Caritas-Chefin im Gespräch

Kürzungen im Sozialetat erhöhen bei den Menschen die Unsicherheit

In Berlin wird erneut gegen die geplanten Einschnitte im Sozialwesen protestiert. Caritas-Chefin Welskop-Deffaa erklärt im Gespräch, was die Kürzungsvorhaben der Ampel-Regierung bedeuten und wen sie treffen würden.

Von und Donnerstag, 21.09.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 21.09.2023, 14:17 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Frau Welskop-Deffaa, Kürzungen in den Sozial- und Familien-Etats hat es immer wieder gegeben. Warum ist der Protest gegen die Pläne der Ampel-Regierung so massiv?

Eva Maria Welskop-Deffaa: Die Kürzungen folgen keinem Plan. An wichtigen Knotenpunkten der sozialen Infrastruktur soll um bis zu 30 Prozent gespart werden. Das sind dann keine Einsparungen mehr, sondern existentielle Gefährdungen. Bislang wird das öffentlich nur ungenügend wahrgenommen: Wenn man die Knoten zerschneidet, hat man hinterher kein Netz mehr, sondern nur noch lose Fäden. Kluges Sparen geht anders.

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Von den Einschnitten in Millionenhöhe wären Angebote wie die Migrationsberatung, psychosoziale Hilfen und die Freiwilligendienste betroffen. Welche Folgen hätten die Kürzungen?

Viele soziale Einrichtungen stützen sich auf eine gemischte Finanzierung aus öffentlichen Geldern von Bund, Ländern und Kommunen, flankiert bei uns durch kirchliche Eigenmittel. Wenn der Bund aussteigt, bricht das ganze Konstrukt zusammen, und die Anlaufstellen vor Ort verschwinden. Wir sehen die große Gefahr, dass die koordinierenden Stellen, also die Knoten im sozialen Sicherungsnetz, kaputtgespart werden. Vereine, die als Träger die Umsetzung von Bundesprogrammen vor Ort übernehmen, brauchen Verlässlichkeit. Als Feuerwehr des Sozialen in Krisenzeiten können wir nur funktionieren, wenn dieses Miteinander nicht plötzlich zur Disposition gestellt wird.

Können Sie einen Grund für dieses Vorgehen erkennen?

„Wir nehmen einen neuen Grundton wahr, der uns große Sorge macht: Das Soziale wird von der Politik recht pauschal als Kostenfaktor gesehen.“

Wir nehmen einen neuen Grundton wahr, der uns große Sorge macht: Das Soziale wird von der Politik recht pauschal als Kostenfaktor gesehen. Das haben wir lange nicht mehr gehört. Hat uns die Pandemie nicht bewiesen, dass gerade in schwierigen Zeiten ein starkes soziales Netz unverzichtbar ist? In einer Situation großer gesellschaftlicher Grundunsicherheit muss die politische Antwort „Sicherheit“ lauten.

Sicherheit heißt erstens: das Soziale stärken, und es heißt zweitens: folgerichtig handeln. Man kann also nicht Programme, die man über drei oder mehr Jahre aufgebaut und im Koalitionsvertrag noch einmal bestätigt hat, plötzlich radikal einkürzen. Das schafft Unsicherheit. Und es verletzt Vertrauen. Dass solche Folgen in Kauf genommen werden, ist nach meiner Beobachtung einer der wesentlichen Unterschiede zu früheren Sparrunden.

Nennen Sie uns Beispiele – welche Art von Kürzungen meinen Sie?

Das sind zum Beispiel die Frühen Hilfen, durch die stark belastete Familien mit Säuglingen und Kleinkindern unterstützt werden. Diese Strukturen wurden in den vergangenen 15 Jahren mühsam aufgebaut, und nun will man das radikal zurückfahren. Das Gleiche gilt für das Schulprogramm der Respekt Coaches, das ebenfalls wegen der womöglich wegfallenden Unterstützung von zehn Millionen Euro bei den Jugendmigrationsdiensten vor dem Aus steht. Über die Kürzungen beim Freiwilligen Sozialen Jahr gar nicht zu sprechen. Hier erntet die Politik ja auch von allen Seiten Unverständnis.

