Und ja, natürlich spielt das Bild des hervorragenden Eigenen nationalistischem Gedankengut im Sinne von „Wir sind die Größten, zu uns wollen alle kommen und uns hier alles kaputtmachen“ in die Hände. Und ich fürchte, die CDU bewegt sich in diesem Diskurs immer weiter in diese Richtung. Da geht es um Wahlen und um Stimmen, aber vergessen wird leider, wer da rechts außen auch noch lauert. Das wird der CDU am Ende auch auf die Füße fallen. (epd/mig) Interview Leitartikel Politik
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