Würden Sie den drei Koalitionspartnern gleichermaßen vorwerfen, den sozialen Kompass verloren zu haben?

„Im Koalitionsvertrag haben die Ampel-Parteien signalisiert, sie sähen die große Chance ihrer Zusammenarbeit darin, die Heterogenität einer postmodernen Gesellschaft abzubilden… Da machen alle drei Parteien leider Gottes keine gute Figur.“

Es fällt mir schwer, SPD, Grünen und FDP Noten zu geben. Im Koalitionsvertrag haben die Ampel-Parteien signalisiert, sie sähen die große Chance ihrer Zusammenarbeit darin, die Heterogenität einer postmodernen Gesellschaft abzubilden. Sie versprachen, hinter verschlossenen Türen die Spannungen auszugleichen, sodass tragfähige Antworten gefunden werden. Da machen alle drei Parteien leider Gottes keine gute Figur.

Wenn die FDP gegen neue Schulden und für Subventionsabbau ist, ist das ja nicht per se völlig falsch. Die Ampel muss dann aber auch klären, welche Subventionen zur Disposition stehen. Wenn das Dienstwagenprivileg fallen würde, hätte ich nichts dagegen.

Glauben Sie, dass ein Teil der Kürzungen im Rahmen der Haushaltsberatungen zurückgenommen wird? Es gibt ja auch im Parlament  Widerstand gegen den Kurs im Sozialen.

Ich kann nur hoffen, dass das passiert. Sowohl Abgeordnete aus der Opposition als auch aus der Ampel-Koalition haben bei der ersten Lesung des Haushalts im Bundestag deutlich gemacht, dass sie mit den Einsparvorschlägen nicht einverstanden sind. Es wird also Änderungsanträge geben.

Diese Hoffnung hegen Sie wohl auch mit Blick auf Gelder, die der organisierten Wohlfahrtspflege entzogen werden sollen, wie etwa die Kürzungen im Sonderprogramm für die Digitalisierung?

Tatsächlich bin ich fassungslos, wie man mit der drängenden Zukunftsaufgabe der digitalen Erreichbarkeit sozialer Dienste umgeht. Drei Bundesfamilienministerinnen war es wichtig, uns dabei zu unterstützen, die Angebote der Einrichtungen und Dienste schrittweise zu digitalisieren. Es ist unerlässlich, dass wir für unsere Klientinnen und Klienten in diesem Prozess nicht hinter der öffentlichen Verwaltung hinterherhinken.

„Es gibt eine breite Mobilisierung, die ich in dieser Form noch nie erlebt habe.“

Jetzt ist die Förderung der digitalen Transformation der Wohlfahrtsverbände und damit auch die der Online-Beratungen im Umfang von bisher knapp vier Millionen Euro auf null gesetzt. Solche Kürzungen entbehren jeder Logik. Wir brauchen die Nähe zu Ratsuchenden auch im digitalen Raum.

Sie sitzen als Caritas-Chefin in Berlin nah bei der Regierung. Was hören Sie aus der Caritas in Stadt und Land?

Unsere lokalen Einrichtungen sind alarmiert. Die Leitungen gehen auf ihre Abgeordneten im Wahlkreis zu und werben um Unterstützung für den Erhalt der sozialen Angebote. So erfahren die Abgeordneten hautnah, welche drastischen Folgen die Beschlüsse im fernen Berlin an der Basis haben werden. Es gibt eine breite Mobilisierung, die ich in dieser Form noch nie erlebt habe. Unsere Kolleginnen und Kollegen wissen, wie viele Menschen – Alte, Kranke, Familien mit kleinen Kindern – darauf angewiesen sind, dass das soziale Netz trägt. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama

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